Boromir blinzelte schwerfällig seine Augen auf. Er hatte schreckliche Kopfschmerzen und fühlte sich, als ob er gerade aus einem tiefen, aber unruhigen Schlaf aufgewacht wäre. Er war benommen und jeder einzelne Knochen in seinem Körper schien zu schmerzen. Er brauchte etwas Zeit bis er schließlich bemerkte, daß er mit dem Rücken auf dem Boden lag und nicht mehr auf einem Pferd saß. Langsam ließ er die Hände über den Boden gleiten, nach nichts bestimmten suchend. Seine Hände berührten eine kalte, rauhe Oberfläche aus Stein und... Er setzte sich abrupt auf und starrte auf seine Hände hinab. Er war nicht mehr gefesselt, das Seil war weg. Und auch die Augenbinde. Er schluckte als er das erste Mal seit Tagen einen Blick auf seine Handgelenke werfen konnte. Sie als wund zu beschreiben wäre eine Untertreibung. Die permanente Reibung mit dem rauhen Seil hatte tief in sein Gewebe geschnitten. Seine Haut war praktisch nicht mehr vorhanden, statt dessen war entzündetes Fleisch freigelegt, das mit einem ekelerregenden Gemisch aus dickem Blut und klebrigen Eiter bedeckt war. Es brannte wie Feuer, aber es war bei weitem nicht der einzige Schmerz, der durch seinen Körper leckte. Er hob eine Hand zu seinem Gesicht und berührte es vorsichtig, leicht zuckend von dem scharfen Schmerz der durch seinen Kopf fuhr als er seine Fingerspitzen auf seine rechte Braue legte. Er zog seine Finger schnell wieder zurück und entdeckte, daß sie mit dunklem Blut beschmiert waren. Er fing an, sein Gesicht mit beiden Händen zu erkunden, die Schmerzen die er sich selber zufügte ignorierend. Es fühlte sich eigenartig und fremd an. Geschwollen, weich, und klebrig von dem langsam trocknendem Blut, das aus Wunden getreten war, die ihm vor nicht allzu langer Zeit hinzugefügt sein worden mußten. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß sie ihn so schwer zusammengeschlagen hatten, aber er konnte sich ja noch nicht einmal daran erinnern, wie sie ihn hierher geschafft hatten. Offensichtlich hatte er ein Gedächtnisverlust was die letzten paar Stunden anging, oder vielleicht sogar mehr.
Boromir erhob sich auf seine Füße und sah sich genauer um. Er war in einer Art Verlies und in einer mittelgroßen Zelle eingesperrt. Er nahm an, daß sie ihn entweder unterirdisch oder irgendwo im Gebirge festhielten, da sein Gefängnis nicht mehr war als eine kleine Höhle, die in massiven Fels gegraben worden war, eine Reihe dicker Gitterstäbe entlang des Einganges damit er nicht hinaus gelangen konnte. Das schwache Licht das diesen Ort erleuchtete kam von ein paar Fackeln, die an den Wänden der Korridore befestigt waren, die zu und weg von seiner Zelle führten. Boromir fragte sich, wohin genau diese Korridore führten und was nun mit ihm geschehen würde. Er war immer noch ratlos über die Motivation seiner Entführer und auch über ihre Identität.
Er zog sich in die dunkelste Ecke seiner Zelle zurück und setzte sich mit einem kleinen, gequälten Stöhnen hin, seinen schmerzenden Rücken gegen die kalte, steinige Wand lehnend. Er schloß die Augen, um sich besser darauf konzentrieren zu können die Benommenheit zu bekämpfen, er mußte vollkommen wach sein wenn er irgendeine Art Fluchtplan entwickeln wollte. Es war wahrscheinlich unmöglich sich herauszuschleichen ohne mit den Entführern konfrontiert zu werden, aber er mußte etwas tun solange er in der Lage war zurückzuschlagen. Er konnte nicht einfach herumsitzen und darauf warten, daß sie zurückkamen und ihn schließlich zu Tode prügelten. Nach ein paar Momenten holte er tief Luft und ging zurück zu den Gitterstäben um sie genauer zu untersuchen. Sie hatten ihn hier hereingeschafft, dann mußte es auch einen Weg geben, wieder herauszukommen. Schnell fand er heraus, daß der Weg nach draußen durch eine einfache Tür führte, die auch aus Stäben bestand und mit einem massiven Vorhängeschloß verriegelt war. Doch bevor er es auch nur versuchen konnte es aufzubrechen, näherten sich Schritte aus einem der Korridore. Boromir schloß seine Hände um zwei der Gitterstäbe und wartete auf denjenigen, der ihm einen Besuch abstatten wollte.
