*** Arwen: Hast Recht, daß "Kapitel 10" nicht gerade ein sehr kreativer Titel für ein Kapitel ist, aber mir wollte einfach kein passender einfallen. Ich bin dankbar für Vorschläge!!! Zu deiner Frage: Bei der englischen Version bastele ich gerade an Kapitel 18, bin aber noch nicht fertig. Insgesamt sollen es 21 Kapitel werden. Ich hoffe, ihr haltet so lange durch mit Lesen!
So, genug gelabert. Weiter geht's...
Aragorn wurde von einem schrecklichen Schrei, der die friedliche Stille der Nacht zerschnitt, aus dem Schlaf gerissen. Er schlug sofort die Augen auf und fuhr abrupt hoch, sich alarmiert umsehend, seine Hand bereits an dem Griff seines Schwertes. Er erblickte Legolas, der Wache gehalten hatte während die anderen sich ausruhten. Der Elb war auf den Beinen und anscheinend kurz davor, ihr Lager zu verlassen. Aragorn fixierte seinen Freund mit einem fragenden Blick in den Augen.
"Das war Atalar," erklärte Legolas ruhig. "Ich werde gehen und nach ihm sehen."
"Soll ich mitkommen?" fragte Aragorn besorgt und wollte aufstehen. Er hatte ein extrem schlechtes Gefühl, was die Situation anging. Der Schrei, so voll von Entsetzen und Schmerz, war ihm durch Mark und Bein gegangen und nun fragte er sich mit Unbehagen, was geschehen war. Aber Legolas kam näher und legte eine Hand auf Aragorns Schulter um ihn dazu zu bringen, sich wieder zu setzen.
"Nein, es muß jemand bei Ghorid bleiben. Ich werde bald zurückkehren."
"Sei vorsichtig," sagte Aragorn.
"Ich bin immer vorsichtig," erwiderte der Elb, ging davon und wurde schnell von der Dunkelheit der Nacht verschluckt.
Legolas runzelte die Stirn als er Atalar zusammengerollt auf dem Boden liegend entdeckte. Er war ganz allein. Inunyen war nicht da. Eilig kniete Legolas neben dem jungen Lord, der auf seiner Seite lag, nieder und legte sanft eine Hand auf seine Schulter. Er zitterte am ganzen Körper und atmete schwer, ab und zu leise Geräusche der Qual von sich gebend.
"Atalar... Könnt Ihr mich hören?" fragte Legolas besorgt. Als keine Reaktion kam, rollte er Atalar vorsichtig auf seinen Rücken. Sein gesamtes Gesicht war schweißbedeckt und seine Haut war weiß wie Schnee. Sein schwarzes, kurzes Haar war so naß, daß es ihm Mondlicht schimmerte, und flüssige Tropfen liefen von seinem Haaransatz über sein Gesicht, das intensive Angst und Schmerzen zeigte.
"Atalar!" versuchte Legolas es noch einmal, seine Stimme diesmal lauter und angespannt. Als der Mann langsam die Augen öffnete, spürte der Elb Erleichterung und fuhr wieder mit einer etwas ruhigeren Stimme fort.
"Seid Ihr verletzt? Hat Euch jemand etwas angetan? Wir haben Euren Schrei gehört."
Atalar schüttelte schwach den Kopf und schluckte hart.
"Nur ein böser Traum," flüsterte er und schloß seine flatternden Augenlider wieder.
"Wo ist Inunyen?"
"Ich weiß es nicht."
Legolas legte sanft eine Hand auf Atalars nasse Stirn und hielt für einen Moment inne.
"Ihr habt Fieber," stellte er fest, ergriff Atalars Handgelenk und wickelte den Arm des jungen Mannes um seinen Nacken. Atalars Augen flogen wieder auf und er bewegte seinen Kopf, um Legolas anzusehen.
"Was tut Ihr denn da?" fragte er mit einer zitterigen Stimme.
"Ihr kommt mit mir, ich werde Euch nicht in dieser schlechten Kondition hier allein zurücklassen," erklärte Legolas, zog Atalar auf die Beine und stützte ihn, indem er einen Arm um seine Taille schlang. Die Kleidung des jüngeren Mannes war völlig durchnäßt, Legolas fühlte die kalte Feuchtigkeit gegen seine Finger als er an ihm festhielt.
