Mehrere Tage und Nächte waren vergangen seit ihrem Aufbruch von Minas Tirith, Gondor. Die Spuren, die sie gefunden hatten, verrieten ihnen, daß Boromir nicht alleine unterwegs war. Es waren noch mindestens fünf weitere Männer bei ihm, wenn nicht sogar mehr. Die Frage war jetzt, ob diese Männer ihn gegen seinen Willen mit sich genommen hatten, oder ob Boromir mit ihnen unter einer Decke steckte. Aber egal wie es war, die Truppe war auf der richtigen Fährte. Das einzige Problem das auftrat war, daß sie offensichtlich zu langsam waren, obwohl sie so gut wie nie rasteten. Es war eigenartig. Die andere Gruppe schien ihnen stets einen Schritt voraus zu sein.
"Wir müssen ein Lager aufschlagen," sagte Legolas leise zu Aragorn. "Wir sind jetzt fast zwei Tage lang durchgeritten, die Pferde brechen zusammen wenn wir nicht bald rasten."
"Ich weiß, Legolas. Ich bin es nicht, den du überzeugen mußt," erwiderte Aragorn und blickte kurz zu dem Rücken Atalars, der vor ihnen ritt, während Ghorid hinter ihnen war. Die zwei Edelmänner empfanden nichts außer Mißtrauen füreinander und versuchten daher, sich zu ignorieren. Das verursachte zwar eine unangenehme Atmosphäre, aber Aragorn war einfach nur froh, daß er sie nicht mehr davon abhalten mußte, sich gegenseitig zu bekämpfen oder gar umzubringen. Die ersten beiden Tage ihrer Reise hatten sie sich die ganze Zeit über beleidigt und öfter als einmal ihre Schwerter gezogen, bereit bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Glücklicherweise hatten sie sich langsam wieder beruhigt, und nun versuchten sie, sich einfach nur gegenseitig zu meiden.
"Geh und sprich mit ihm, mir hört er ja nicht zu," sagte Legolas. Und das tat Aragorn dann auch. Atalar war nicht begeistert von der Idee ein Lager aufzuschlagen, er wollte keine kostbare Zeit vergeuden, aber schließlich fanden sie zu einem Kompromiß und nach zwei weiteren Stunden, als es dunkel war, hielten sie an um zu rasten.
Während Atalar und Ghorid damit beschäftigt waren sicherzustellen, daß sie keinesfalls direkt nebeneinander schlafen würden, ging Aragorn hinüber zu Legolas, der gerade sein Pferd mit Wasser versorgte.
"Ist dir etwas aufgefallen?" fragte er leise genug, so daß die anderen es nicht hören konnten.
"Wovon sprichst du?" fragte Legolas, seinen Blick nicht von seinem Pferd abwendend.
"Ich habe das Gefühl, daß wir verfolgt und beobachtet werden."
"Ja," sagte der Elb ruhig, den Hals des weißen Pferdes streichelnd, "Wölfe. Sie folgen uns bereits seit gestern morgen."
"Denkst du, sie werden uns angreifen?" fragte Aragorn, sich alarmiert umsehend, aber die Wälder waren still und es war zu dunkel um etwas zu erkennen.
"Vielleicht. Sie sind hungrig, aus diesem Grund verfolgen sie uns. Sie werden nicht angreifen solange wir starke Gegner sind, aber sie spüren daß wir erschöpft werden, vor allem unsere Pferde. Sie warten nur auf den richtigen Moment."
Legolas blickte auf und traf Aragorns Augen.
"Wenn wir Glück haben, werden wir die Wälder hinter uns gelassen haben bevor ihr Hunger größer ist als ihre Furcht," fügte er hinzu.
Die Wölfe verfolgten sie auch den nächsten Tag, und ihre Anzahl stieg mit jeder Stunde. Ab und zu konnten die Mitglieder der kleinen Truppe einen oder zwei der großen, aber eher mageren grauen Tiere zwischen den Bäumen verschwinden oder sich hinter dem Gehölz zu ihren Seiten bewegen sehen. Aber sie wagten nicht anzugreifen. Noch nicht.
Der Augenblick kam während der Nacht, als sie ein weiteres Lager aufgeschlagen hatten. Aragorn hielt gerade Wache während die anderen schliefen, als plötzlich ein Knacken ganz in der Nähe ertönte. Etwas bewegte sich im Wald, und es kam näher. Aragorn erhob sich und lauschte, seinen Atem haltend. Auf einmal erklangen Geräusche von allen Seiten, und alle kamen schnell näher. Sie waren umzingelt.