"Ich sehe du bist wieder aufgewacht," sagte einer der drei Männer als sie Boromirs Zelle erreichten.
"Ich hoffe, du hast in der Zwischenzeit deine Meinung geändert," sagte ein anderer. Boromir erkannte ihn als den Anführer der Gruppe die ihn entführt hatte, während die anderen beiden ihm fremd waren.
"Ich weiß nicht wovon du sprichst," sagte Boromir, das kalte Starren des Mannes haltend, der ihn vor kurzer Zeit in den Fluß gestoßen hatte. Nach ein paar Schweigemomenten atmete der Anführer hörbar ein und wandte sich an seine Kammeraden.
"Holt ihn raus und macht weiter bis er etwas Nützliches ausspuckt. Paßt auf, daß ihr nicht wieder seinen Kopf so stark verletzt, sein Gedächtnis muß perfekt funktionieren. Ist das klar?"
"Ja, Herr."
"Gut," sagte der Anführer und drehte sich wieder zu Boromir. "Und dieses mal gibt es keine Gnade, verstehst du? Diese mal werden wir dich zum Reden bringen! Wir werden dich nicht noch einmal in eine Ohnmacht entwischen lassen!"
"Mich zum Reden bringen? Über was?" fragte Boromir. Sein Kopf war leer, egal wie sehr er sich bemühte, er konnte sich einfach nicht daran erinnern was kurz bevor er in dieser Höhle aufgewacht war passiert war.
"Keine Sorge, Boromir, du wirst dich bald erinnern. Und du machst diesmal besser den Mund auf, meine Geduld ist begrenzt. Entweder sagst du uns, was wir wissen wollen, oder du wirst Schmerzen erfahren, von denen du dich bis jetzt nicht zu träumen gewagt hast. Es ist eine simple Wahl. Sprich oder stirb. Fälle deine Entscheidung mit Überlegung."
Aerilyn saß auf der Fensterbank ihres Schlafgemaches und starrte nach draußen. Sie hatte nichts anderes getan seit sie aus den Häusern der Heilung entlassen worden war, nichts außer am Fenster sitzen und die Straße beobachten, in der Hoffnung daß sie jeden Augenblick die sicher und mit Boromir zurückkehrende Truppe entdecken würde. Aber es geschah nicht.
Sie hob ihre Füße auf die Fensterbank und zog die Beine nahe an ihren Körper, sie mit ihren eigenen Armen umschlingend, und legte ihr Kinn auf die Knie. Sie schloß die Augen und sofort drehten sich ihre Gedanken um schöne Erinnerungen. Erinnerungen, die mit genau dieser Fensterbank auf der sie saß verbunden waren. Ihr erster Kuß. Sie würde ihn niemals vergessen. Sie würde niemals Boromir vergessen. Ihre Hoffnung ihn wiederzusehen fiel mit jedem Tag weiter in sich zusammen, aber ihre Erinnerung an ihn würde niemals verblassen.
Ein Klopfen an der Tür lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihren schmerzhaften Gedanken.
"Herein," sagte Aerilyn obwohl sie nicht in der Stimmung war, irgend jemanden zu sehen. Die einzigen Menschen, die sie sehen wollte, waren Boromir und Atalar, und sie bezweifelte, daß es auch nur einer von ihnen war, der an ihre Tür geklopft hatte.