"Was ist mit den Pferden?" flüsterte Atalar.
"Ich werde wieder zurückkehren wenn ich Euch erst einmal zu unserem Lager gebracht habe. Sorgt Euch nicht," antwortete Legolas und ließ seinen Blick zu den Tieren schweifen. Er fragte sich, wo Inunyen war und warum sie nicht ihr Pferd mitgenommen hatte als sie gegangen war. Etwas Eigenartiges ging hier vor sich. Etwas, was Legolas ganz und gar nicht gefiel.
Aragorn erhob sich und wollte etwas sagen, als er Legolas zurückkommen sah, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken als er Atalar erblickte. Er sah aus, als würde er bereits mit einem Bein im Grab stehen. Schweigend beobachtete er, wie Legolas Atalar nahe am Lagerfeuer vorsichtig zu Boden ließ und ihn fest in eine Decke wickelte. Er hörte, daß der Elb dem jungen Mann tröstende Worte zuflüsterte, aber Aragorn konnte nicht verstehen, was genau er sagte. Und er bezweifelte, daß Atalar die Bedeutung von Legolas' Worten begreifen konnte. Seine schlechte Verfassung schien ernst zu sein.
"Was ist geschehen?" fragte Aragorn, als Legolas schließlich den zitternden Körper verließ und zu seinem Freund hinüber kam.
"Er leidet unter furchtbaren Alpträumen," erklärte Legolas leise. "Der seelische Schmerz über den Verlust seiner Schwester macht ihn krank. Er hat sehr hohes Fieber, aber trotzdem friert er. Er hat sich auf unserem Weg hierher auch übergeben."
"Wieviel Pech können wir denn noch haben?" sagte Aragorn und Falten der Besorgnis zeichneten sich auf seiner Stirn ab. "Als erstes wurde Faramir verwundet und konnte nicht mit uns kommen. Dann ist Ghorid von mehreren Wölfen gebissen worden und trägt eine ernste Infektion im Körper, und dein Pferd wurde beinahe zerfleischt. Und jetzt das!"
"Inunyen ist weg," informierte Legolas Aragorn, eine Addition zu den negativen Geschehnissen machend, die bis jetzt auf ihrer Reise passiert waren.
"Was?"
"Ich weiß nicht wo sie ist, und Atalar auch nicht. Er war alleine als ich ihn gefunden habe."
"Ich hoffe unsere Reise wird sich bald zum Besseren wenden, oder wir werden versagen," sagte Aragorn düster.
"Ich werde zurückgehen um Atalars Pferd zu holen," sagte Legolas, Aragorns letzte Bemerkung ignorierend. "Ich denke es wäre gut, wenn du nach ihm siehst solange ich fort bin. Vielleicht gibt es etwas, was du tun kannst um sein Leiden zu lindern."
"Ich fürchte da gibt es nichts, Legolas. Ich kann physische Wunden behandeln, aber Atalars Wunden sind in seinem Herzen und seiner Seele. Ich kann nicht seinen Geist heilen."
"Dann setz dich zu ihm und gib ihm Trost," sagte Legolas. Er sah ein Zögern in Aragorns Augen und es war ein leicht scharfer Unterton in Legolas' normalerweise sanften Stimme als er fortfuhr. "Aragorn, ich weiß, daß wir nicht gerade gut mit ihm befreundet sind, aber du mußt deine Abneigung gegenüber Atalar ignorieren und..."
"Wir sind nicht nur nicht gut mit ihm befreundet, wir sind überhaupt nicht mit ihm befreundet!" unterbrach Aragorn ihn. "Und ich bin es nicht, der diese alberne Feindseligkeit zwischen uns hervorruft! Also gib nicht mir die Schuld!"
Langsam hatte er das Gefühl, Legolas würde die Seiten wechseln und dieser Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht.
"Natürlich bist nicht du es! Ich habe niemals behauptet, daß du es bist!" zischte Legolas zurück. "Ich schlage vor, du hörst vernünftig zu bevor du anfängst, mir Sachen anzuhängen, die ich gar nicht gemeint oder gesagt habe!"
Sie starrten sich für einige Sekunden lang an bis der Elb wieder seine Stimme erhob und etwas ruhiger fortfuhr.