"Zu den Waffen!" schrie Aragorn und zog sein Schwert. Während Legolas sofort hellwach und auf den Beinen war, brauchten die anderen beiden ein paar Sekunden um zu realisieren, was geschah. Bevor irgendwer auch nur ein Wort sagen konnte, begann die Attacke.
Sie kamen von überall, und es waren viele. Es war nicht schwierig, einen einzelnen Wolf zu töten, aber diese große Anzahl drohte, sie zu überwältigen. Sie kämpften schnell und konzentriert, jeder von ihnen ganz für sich allein, ein Tier nach dem anderen erschlagend. Legolas war auf einen Baum geklettert, von dem aus er die Szenerie gut überblicken konnte, und verschoß seine Pfeile akkurat. Er sah, daß Aragorn sich sehr gut schlug und ließ seinen Blick zu Ghorid gleiten, der mit zwei Schwertern gleichzeitig kämpfte, in jeder Hand eines, und er führte beide mit purer und wunderschöner Perfektion. Legolas schätzte diese erstaunliche Fertigkeit von Boromirs Cousin sehr, aber es war keine Zeit zum Zusehen und Bewundern. Ghorid wurde von weitaus mehr Wölfen angegriffen, als er alleine abwehren konnte. Sie hatten sich bereits seine Beine und Arme geschnappt und versuchten, ihn zu Boden zu reißen, um seine Kehle und sein Gesicht erreichen zu können. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie Erfolg haben und durch Ghorids Rüstung brechen würden. Legolas holte schnell zwei neue Pfeile aus seinem Köcher und ließ, aus keinem bestimmten Grund, seinen Blick für eine Sekunde zu einem anderen Ort wandern...
Er spürte ein Stechen durch sein Herz fahren als er sah, daß mehrere Wölfe dabei waren, sein Pferd zu reißen, ihre scharfen Zähne tief in den weißen, kräftigen Körper des anmutigen Tieres schlagend. Er mußte eine Entscheidung fällen... Eine Entscheidung, die wohl über Leben und Tod bestimmen würde. Wenige Momente später sanken die angreifenden Kreaturen zu Boden, sterbend, und Ghorid war befreit. Legolas schaute wieder zurück zu seinem Pferd und erwartete, es zerfleischt daliegen zu sehen. Doch statt dessen erblickte er Atalar, der bereits mehr als die Hälfte der Wölfe, die das Pferd verletzten, losgeworden war, und gerade einen weiteren mit seinen bloßen Händen von dem blutenden weißen Körper riß und dann tötete. Er beseitigte auch noch die restlichen und blieb die ganze Zeit über neben Legolas' Pferd, um es vor den ausgehungerten Kreaturen zu schützen.
Sie kämpften für eine kleine Ewigkeit, aber schließlich lag der Großteil des Rudels tot am Boden, und die wenigen die noch lebten zogen sich in die Tiefen der dunklen Wälder zurück.
"Ist jemand verletzt?" fragte Aragorn, mit seinem Ärmel frischen Schweiß von der Stirn wischend.
"Ghorid?" fügte er hinzu, als niemand antwortete.
"Es ist nur ein Kratzer," erwiderte der große und stämmige Krieger.
"Laßt es mich sehen," verlangte Aragorn. Er wollte helfen, aber Ghorid wiederholte: "Ich sagte doch, es ist nur ein Kratzer, Aragorn."
Aragorn nickte und schob sein Schwert zurück in die Scheide. Für ihn sah es nicht wie ein Kratzer aus, aber er konnte Ghorid kaum dazu zwingen, es ihm genauer zu zeigen.
Während sie sprachen, sprang Legolas von dem Baum und lief zu seinem Pferd. Blut floß das weiße Fell hinunter, aus tiefen Wunden quellend, die das muskulöse Fleisch des schönen Tieres zum Vorschein brachten. Es war an vielen Stellen verletzt, aber der größte Schaden war an den Flanken. Legolas ergriff die Zügel und versuchte, das verängstigte Pferd zu beruhigen, indem er sanfte Worte zu ihm sprach und vorsichtig sein Kopf berührte. Als es still stand, die weichen Nüstern gegen Legolas Handfläche geschmiegt, drehte der Elb seinen Kopf um seine Kammeraden anzusehen.
"Ich werde mich um die Wunden meines Pferdes kümmern müssen, es kann mich im Moment nicht tragen," erklärte er.
"Was glaubt Ihr, wie lange wird es dauern, bis Euer Pferd geheilt ist?" fragte Ghorid.
"Das kann ich nicht sagen. Ich muß ein paar bestimmte Pflanzen finden. Und die Wunden müssen sich schließen, es wird seine Zeit brauchen," erwiderte Legolas.
