Faramir eilte den Korridor hinunter und schnitt einer Schwester, die ein Tablett trug, gerade noch rechtzeitig den Weg ab, um sie daran zu hindern Boromirs Zimmer zu betreten.

„Guten Morgen", grüßte er sie etwas außer Atem, „Ist das für meinen Bruder?"

„Guten Morgen, Lord Faramir", gab sie höflich aber mit einer in Falten gelegten Stirn zurück, „Ja, Lord Boromir muss etwas essen, er ist sehr schwach."

„Ich werde mich darum kümmern, Sie können sich anderen Patienten zuwenden", erklärte Faramir und nahm ihr das Tablett aus den Händen ohne auf ihre Antwort zu warten.

„Wie Ihr wünscht", sagte sie etwas verwundert und sah zu, wie er in dem Raum verschwand, den ursprünglich sie hatte betreten wollen.

„Hast du gut geschlafen?" fragte Faramir als er in dem hellen Zimmer war und setzte sich auf den Stuhl der direkt neben dem Bett stand, in dem Boromir lag. Der ältere Mann schüttelte nur schwach den Kopf und sah seinen Bruder mit wässrigen Augen an. Ein kleiner, niedergeschlagener Seufzer entfloh Faramirs Kehle als er sah, dass Boromirs Augen das leidenschaftliche Feuer, das normalerweise in ihnen loderte, vollkommen verloren hatten. Nicht das kleinste Funkeln ließ das helle Grün aufleuchten. Faramir fand, dass Boromirs Augen noch nie zuvor so stumpf und leer gewesen waren.

„Ich hoffe du bist hungrig", fügte er hinzu und gab sein Bestes, seiner Stimme etwas Unbeschwertheit zu verleihen um gegen die deprimierende Atmosphäre anzukämpfen, die den Raum beherrschte. Boromir wollte den Kopf noch einmal schütteln, bemerkte dann aber, dass er tatsächlich sehr großen Hunger hatte. Er hatte nur bereits so lange nichts mehr gegessen, dass er schon gar nicht mehr gemerkt hatte, wie hungrig er eigentlich war. Er beobachtete, wie Faramir das Tablett abstellte und sich dann über ihn beugte, seine Hände sanft um den Oberkörper seines Bruders schiebend.

„Du musst dich ein wenig aufsetzen", erklärte er und half Boromir sehr vorsichtig, sich zu bewegen. Trotz der zärtlichen Behutsamkeit, die Faramir hervorbrachte um seinen älteren Bruder in eine bessere Position zu verlagern, fügte er ihm große Schmerzen zu. Boromir protestierte nicht, noch gab er auch nur einen einzigen Laut von sich, aber Faramir kannte ihn gut genug um zu fühlen, dass er ein schmerzerfülltes Aufstöhnen nur mit Mühe zurückhalten konnte.

„Tut mir leid", murmelte Faramir als Boromir mehr oder weniger aufrecht saß, durch mehrere Kissen im Rücken gestützt. Boromir antwortete nicht mit Worten, sah seinen Bruder aber mit einem Ausdruck in den Augen an der Faramir zu Verstehen gab, dass es nichts gab für das er sich entschuldigen musste. Keine Worte wurden gewechselt während Faramir damit begann, seinen verwundeten Bruder mit der Brühe zu versorgen, die er vor wenigen Minuten der Schwester abgenommen hatte. Er spürte, dass Boromirs Hunger groß war, aber die Schmerzen die ihm jeder Schluck bereitete zügelten seine Gier und zerstörten seinen Appetit. Boromirs Bewegungen wurden mit jeder Sekunde langsamer bis er seinen Kopf resigniert zurückfallen ließ und die Lippen geschlossen hielt, den Löffel den Faramir hielt den Einlass in seinen Mund verweigernd.

„Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, dass du satt bist", sagte Faramir als er auf die Suppenschüssel nieder blickte, die immer noch mehr als zur Hälfte mit der nicht übel riechenden Flüssigkeit gefüllt war.

„Es schmerzt", flüsterte Boromir. Die ersten Worte, die er heute gesprochen hatte. Seine Stimme war heiser und kraftlos, die Worte kamen schwach und raspelnd.

„Ich weiß", erwiderte Faramir beinahe so leise wie Boromir und legte eine Hand auf den Unterarm seines Bruders um ihm durch körperlichen Kontakt etwas Trost zu spenden. „Ich weiß, Boromir. Aber du musst etwas essen. Bitte."

Er drückte den Unterarm seines Bruders kurz und liebevoll, fühlte die geschwächten Muskeln unter seinen Fingern zucken, und manövrierte dann den gefüllten Löffel wider vor Boromirs Gesicht.