"Ich weiß, daß es schwer ist Atalars Benehmen zu entschuldigen, aber er leidet sehr. Ich bitte dich, vergiß was bis jetzt vorgefallen ist und konzentriere dich auf das Hier und Jetzt. Er braucht uns. Und du mußt zugeben, daß wir ihn auch brauchen. Aber wir brauchen ihn in einer besseren Verfassung. Er kann uns nicht helfen Boromir zu retten, wenn er in den nächsten Tagen zusammenbricht."
"Du hast Recht," gab Aragorn zu, sich wieder beruhigend.
"Ich bin froh, daß du es einsiehst," sagte Legolas. "Ich möchte nicht mit dir streiten."
"Ich will auch nicht mit dir streiten."
"Gut. Dann laß es uns auch nicht tun. Geh und bleibe bei Atalar, ich werde gehen und das Pferd holen."
"So sei es, mein Freund," sagte Aragorn und beobachtete einmal mehr, wie Legolas in der Dunkelheit der Nacht verschwand.
Inunyens Herz raste und ihr Atem kam und ging in schnellem Keuchen. Als sie von dem Ort an den sie sich früher in dieser Nacht zurückgezogen hatte zurückgekommen war, hatte sie ihr kleines Lager erreicht, nur um zu entdecken, daß Atalar nicht dort war. Panik war über sie gekommen als sie ihn nirgends in der umliegenden Gegend finden konnte. Als sie sich wieder von ihrem Kuß beruhigt hatte, war sie entschlossen gewesen, ihre Befehle auszuführen. Sie war entschlossen gewesen, es schließlich zu tun, ihn zu töten. Und nun war er verschwunden, und das erste Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, war Besorgnis. In der einen Minute wollte sie ihn ermorden, und in der nächsten wurde sie vor lauter Sorge um ihn ganz verrückt. Das machte alles keinen Sinn, aber sie konnte es nicht ändern. Sie suchte schon eine ganze Weile nach ihm, war schon völlig durchnäßt von Schweiß und total außer Atem, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Langsam gab sie auf und kehrte schnell zu ihrem Lager zurück. Als sie hastig an einem weiteren Baum vorbeilief, stieß sie mit jemandem zusammen, der ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald eilte. Sie konnte einen überraschten Schrei nicht unterdrücken. Beinahe wäre sie durch den heftigen Aufprall ihrer Körper niedergeworfen worden, aber Arme schlossen sich um sie und hielten sie fest, so daß sie nicht fiel. Für eine Sekunde dachte sie es wäre Atalar, aber als sie ihren Kopf hob war es nicht das Gesicht ihres heimlichen Geliebten, in das sie blickte.
"Legolas!" keuchte Inunyen als sie ihn erkannte. Sie klammerte sich an seine Kleidung und sah ihm mit einem verzweifelten Blick in die Augen.
"Was ist los?" erwiderte er, seine Hände immer noch auf ihrem Rücken liegend. "Warum seid Ihr so außer Atem?"
"Atalar ist weg! Ich kann ihn nicht finden..." erzählte sie ihm und schluckte hart.
"Er ist in Sicherheit," sagte Legolas und ein sanftes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. "Er ist bei Aragorn."
"Bei Aragorn?" echote Inunyen ungläubig. Das war der letzte Ort, an dem sie Atalar vermutet hätte.
"Ja, ich habe ihn zu unserem Lager gebracht weil er krank ist."
Legolas ließ sie wieder los und runzelte leicht die Stirn.
"Was ist mit Eurem Haar passiert?" fragte er.
"Mein Haar?" fragte Inunyen verwundert zurück und erinnerte sich dann, daß Atalar ihren festen Pferdeschwanz gelöst hatte. Bevor sie Legolas eine ausgedachte Erklärung geben konnte, stellte er eine weitere Frage. Eine Frage, die schwieriger zu erklären war als die über ihre Haare.
"Warum wart Ihr nicht bei Lord Atalar?" wollte der Elb wissen. "Wo wart Ihr und warum?"