"Milady, ich bringe Euch ein Kleid das Ihr heute Abend tragen sollt. Euer Vater möchte, daß Ihr kommt und gemeinsam mit Eurer lieben Mutter, Truchseß Denethor und Lord Faramir das Abendmahl einnehmt," sagte ihre Zofe nachdem sie das Zimmer betreten hatte.
"Sag meinem Vater, daß ich nicht kommen werde," sagte Aerilyn und ließ ihren Blick wieder zurück auf die Straße schweifen.
"Lady Aerilyn," sagte das Dienstmädchen, "Ihr müßt doch etwas essen."
"Ich bin nicht hungrig."
Das Dienstmädchen seufzte und legte dann das Kleid, das sie trug, auf Aerilyns Bett.
"Falls Ihr es Euch anders überlegt, laßt mich rufen damit ich Euer Haar machen kann."
"Ja, danke," erwiderte Aerilyn abwesend.
Etwa eine Stunde später ließ sich Aerilyn von der Fensterbank gleiten und ging zu ihrem Bett. Dort lag eines ihrer schönsten Kleider, von schwachem Blau und aus Seide. Es hatte viele modische und komplizierte Details und es brauchte daher über eine halbe Stunde, es anzuziehen. Sie würde auch Hilfe dabei benötigen, da sie die Rückseite des Kleides nicht selbst zuschnüren konnte. Sie sah hinab zu dem Kleid, das sie im Moment trug und biß auf ihre Unterlippe. Der Stoff war einfach und grau, ein Nichts verglichen zu dem prachtvollen und eleganten Material, aus dem das blaue Kleid gemacht war, das auf ihrem Bett wartete. Es war auch ziemlich formlos und betonte überhaupt nicht die Zartheit ihrer Taille, die ansprechenden Kurven ihrer Brüste oder irgendeinen der anderen Reize ihrer hübschen weiblichen Formen. Aber letzten Endes war es doch auch ein Kleid. Sie sorgte sich nicht um ihr Haar und ließ es einfach lose hängen, ihre widerspenstigen Locken über ihren Rücken und ihre Schultern fallend, und verließ ihre Gemächer um zu dem großen Speisesaal zu gehen.
Als sie ihn betrat, saßen alle anderen bereits am Tisch. Die Unterhaltung, die zwischen ihren Eltern, Denethor und Faramir stattgefunden hatte, erstarb in der Sekunde, in der sie ihren Fuß in den Raum gesetzt hatte, und vier Augenpaare sahen sie an. Sie fühlte sich wie ein Eindringling und drehte sich beinahe um, um sich wieder zurückzuziehen, aber ihr Vater erhob sich eilig und streckte eine Hand in ihre Richtung aus.
"Aerilyn, meine Süße. Ich bin froh, daß du dich dazu entschlossen hast, mit uns zu Abend zu essen. Komm und setz dich," sagte Ribensis mit einem sanften Ton in seiner Stimme. Normalerweise war er ein ziemlich rauher Mann, aber letzten Endes war er auch ein Vater, der seine Tochter liebte.
"Ich kann mich selbst setzen," sagte Aerilyn mit einer schwachen Stimme und ging an ihm vorbei, ohne seine angebotene Hand zu ergreifen.
"Na schön," murmelte er nur, einen besorgten Blick mit seiner Frau wechselnd, und setzte sich wieder hin während Aerilyn ohne seine Hilfe Platz nahm. Sie hob ihren Kopf und blickte in Faramirs Gesicht. Er saß direkt vor ihr auf der anderen Seite des Tisches und lächelte sachte als ihre Blicke sich trafen. Sie reagierte nicht und lenkte ihren Blick zur Seite, aus irgendeinem Grund konnte sie sein Starren nicht ertragen. Ihre Augen richteten sich auf den leeren Stuhl neben Faramir, der auf dem Boromir gewöhnlich gesessen hatte wenn sie alle zusammen gegessen hatten. Sie biß die Zähne zusammen um Tränen zurückzuhalten und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß gefaltet lagen. Sie hörte die anderen über Dinge reden, die sie nicht interessierten, und blieb stumm bis das Essen serviert wurde.