„Komm schon, mach den Mund auf bevor es kalt wird", befahl Faramir sanft und mit einem sachten Lächeln. Boromir holte tief Luft, anscheinend um erneut zu protestieren, aber Faramir schnitt ihm das Wort ab bevor er etwas sagen konnte.

„Aufmachen, Boromir", wiederholte er, etwas entschlossener diesmal.

„Aye, Sir", erwiderte Boromir und musste lächeln. Die ganze Situation war so unwirklich für ihn, dass er beinahe laut auflachen musste, aber er wagte es nicht da er die Schmerzen fürchtete, die es ihm bereiten würde.

„Ich wette du hättest es dir niemals erträumen lassen, dass ich dich eines Tages einmal füttern würde, oder?" fragte Faramir während er vorsichtig den vollen Löffel in den Mund seines Bruders führte, sein Lächeln breiter werdend.

„Nun ja", sagte Boromir leise nachdem er mit großer Mühe und starken Schmerzen heruntergeschluckt hatte, „du machst nichts mit mir, was ich nicht auch schon einmal mit dir gemacht habe."

„Das ist wahr", stimmte Faramir zu, obwohl er sich natürlich nicht daran erinnern konnte, dass Boromir ihn ab und zu gefüttert hatte als er noch ein Baby gewesen war.

„Noch einen?" fragte er nach einem kurzen, stillen Moment. Boromir schüttelte nur müde den Kopf, seine Augen geschlossen haltend. 

„Bitte, du musst doch wieder zu Kräften kommen. Nur noch einen…"

„Nein, Faramir. Ich kann nicht."

„Aber -"

„Nein", unterbrach Boromir erschöpft, „Es ist nicht nur der Schmerzen wegen. Mir ist schon schlecht."

„Schlecht? Willst du, dass ich die Schwester hole?" fragte Faramir besorgt. Boromir schüttelte erneut den Kopf.

„Das kommt weil ich so lange nichts gegessen habe. Mein Magen muss sich wohl erst wieder an Essen gewöhnen, denke ich."

„Oh", sagte Faramir und stellte die Schüssel ab, „Naja, ich möchte ja nicht, dass dir alles wieder hochkommt. Zumindest nicht, solange ich sozusagen noch in Feuerreichweite sitze."

Boromir konnte ein Kichern nicht unterdrücken und hob seine Hand an die Brust als dort ein scharfer Schmerz explodierte.

„Ich werde dich rechtzeitig warnen, versprochen", erwiderte er, was ein Grinsen auf Faramirs Gesicht auslöste. Sie lächelten sich einige Augenblicke lang wortlos an und Boromirs flaches, mühsames Atmen war das einzige Geräusch, das zu hören war. Plötzlich verschwand das Lächeln auf dem Gesicht des älteren Bruders wieder und machte Platz für einen traurigen, sehr ernsten Gesichtsausdruck, der Faramir das Herz in der Brust schmerzen ließ.

„Ich muss mit dir reden", sagte Boromir, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, aber trotzdem konnte Faramir die Qual und Besorgnis hören, die in der Stimme seines Bruders lagen.

„Faramir, was ich dir jetzt sagen werde darf niemals diesen Raum verlassen", fuhr er fort während Faramir seinen Stuhl noch näher an das Bett rückte. „Ich meine das sehr ernst, kann ich mich auf dich verlassen? Werden deine Lippen versiegelt sein?"

„Du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Egal, was kommt."

„Ja, das weiß ich", sagte Boromir und lächelte schwach.

„Was ist es also, was dir so schwer auf dem Herzen liegt?" fragte Faramir und beobachtete mit großer Beunruhigung das Unbehagen, das sich in den Augen seines Bruders abzeichnete.

„Du weißt es ist möglich, dass ich meinen Verletzungen erliegen werde", begann Boromir. Faramir atmete heftig ein um protestierende Worte hervorzustoßen, aber sein älterer Bruder hob eine Hand und packte ihn bei der Schulter um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Es ist die Wahrheit, du musst dich ihr stellen. Und ich möchte mit dir darüber reden, was kommen wird falls ich sterbe. Wir beide wissen, was geschehen wird falls ich dahinscheide. Mein Tod wird nichts an dem Bündnis ändern, das zwischen Truchsess Ribensis und unserem Vater besteht, und du weißt was das bedeutet."

„Nein, das kann er nicht von mir verlangen", erwiderte Faramir mit leiser Stimme. Er brachte es nicht übers Herz Boromir zu erzählen, dass Denethor bereits versucht hatte, Aerilyn mit ihm zu verheiraten da er überzeugt gewesen war, dass sein erstgeborener Sohn tot war.