"Ich...ich will ihn sehen. Laßt uns zu Eurem Lager gehen," sagte Inunyen, Legolas' Fragen stur ignorierend. Der Elb nickte langsam und wandte sich dann ab, um Atalars Pferd zu holen, aber sie hatte in seinen Augen gesehen, daß er nicht so schnell aufgeben würde. Er wußte, daß hier etwas Schreckliches vor sich ging und war entschlossen herauszufinden, was genau es war. Die Zeit drängte. Inunyen mußte schnell handeln, wenn sie nicht bald zwei Männer auf der Liste der von ihr zu ermordenden Leute haben wollte.
Wieder zurück beim Lager, nahm Inunyen Aragorns Platz an Atalars Seite ein. Sie kniete sich mit dem Rücken zu den anderen hin, aber sie konnte hören, daß sie nicht zu weit entfernt auf der anderen Seite des Lagerfeuers saßen.
"Wie geht es dir?" flüsterte sie leise genug, um Aragorn und Legolas am Lauschen zu hindern. Er beantwortete nicht ihre Frage, sondern sah sie mit einem seltsamen Ausdruck in seinen Augen an, der sie zur gleichen Zeit glücklich und traurig machte.
"Es tut mir leid," flüsterte er, seine blassen Lippen kaum bewegend während er sprach, "Ich wollte dich vorhin zu nichts drängen."
"Ich weiß," flüsterte sie zurück und versuchte zu lächeln. Sie hob eine Hand und streichelte sanft seinen Kopf, die kalten, nassen Locken seines dunklen Haares zwischen ihren zittrigen Fingern spürend.
"Wenn wir wieder zu Hause sind," sagte er mit einer schwachen Stimme, "werde ich zu meinem Vater gehen und ihm von uns erzählen. Wir werden uns nicht länger verstecken."
Für einen Moment war Inunyen wie gelähmt und sprachlos, und nicht dazu in der Lage sofort etwas auf seine Bemerkung zu erwidern. Ihre Hand hörte auf sich zu bewegen und lag regungslos auf seinem Kopf.
"Wir haben bereits so viele Jahre verschwendet. Ich bin nicht bereit so weiterzumachen. Ich will, daß wir zusammen sein können," fuhr er fort und blinzelte langsam, große Erschöpfung quer über sein verschwitztes Gesicht geschrieben.
"Dein Vater würde das niemals erlauben," flüsterte Inunyen zurück, sich bemühend die Kontrolle über ihre Stimme, die zu brechen drohte, zu behalten.
"Es ist mir egal, was mein Vater sagt."
"Atalar, du weißt, daß das nicht möglich ist. Es ist hoffnungslos."
"Nein," sagte er, seine Stimme lauter werdend. "Nein, es ist nicht hoffnungslos. Wie kannst du so etwas sagen? Ich dachte..."
"Shhh," unterbrach sie ihn und legte sanft einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie wollte nicht, daß einer der anderen einen Fetzen ihres Dialoges einfing. Sie wußte, daß sie von ihnen beobachtet wurden, sie konnte ihre Blicke auf ihrem Rücken spüren.
"Wir könnten weggehen," flüsterte Atalar, Inunyens Finger immer noch auf seinem Mund liegend, und die Entschlossenheit in seinen Augen sagte ihr, daß es ihm sehr Ernst war.
"Weg?" echote sie und nahm ihre Hand von seinen Lippen.
"Warum nicht? Wir könnten überall hingehen, wohin wir wollen. Zu einem Ort weit weg von meinen Eltern, wo ich nicht der Sohn des Truchseß bin und du nicht des Truchseß' Botin. Ein Ort, an dem wir zusammen sein können, nur du und ich, und niemand könnte uns jemals wieder voneinander trennen."
"Du sprichst Unsinn. Das würde niemals funktionieren."
"Aber..."
"Nein, Atalar, hör jetzt auf damit!" zischte sie leise. Seine lieblichen Versprechungen machten alles nur noch schlimmer. Sie hatte davon geträumt seit sie ihm vor vielen Jahren verfallen war. Wie oft schon hatte sie sich ausgemalt, wie es sein würde ein sorgenfreies Leben zusammen mit Atalar zu führen, ein Leben frei von Lügen, Intrigen und gebieterischen Vätern, von denen sie beide kontrolliert wurden... Aber nun, als er ihre Phantasien in Worte gefaßt und versprochen hatte, ihre Träume in Erfüllung gehen zu lassen, wünschte sie sich, daß ihr Leben wieder so sein könnte wie früher, als sie nicht mehr gewesen waren als zwei Jugendliche die nicht aneinander interessiert waren. Sie war verzweifelt und hatte Angst vor der Zukunft. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, oder was sie erwarten konnte. Ihre innere Zwickmühle brachte sie um.