"Aerilyn," sagte ihr Vater als sie beinahe fertig waren mit Essen. "Gestern hat eine von Truchseß Denethors Stuten gefohlt. Warum bittest du nicht Lord Faramir, dich zu den Ställen zu begleiten um dir das Neugeborene anzusehen."
Sie blickte auf, ihre Augen naß vor Tränen, denen sie nicht zu fallen gestattete.
"Ich bin nicht daran interessiert, fröhliche Spaziergänge mit Lord Faramir zu machen, um mir ein neugeborenes Fohlen anzuschauen," sagte sie mit einem ablehnenden Ton in der Stimme. Sie fühlte den verblüfften Blick ihrer Mutter, und sie sah wie ihr Vater sich versteifte. Sie wußte was das bedeutete und preßte ihre Lippen zusammen als Ribensis sich ein wenig vor lehnte um sie zurechtzuweisen.
"Aerilyn! Du wirst nicht in diesem Ton von Lord Faramir sprechen, ich will, daß du dich auf der Stelle bei ihm entschuldigst."
"Truchseß Ribensis, ich bin sicher, Eure Tochter hat nicht beabsichtigt, mich zu beleidigen," versuchte Faramir, Aerilyns Vater zu beschwichtigen, aber er hörte ihm gar nicht zu.
"Fange endlich an dich zu benehmen, Aerilyn! Du bist schließlich kein Kind mehr! Du beleidigst nicht nur Lord Faramir, du sitzt hier ohne einen Bissen zu essen und stocherst bloß in deinem Essen herum. Wofür habe ich dir Manieren beigebracht, wenn du sie nicht einmal zeigst?! Und sieh dich an! Ist das etwa, wie eine Dame an einem Essen mit dem Truchseß teilnimmt, der in naher Zukunft ihr Stiefvater sein wird?!"
"Ich sehe keinen Sinn darin, hübsche Kleider zu tragen!" schrie Aerilyn, plötzlich eine überwältigende Wut in den Tiefen ihres kleinen Körpers aufsteigen spürend, und erhob sich so abrupt, daß der Stuhl überkippte. "Ich sehe keinen Sinn darin, mein Haar machen zu lassen! Der einzige Mann, für den ich hübsch aussehen wollen würde, ist nicht hier!"
"Setz dich!" bellte ihr Vater, geschockt über ihr Verhalten.
"Nein!"
"Lady Aerilyn," versuchte Faramir sie zu beruhigen. "Ich bin sicher, daß wir sehr bald schon ein Lebenszeichen erhalten werden. Vielleicht haben sie Boromir bereits gefunden und werden in den nächsten Tagen zurückkehren und Eure Besorgnis wird sich als grundlos erweisen."
"Meine Besorgnis ist ganz und gar nicht grundlos! Ihr müßt bedenken, daß unsere Botin noch nicht wiedergekehrt ist. Etwas Schreckliches muß geschehen sein! Ich kann mir nichts anderes vorstellen, was sie abgelenkt haben könnte, außer ein tödlicher Kampf oder Überfall in den alle verwickelt worden sind."
"Vielleicht hat sie die Truppe einfach noch nicht gefunden, ich bin sicher sie kommt bald zurück," sagte Ribensis.
"Nein, Inunyen ist der beste Bote den wir haben. Und das weißt du auch. Du weißt, daß sie die Truppe längst gefunden haben muß! Wenn alles in Ordnung wäre, dann würde sie längst wieder hier sein um uns gute Nachrichten zu überbringen! Aber Inunyen ist nicht hier! Und weder Atalar, noch Boromir! Sie sind wahrscheinlich alle tot, und ihr sitzt hier und führt heitere Gespräche über Pferdezucht! Ihr widert mich an!"
Und damit stürmte sie davon, Tränen der Trauer und des Zorns über ihr Gesicht strömend.
"Entschuldigt mich," sagte Ribensis leise und erhob sich um seiner Tochter nachzusetzen. Er holte sie schnell ein und packte ihren Oberarm um sie zum Stehen zu bringen.