„Er wird es tun, Faramir, egal ob es dir gefällt oder nicht. Und du wirst dich ihm beugen. Du wirst vollbringen was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, du wirst in meine Fußstapfen folgen. Ich glaube an dich, kleiner Bruder. Du wirst ein herausragender Truchsess sein. Der beste, den Gondor jemals zu Gesicht bekommen hat, da bin ich mir ganz sicher. Du wirst Aragorn zum König von Gondor krönen, er wird dich als Statthalter behalten. Und du wirst Aerilyn ein guter Ehemann sein, nicht wahr?"

„Das wird nicht nötig sein, denn du wirst leben", sagte Faramir etwas nervös und strich mit seiner Hand über die seines Bruders, die immer noch auf seiner Schulter lag.

„Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht, " sagte Boromir. „Und jetzt hör mir gut zu. Ich muss dir etwas sagen und dich auch um einen sehr großen Gefallen bitten."

„Ich werde alles für dich tun", erwiderte Faramir. „Alles."

„Gut", sagte Boromir, dessen Stimme zunehmend an Kraft verlor. „Ich will, dass du mir ein Versprechen gibst. Versprich mir, dass du Aerilyn stets gerecht und gut behandeln wirst, denn sie ist die Frau die ich in die Tiefen meines Herzens geschlossen habe. Ich glaube, dass sie zu Beginn eurer Heirat etwas schwierig sein wird, aber sie wird lernen deine Eigenschaften zu schätzen. Du musst geduldig mit ihr sein."

„Boromir, meinst du nicht, dass Aerilyn einen Mann heiraten sollte, den sie wahrhaftig liebt? Ich bin sicher, dass das Bündnis zwischen Gondor und Katalla bestehen wird, auch wenn es kein Blutsbündnis geben wird. Aerilyn musste schon so vieles durchstehen, es wäre einfach nicht gerecht sie dazu zu zwingen, mich zu heiraten. Sie verdient es, sich selbst einen Ehemann auszuwählen."

„Da ist noch etwas, was du wissen solltest", flüsterte Boromir erschöpft und schluckte schwer. „Es gibt einen Grund, wieso ich möchte, dass du an ihrer Seite bist. Aerilyn erwartet ein Kind von mir."

Erstaunen flackerte in Faramirs Augen auf und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Boromirs Hand fuhr eilig von seiner Schulter in seinen Nacken, und bevor Faramir auch nur ein einziges Wort hervorbringen konnte wurde sein Kopf ganz dich an Boromirs Gesicht gezogen.

„Ja, dieses Kind wurde gezeugt bevor wir offiziell gebunden werden konnten, aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, Faramir. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen ein Leben gezeugt zu haben, das aus der reinen und ehrlichen Liebe zwischen zwei Menschen resultiert ist, die davon überzeugt waren, dass sie nur wenige Stunden später verheiratet sein würden. Dieses Kind ist die Frucht unserer Zuneigung und es gibt nichts was ich lieber täte als meinen Sohn oder meine Tochter mit aller Hingabe großzuziehen, die ein liebender Vater aufbringen kann. Aber vielleicht werde ich nicht dazu in der Lage sein, vielleicht werde ich schon tot sein bevor man es Aerilyn auch nur ansieht, dass sie ein Kind erwartet. Falls ich also sterben sollte… Bitte nimm Aerilyn zu deiner Frau. Ich bitte dich, Faramir, sag niemandem dass dieses Kind von mir gezeugt wurde und ziehe es groß als ob es dein eigen wäre. Ich möchte nicht, dass sie verstoßen wird weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Und auf gar keinen Fall will ich, dass sie dieses Baby heimlich abtreiben lässt. Verstehst du jetzt, wieso ich möchte, dass du sie im Falle meines Ablebens heiratest? Ich weiß, ich verlange viel von dir. Ich verlange von dir, auf die Möglichkeit zu verzichten eine Frau zu ehelichen die du wahrhaftig liebst, und glaub mir, ich verabscheue mich dafür, dass ich dir das antue. Aerilyn ist nicht die einzige die es verdienen würde, sich an jemanden zu binden den sie sich selbst ausgesucht hat, genau das gleiche gilt auch für dich, Faramir. Ich habe mir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen, aber mir ist keine bessere Lösung eingefallen. Es gibt keine andere Möglichkeit."