"Du hast sehr hohes Fieber, du weißt ja nicht, was du sagst. Du phantasierst," fügte sie mit einer weicheren Stimme hinzu.
"Ich weiß sehr wohl was ich sage," erwiderte er, sein Ton auf einmal scharf. Dann holte er tief Luft und sah sie mit dem traurigsten Ausdruck den sie jemals in eines Mannes Augen gesehen hatte an.
"Also ist es Unsinn für dich, daß ich alles aufgeben würde, nur um mit dir zusammen sein zu können?" fragte er, seine Stimme vor Schmerz zitternd. "Es ist Unsinn für dich, daß ich dich liebe?"
"Nein! Nein, das ist es nicht, was ich dir sagen wollte..." erwiderte sie verzweifelt, den gebrochenen Ausdruck in seinen dunklen Augen beobachtend. Sie hatte nicht vorgehabt ihn so zu verletzen. Aber sie war davon überzeugt, daß seine Pläne bloß ein Luftschloß waren.
"Schlaf jetzt, wir haben morgen einen weiten Weg vor uns," flüsterte sie während sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie küßte ihre eigenen Fingerspitzen und berührte dann zärtlich Atalars Stirn mit ihnen. Sie konnte ihn einfach nicht richtig küssen, wenn Legolas und Aragorn zusahen, obwohl sie sicher war, daß die beiden bereits vermuteten, daß zwischen ihnen mehr war als die formale Beziehung, die normalerweise zwischen Herr und Bedienstetem zu finden war.
Es war früh am Morgen als Aerilyn auf dem Weg war sich bei Truchseß Denethor zu entschuldigen, so wie ihr Vater es ihr gesagt hatte. Sie trug ein wunderschönes Kleid und ihr widerspenstiges, wildes Haar war mit vielen kleinen Spangen und Bändern gezähmt worden. Trotzdem fühlte sie sich keineswegs anders als gestern Abend und ihr äußeres Erscheinungs-bild reflektierte in keiner Weise ihre inneren Gefühle. Ihr Vater konnte sie hübsch machen lassen, er konnte sie zwingen, sich für ihr Benehmen zu entschuldigen, aber niemals würde er dazu in der Lage sein, ihre Gefühle zu ändern. Sie war entschlossen, sich nur für ihren unangemessenen Ton zu entschuldigen, den sie während ihres Ausbruches benutzt hatte, nicht aber für die Bedeutung ihrer Worte.
Sie bog um eine Ecke der langen Korridore und hielt für einen Moment inne, als sie die Tür sah, die sie zu dem Mann führte, der ihr Schwiegervater werden würde, egal ob Boromir jemals lebendig zurück nach Minas Tirith kehrte. Sie mußte zugeben, daß sie etwas Angst davor hatte, ihm ganz alleine von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Denethor war immer höflich zu ihr gewesen, aber trotzdem hatte er etwas an sich was sie nicht mochte. Aerilyn seufzte und ging eilig auf die Tür zu. Je früher sie damit begann, was sie tun mußte, desto schneller würde sie auch wieder damit fertig sein. Aber bevor sie auch nur die Tür erreichen konnte um höflich anzuklopfen, hörte sie daß Denethor nicht alleine war. Faramir war bei ihm und es war unmißverständlich, daß sie heftig miteinander stritten, da sie sich gegenseitig wütend anschrien. Aerilyn entschied, daß es ein höchst ungünstiger Moment war, einen der beiden Männer mit ihren Entschuldigungen zu belästigen und drehte sich um, um schnell wieder zu gehen, aber dann hörte sie ihren eigenen Namen fallen und blieb wieder stehen. Sie hielt ihren Atem an und versuchte mehr von dem Dialog zwischen Vater und Sohn zu verstehen. Normalerweise lauschte sie nicht, aber diesmal konnte sie einfach nicht anders. Als sie hörte, daß die beiden Männer sich tatsächlich über sie und die geplante Hochzeit stritten, ging sie wieder näher zu der Tür und folgte der Auseinandersetzung mit einem rasenden Herzen und einem trockenen Mund.