"Laß mich allein," sagte Aerilyn und wischte ihre Tränen mit ihrer freien Hand weg.
"Dieses Mal werde ich dich gehen lassen, aber ich wünsche zu sehen, wie du dich morgen bei Truchseß Denethor und auch bei seinem Sohn Faramir entschuldigst. Siehst du denn nicht, daß du unsere Familie mit deinem kindischen Benehmen entehrst? Es ist furchtbar, was dir und Lord Boromir zugestoßen ist, und ich werde trauern wenn es erwiesen ist, daß er im Kampf gegen die Entführer gefallen ist. Aber sein Tod wird nicht die Abmachung zwischen Denethor und mir zu Nichte machen, verstehst du?"
Aerilyn sah ihren Vater mit großen Augen an und schluckte heftig. Sie konnte sich bereits vorstellen, was er ihr gleich sagen würde, aber als sie es ihn laut aussprechen hörte, war es wie ein Schlag in ihr Gesicht.
"Denethor und ich haben vereinbart, dich mit Lord Faramir zu verheiraten wenn Boromir für tot erklärt wird. Ich erwarte von dir, daß du dich angemessen verhältst, wenn er in der Nähe ist, denn vielleicht wird er sehr bald schon dein Ehemann sein."
"Nein, das kann nicht wahr sein," sagte Aerilyn, ihre Stimme vor Entsetzen zitternd. "Ihr beide behandelt eure Kinder, als wären sie eine Art Handelsgut! Was hättet ihr denn getan, wenn ich bei dem Anschlag getötet worden wäre?! Hättet ihr die Hochzeit von Faramir und Atalar arrangiert?!"
Sie spürte den Griff ihres Vaters fester werden, ihren zierlichen Arm quetschend.
"Meine Geduld mit dir ist langsam am Ende, meine liebe Tochter!" zischte er. "Du scheinst zu vergessen, wer du bist! Du hast Pflichten wie jeder andere in dieser Familie auch! Du hast beinahe zwanzig Jahre lang alle Privilege genossen, die du als Tochter eines Truchseß beanspruchen kannst, jetzt wird es Zeit, daß du anfängst dich auch um die Verantwortungen und Verpflichtungen zu kümmern, die mit solch einer Position verbunden sind! Das Leben geht nicht immer genau den Weg, den wir bevorzugen würden. Wir alle müssen Opfer erbringen um das Leben unseres Volkes und den Status unseres Reiches zum Besseren zu wenden. Es ist unsere Pflicht dies zu tun, und zwar ohne uns zu beschweren. Und du wirst keine Ausnahme sein. Hast du das verstanden?"
Aerilyn erwiderte nichts sondern schloß fest ihre Augen. Sie spürte, daß sie nicht mehr lange schaffen würde, ihre Tränen zu unterdrücken.
"Hast du das verstanden, Aerilyn?!" wiederholte ihr Vater autoritär, sie leicht schüttelnd.
"Ja, Vater," wimmerte sie nur.
"Jetzt geh in deine Gemächer und bleibe da. Ich will nicht, daß du mir heute Abend noch einmal vor die Augen kommst."
Sobald er ihren Arm freigab, rannte Aerilyn zu ihrem Schlafzimmer wo sie als erstes wutentbrannt das blaue Kleid in eine der Zimmerecken schleuderte. Dann verwandelte sich ihr brennender Zorn in massive Verzweiflung die sie komplett erfüllte. Ihr Herz schmerzte mehr mit jedem Schlag. Sie hatte sich noch nie zuvor so elend und hilflos gefühlt, und so kuschelte sie sich in ihr Bett und versuchte ein kleines bißchen Trost aus der Weichheit der Bettwäsche zu ziehen, die sie mit ihren Tränen näßte.