"Dann bleiben wir alle und warten," entschied Aragorn.
"Nein!" platzte es aus Atalar. "Das ist Zeitverschwendung!"
"Wir haben aber kein Ersatzpferd, wir brauchen dieses hier!" rief Aragorn, zu Legolas' Pferd gestikulierend.
"Der Elb kann sich alleine um sein Pferd kümmern und dann wieder aufholen!" rief Atalar zurück.
"Wir werden ihn nicht zurücklassen!"
"Wenn wir für einige Tage hier bleiben werden wir die Spur verlieren!"
"Ich sagte wir werden ihn nicht zurücklassen!"
"Aragorn," unterbrach Legolas den Streit, "Lord Atalar hat Recht. Im Moment wäre ich nur eine Last für unsere Reise. Ihr müßt Boromir finden. Ich kann sehr gut alleine auf mich aufpassen. Geht und setzt die Suche fort, ich werde Euch bald wieder einholen."
"Nein... Ich werde dich nicht mit einem verletzten Pferd und einem Haufen hungriger Wölfe alleine lassen," sagte Aragorn und trat näher an Legolas heran, der ein kleines Lächeln zeigte, berührt von Aragorns Sorge.
"Wir werden uns in wenigen Tagen wiedersehen, mein Freund. Sorge dich nicht," sagte Legolas sanft.
Aragorn nickte bloß und sagte dann: "Na schön, wir werden unsere Reise im Morgengrauen fortsetzen. Aber jetzt müssen wir einen neuen Platz finden, an dem wir den Rest der Nacht verbringen können. Ich verspüre nicht den Drang, zwischen Dutzenden von Kadavern zu schlafen."
Sehr bald fanden sie ein angemessenes Plätzchen und während die anderen sich niederlegten um sich auszuruhen, begann Legolas damit, sich um sein Pferd zu kümmern. Er benötigte nicht soviel Ruhepausen wie die menschlichen Männer und er mußte schnell hiermit sein, wenn er tatsächlich wieder aufholen wollte.
"Aragorn..." sagte er überrascht, als der Mann plötzlich neben ihm in der Dunkelheit stand.
"Ich werde dir helfen", sagte dieser.
"Du mußt dich ausruhen," erwiderte Legolas.
"Dein Pferd muß schnell wieder genesen. Wir können es uns nicht leisten, lange ohne dich zu sein. Deine Fähigkeiten sind unerläßlich für die Truppe," sagte Aragorn. Und dann, nach einem kurzen, stillen Moment, fügte er hinzu: "Wir müssen die Gruppe zusammenhalten, diese Wälder sind gefährlich für einen einzelnen Mann. Und ich möchte dich nicht verlieren."
Legolas nickte sachte.
"Ich weiß deine Hilfe zu schätzen."
Sie reinigten immer noch die tiefen Wunden und versorgten sie mit heilenden Essenzen, die sie aus Pflanzen des Waldes hergestellt hatten, als die anderen beiden aufstanden, um weiterzuziehen.
"Möge Euer Pferd schnell heilen, Legolas," sagte Ghorid nachdem er sein eigenes Pferd bestiegen hatte.
"Vergiß nicht, Du hast versprochen uns in ein paar Tagen wieder eingeholt zu haben. Wir werden dich erwarten," sagte Aragorn, seine Stimme immer noch besorgt klingend.
"Ja, ich werde kommen," erwiderte Legolas und beobachtete dann, wie die beiden Männer fort ritten.
"Leb wohl, Elb," sagte Atalar ohne Legolas anzusehen als er an ihm vorbei ritt, den anderen folgend.
"Wartet..." sagte Legolas und ergriff die Zügel des dunklen Pferdes, um es zu stoppen. "Ich muß Euch sagen, daß ich Euch aus tiefstem Herzen danke, Lord Atalar."
"Wofür?" fragte er mit einem eigenartigen Ton in der Stimme und senkte seinen Blick nieder zu Legolas.
"Mein Pferd lebt nur Euretwegen. Ich sah, wie Ihr es mit all Eurer Kraft verteidigt habt, und dafür werde ich Euch ewig dankbar sein," sagte Legolas, mit dem Kopf eine kleine Verbeugung andeutend, um seinen Respekt zu zeigen.
Atalar starrte den Elb für einige Sekunden still an, seine dunklen Augen gaben nicht zu erkennen, was er fühlte. Schließlich sagte er: "Ich muß jetzt gehen. Lebt wohl, Legolas."
"Lebt wohl," erwiderte Legolas, sich sehr bewußt darüber, daß Atalar ihn das erste Mal, seit sie sich getroffen hatten, bei seinem Namen genannt hatte.