"Das kannst du nicht von mir verlangen!" rief Faramir, Wut und Verzweiflung in seiner Stimme anschwellend.
"Ich kann und ich werde! Und du wirst gehorchen, du bist schließlich mein Sohn!" schrie Denethor autoritär zurück.
"Ich werde nicht die Verlobte meines Bruders heiraten!" zischte Faramir.
"Faramir! Du mußt sie ehelichen! Boromir kann es nicht, weil er in ewigem Frieden ruht! Wage es ja nicht zu denken, das hier wäre leicht für mich! Das wertvolle Leben meines Erstgeborenen wurde genommen! Das ist eine wahre Tragödie für unsere Familie und für Gondor! Das mindeste, was du jetzt tun könntest, ist zu versuchen zu vollenden was Boromir hätte vollbringen sollen, obwohl ich bezweifle, daß du jemals das erreichen wirst, was er erreicht hätte... Aber Gondor braucht diese Allianz! Gondor braucht einen Erben, der aus dieser Verbindung hervorgehen wird!"
"Niemals werde ich mit der Liebsten meines Bruders ein Bett teilen und einen Erben produzieren!" rief Faramir entsetzt.
"Du mußt!"
"Du kannst mich nicht zwingen! Ich bin nicht einer deiner Zuchthengste!"
Aerilyn zuckte zusammen als sie das laute Geräusch einer sehr harten Ohrfeige hörte. Geschockt und gelähmt verharrte sie vor der Tür, nicht fähig sich zu bewegen und nicht wagend zu schlucken oder auch nur zu atmen.
"Mein Bruder ist nicht tot!" sagte Faramir nach ein paar stillen Augenblicken, seine Stimme immer noch laut aber dennoch brüchig. "Du hast keinen Beweis für seinen Tod! Ich werde unter diesen Umständen nicht in Boromirs Fußstapfen treten und seine Position an mich reißen! Solange ich nicht die Leiche meines Bruders mit meinen eigenen Augen sehe, werde ich nichts von dem machen, was du von mir verlangst! Und selbst wenn sein Fall bewiesen wird, werde ich niemals Hand an die Frau legen, die er geliebt hat, und damit sein Andenken entehren!"
Aerilyn zuckte noch einmal, als ganz plötzlich die schwere Tür mit einem lauten Knall aufflog. Erschrocken und verängstigt fand sie sich Angesicht zu Angesicht mit Faramir, der sich so aggressiv den Weg aus dem Zimmer frei gestoßen hatten. Er starrte zurück, mindestens so erschrocken wie sie war. Auf seinem Gesicht mischte sich die Wut über seinen Vater mit der Überraschung, Aerilyn vor der Tür zu entdecken.
"Was macht Ihr denn hier?" fragte er sie leise, ein wenig außer Atem von dem ganzen Geschrei.
"Ich wollte bloß...Ich..." stotterte Aerilyn, sein Gesicht anstarrend, das so plötzlich ganz fremd wirkte, so voll von tiefen Emotionen. Normalerweise war er eher ruhig und reserviert.
"Kommt," sagte Faramir, ergriff zart ihren Ellbogen und führte sie mit sich den Korridor hinunter.
"Es tut mir leid, daß ich gestern so unhöflich war," sagte sie plötzlich etwas tolpatschig, als sie die Worte ihres Vaters erinnerte.
"Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen. Ihr habt wahr gesprochen," erwiderte Faramir, ohne sie anzusehen. Für eine Weile durchquerten sie schweigend die Korridore bis Aerilyn es nicht mehr zurückhalten konnte. Sie fühlte sich, als würde sie explodieren wenn sie nicht etwas sagte.
"Ich habe gehört was Ihr und Euer Vater gesagt habt. Es tut mir leid, es ist unverzeihlich, daß ich gelauscht habe, aber ich wollte Euch nur sagen, daß..."
"Schweigt, Aerilyn. Wir müssen erst zu einem Ort gehen, an dem wir ungestört reden können," sagte Faramir. Sie nickte bloß und ließ sich von ihm durch die Flure führen bis sie zusammen in einem großen Raum waren. Faramir verriegelte die Tür und bot Aerilyn an, sich zu setzen. Sie nahm Platz, ohne den hübschen und teuren Möbeln Beachtung zu schenken. Ihre Gedanken waren zur Zeit mit anderen Dingen beschäftigt.