Inunyen kniete am Boden, über Atalars schlafenden Körper gebeugt, und hielt den Atem an. Sie zögerte, die scharfe Klinge ihres Dolches nur wenige Zentimeter vor Atalars Hals. Eilig blickte sie einmal mehr auf um sich davon zu überzeugen, daß keiner von den anderen kam. Seit Atalar sich weigerte, in der Nähe von Ghorid, Aragorn und Legolas zu schlafen, hatten sie angefangen sich in zwei Gruppen aufzuteilen sobald sie ein Lager aufschlugen, so daß Atalar alleine mit Inunyen war. Sie waren außer Sicht-, aber nicht wirklich außer Hörweite und Inunyen mußte schnell handeln wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, von einem der anderen ertappt zu werden. Sie schluckte hart und festigte den Griff um die Waffe. Sie hatte nur einen Versuch, sie mußte ihn mit nur einem Stoß töten, damit er keine Chance hatte zu schreien... Nur ein einziger heftiger Stoß in die weiche Haut seines Halses an dem sie sich einst in Ekstase festgesogen hatte, als sie beide ihrem Verlangen nachgegeben hatten, verborgen in einem der Ställe in Katalla, verhüllt von der Dunkelheit der Nacht. Es war ihre erste und letzte Begegnung mit dem Akt der Liebe gewesen, und sie erinnerte jede Sekunde dieses Erlebnisses als wäre es erst gestern gewesen und nicht vor Jahren. Verzweiflung quoll in ihrem Herzen empor als sie bemerkte, daß ihre Hand leicht zitterte. Sie konnte ihre wahren Gefühle nicht verleugnen. Sie verfluchte ihre Schwäche, ihre Unfähigkeit zu tun was getan werden mußte. Sie wünschte, sie könne ihre Emotionen einfach ausschalten, aber sie konnte es nicht natürlich nicht. Inunyen zwinkerte heftig um die Tränen zurückzukämpfen, die sich in ihren Augen sammelten. Sie war von sich selbst enttäuscht, von ihrem Versagen.
Als Atalar leise stöhnte und sich bewegte, ließ sie schnell den Dolch unter ihrem Umhang verschwinden. Nur eine Sekunde später zwinkerte er seine Augen auf und schien überrascht, sie so nah vor seinem Gesicht zu sehen.
"Inunyen, was tust du denn da?" fragte er verschlafen.
"Über Euch wachen während Ihr schlaft, mein Lord," erwiderte sie leise. Sie wußte nicht, wie oft sie ihn schon angelogen hatte, den Mann den sie liebte. Das einzige menschliche Wesen, für das sie jemals tiefe Gefühle entwickelt hatte. Für sie war er das Liebste auf der Welt, und doch war sie entschlossen ihn zu ermorden.
Er setzte sich langsam auf, und als sie zurückweichen wollte ergriff er ihren Oberarm um sie in Position zu halten.
"Hast du geweint?" fragte er erstaunt und besorgt, seine dunklen Augen ihr Gesicht einfangend.
"Nein, habe ich nicht," erwiderte sie, noch einmal lügend. "Legt Euch wieder hin, Ihr müßt Euch ausruhen."
"Würdest du dich zu mir legen?" fragte er, seine Stimme bloß ein Flüstern. Ihr Mund wurde ganz trocken und sie konnte nicht anders als ihn anstarren, der sehnsüchtige Ausdruck in ihren Augen die Wahrheit über ihre tiefen Gefühle, die sie so sehr zu unterdrücken versuchte, ans Licht bringend.
"Ich bin froh, daß du hier bist, bei mir," sagte er und fuhr seine Hand von ihrem Arm hoch zu ihrem Kopf. Sie schloß die Augen als seine sanften Finger auf ihrem Nacken verweilten und mit ihrem weichen Haar spielten. Viel Zeit war vergangen, seit er sie das letzte Mal berührt hatte, und es machte ihr fast Angst wie sehr sie es vermißt hatte. Obwohl sie für über zehn Jahre in derselben Festung gelebt hatten, hatten sie kaum Zeit unter vier Augen geteilt, ganz zu schweigen von körperlichem Kontakt. Die Angst entdeckt zu werden war riesig. Es war nicht leicht, eine heimliche und verbotene Liebe zwischen dem Erbe des Truchseß und einer einfachen Botin seines Vaters zu verbergen.