"Ich wollte Euch sagen, daß ich diese Heirat zwischen uns auch nicht wünsche," beendete sie ihren Satz, den sie schon früher auf den Korridoren hatte sagen wollen. "Es liegt nicht an Euch... Ich meine, ich bin sicher, daß Ihr ein sehr guter Ehemann sein würdet. Aber... aber mein Herz gehört Boromir. Ich liebe ihn."
"Ich weiß," sagte Faramir, "und ich kann Euch nur das gleiche sagen, was Ihr mir gesagt habt. Ich bin sicher, Ihr werdet einmal eine bezaubernde Ehefrau sein, aber nicht ich werde es sein, der davon profitiert. Auch ich liebe Boromir. Ich könnte niemals etwas tun, was ihn verletzen würde."
"Aber was sollen wir denn jetzt machen?" fragte Aerilyn während Faramir im Raum auf und ab ging. "Wir können uns doch nicht einfach weigern. Oder?"
"Doch, das können wir," erwiderte Faramir entschlossen. "Wir müssen nur an unserer Entscheidung festhalten. Wir müssen in dieser Angelegenheit zusammenhalten. Wir werden das mit vereinten Kräften durchstehen."
"Das hat mein Bruder auch immer gesagt. Wir müssen zusammenhalten. Wir werden unsere Kräfte vereinen," sagte Aerilyn und mußte über die Erinnerungen lächeln. "Meine Eltern sind keine leichten. Atalar hat sie oft belogen um sie davon abzuhalten mich zu bestrafen. Zum Beispiel wenn ich etwas kaputt gemacht habe, oder wenn ich vom Spielen nach Hause kam und alles dreckig gemacht habe. Dann hat er gesagt, er wäre es gewesen und nicht ich. Und dann hat er die Bestrafung erhalten, die eigentlich für mich bestimmt war, und wahrscheinlich sogar noch eine härtere. Ich war niemals Zeuge, wie unser Vater ihn geschlagen hat, aber ich habe hinterher den Schaden gesehen, den er angerichtet hat. Atalar hatte immer blaue Flecke als er ein Kind war, während ich niemals auch nur einen hatte. Manchmal hat er ganze Nächte lang geweint, aber er hat niemals mir gegenüber zugegeben, wie groß seine Schmerzen und seine Verzweiflung waren. Ich glaube, er hätte sich eher von unserem Vater zu Tode prügeln lassen als damit aufzuhören, mich vor ihm zu beschützen."
Aerilyn schwieg für einen Moment, in ihren Erinnerungen gefangen, und blickte dann auf zu Faramir, der ihr still zugehört hatte.
"Entschuldigt, ich weiß nicht wieso ich Euch davon erzählt habe. Ich möchte Euch nicht mit Geschichten aus meiner Kindheit belästigen. Es ist nur weil... Ich..." Aerilyn holte tief Luft und wischte eine Träne von ihrer Wange. "Ich vermisse ihn so sehr."
"Ich weiß genau was Ihr fühlt, Aerilyn," sagte Faramir und setzte sich neben sie. Er vermißte auch einen großen Bruder.
"Ihr zwei habt also auch ein wirklich inniges Verhältnis zueinander, ja?" fragte sie.
"Ja, ich würde mein Leben dafür geben, Boromirs zu retten. Und ich bin sicher, er würde das seine für meines geben. Er hat auch versucht, mich vor einigen Bestrafungen zu bewahren, als wir noch Kinder waren. Möchtet Ihr, daß ich Euch davon erzähle?"
"Bitte," sagte Aerilyn und ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. "Ich würde liebend gern ein paar Geschichten aus Eurer Kindheit hören."
"Oh, ich habe eine gute," sagte Faramir nachdem er ein paar Sekunden lang gegrübelt hatte. "Boromir war gerade vierzehn geworden und ich war acht..."
Und so saßen sie zusammen, teilten Erinnerungen aus ihrer Kindheit, und beide mußten ab und zu lachen obwohl sie voller Trauer über den Verlust ihrer Brüdern waren.