Inunyens Augen sprangen wieder auf als Atalars weiche Lippen auf die ihren gedrückt wurden, sie in einen innigen, glühenden Kuß ziehend auf den zu teilen sie beide eine Ewigkeit gewartet hatten. Er öffnete ihren Pferdeschwanz und ließ seine Hände in ihr volles Haar tauchen, ihren Kopf noch enger zu seinem Gesicht ziehend. Sie ließ sich von der Leidenschaft gefangennehmen, erlaubte ihm sich an ihren Lippen zu laben und ihren Mund mit flammendem Verlangen zu erforschen. Ihr Atmen beschleunigte sich als sich ihre Zungen trafen und sie legte eine Hand flach gegen seine Brust, noch nicht ganz sicher ob sie es tat um ihn näher an sich zu ziehen oder um ihn wieder wegzustoßen.
"Ich habe mich so sehr danach gesehnt," flüsterte Atalar, sein Atem heiß gegen ihren Lippen. "Es ist so lange her, seit ich das letzte mal deine Lippen schmecken durfte."
Er küßte sie noch einmal, heftiger jetzt, und fing an, an ihrer Kleidung zu zerren. Tränen begannen von Inunyens Augen zu entwischen. Warum war das Schicksal so grausam? Warum hatte sie sich in den Mann verliebt, den sie zu ermorden bestimmt war? Und warum erwiderte er ihre Gefühle? Emotionen machten alles nur schwer und kompliziert.
Sie spürte, daß er versuchte Trost in den Küssen zu finden, daß er verzweifelt versuchte den Schmerz über den Verlust seiner Schwester abzuarbeiten. Sie verabscheute sich selbst dafür ihm diese unwahre Nachricht überbracht zu haben, die sein Herz in Stücke gerissen hatte, aber es war notwendig gewesen. Ihrer beide Gesichter mit heißen Tränen nässend und seine liebevollen Küsse erwidern, ließ sie eine Hand zurück zu ihrem Dolch gleiten. Sie schloß ihre Finger um ihn, bereit die Waffe zu ziehen und Atalars Leben ein Ende zu setzen...
Aber etwas hielt sie zurück. Etwas, das stärker war als die Angst vor dem, was ihr bevorstand wenn sie es nicht tat.
"Ich kann nicht," flüsterte sie, brach aus seiner zärtlichen Umarmung und erhob sich abrupt. Sie meinte, daß sie ihn nicht töten konnte, aber er dachte sie meinte, sie könne ihn nicht lieben.
"Warte!" platzte es aus ihm und er war in nur einer Sekunde auf den Füßen, ihren Arm ergreifend damit sie nicht davonlaufen konnte.
"Wieso möchtest du diese Gelegenheit nicht nutzen? Wir haben viele Jahre darauf gewartet," sagte er leise und hob ihre Hand zu seinem Mund um sie sanft zu küssen.
Sie wollte, aber sie konnte nicht. Sie wollte sich ihm hingeben, ihm erlauben sie mit seiner feurigen Natur und brennenden Leidenschaft, die sie so sehr an ihm liebte, zu nehmen. Aber es konnte und durfte nicht sein.
"Es tut mir leid, Atalar," flüsterte sie und entfloh seinem Griff. Er lief ihr nicht hinterher. Inunyen wußte nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht darüber war. Im Moment empfand sie nichts als Verwirrung. Sie mußte wieder zur Vernunft kommen. Sie hatte ihre Befehle die erfüllt werden mußten, ganz gleich ob diese Befehle den ehrlichen Gefühlen widersprachen, die sie im Tiefsten ihrer Herzen trug.
*** Falka: So, dieses Kapitel war jetzt länger. Zufrieden? Und Aerilyn ist doch gar nicht tot...
Arwen: Danke für deine lieben lobenden Worte! :o)
Ich hoffe, euch gefällt es noch!! ***