Faramir antwortete nicht sofort da er erst einmal die niederschmetternden Neuigkeiten verarbeiten musste. Sein Mund war vollkommen ausgetrocknet und er spürte, wie sein Herz heftig in seiner schmerzenden Brust pochte.

„Wirst du das tun, mein Bruder?" fragte Boromir verzweifelt, „Wirst du dich gut um meine Geliebte und mein Kind kümmern, auch wenn das bedeuten könnte, dass dein Erbe mein Fleisch und Blut sein wird?"

„Ja, mach dir keine Sorgen", sagte Faramir schließlich mit gemischten Gefühlen. „Das Blut, das durch deine Adern fließt ist dasselbe, das durch die meinen geht. Ich werde dein Kind mit der gleichen Hingabe großziehen und lieben, die du aufgebracht hättest. Ich schwöre, dass ich Aerilyn oder das Kind welches du ihr geschenkt hast niemals entehren werde."

„Danke, Faramir", flüsterte Boromir, zog ihn näher und platzierte einen schwachen Kuss auf Faramirs Wange. „Ich danke dir dafür, dass du der beste Bruder und Freund bist, den ich mir wünschen könnte. Du bist eine wahrlich große Ehre für unsere Familie."

„Du bist derjenige, auf den Vater stolz ist", erwiderte Faramir und es war kein Neid in seiner Stimme, nur brüderliche Liebe.

„Und ich bin stolz auf dich", sagte Boromir leise und fuhr sanft mit einer schwachen Hand durch Faramirs Haar. „Keine Worte könnten jemals meine Dankbarkeit für dich ausdrücken. Ich weiß dein Opfer sehr zu schätzen. Ich liebe dich, Faramir. Das habe ich immer getan."

Faramir lächelte traurig, nicht fähig irgendetwas zu erwidern, da seine Verzweiflung über seines Bruders schlechte Verfassung ihn fast erstickte und Boromirs Worte ihn tief berührt hatten. Es schmerzte ihn zu sehen, wie sehr dieses Gespräch seinen Bruder quälte. Es war mehr als schwierig für Boromir darüber zu sprechen, seine Liebe in die Arme eines anderen Mannes zu geben, auch wenn dieser andere Mann sein geliebter Bruder war.

„Und jetzt lass mich bitte alleine, ich bin sehr erschöpft von dem ganzen Gerede", bat Boromir schließlich und schloss seine Augenlider die während ihrer Konversation sehr schwer geworden waren. „Nicht vergessen, kein Wort zu niemandem", fügte er fast schon im Halbschlaf hinzu.

„Ja, sorge dich nicht. Erhole dich schnell, Boromir, " sagte Faramir und strich vorsichtig mit einer Hand durch das Haar seines Bruders. „Ich liebe dich auch."

Boromir war überraschend schnell außer Lebensgefahr, sehr zur Erleichterung seines Bruders, aber sie sprachen nie wieder über die Worte, die sie vor kurzem ausgetauscht hatten. Dennoch dachte Boromir sehr häufig über diese eine Unterhaltung nach und es erfüllte ihn mit Glück und Dankbarkeit, dass das Schicksal ihm einen so liebevollen und zuverlässigen Bruder geschenkt hatte.

„Ich hoffe, du wirst sehr bald schon wieder auf den Beinen sein, mein Sohn", sagte Denethor und riss Boromir aus seinen Gedanken über Faramir. Er blickte mit Besorgnis auf ihn hinab. Boromir erlaubte sich nicht zu glauben, dass die Sorge die in seines Vaters Augen blitzte durch elterliche Liebe ausgelöst wurde. Er wusste weswegen sein Vater so beunruhigt war, noch bevor Denethor es nur Sekunden später aussprach.

„Du musst augenblicklich wieder genesen, Boromir. Du weißt, dass du unser Heer in den Krieg führen musst, und zwar so schnell wie möglich."

„Ja, ich weiß", antwortete Boromir erschöpft, blinzelte langsam und ließ seinen Blick von dem harten Gesicht seines Vaters zu dem nahen Fenster schweifen.

„Vergiss nicht wie wichtig du für unseren Sieg bist. Unsere Soldaten verlieren an Zuversicht, wenn du nicht Seite an Seite mit ihnen in die Schlacht ziehst. Sie brauchen dich. Genauso wie Gondor."

Boromir nickte nur und beobachtete den blauen Himmel und die in Blüte stehenden Bäume, die er von dort wo er lag sehen konnte. Es war immer dasselbe. Immer hatte sein Vater ihm gesagt wie wichtig er für Gondor und das Volk war. Niemals hatte er auch nur ein Wort darüber verloren, dass Boromirs Wohlbefinden auch für ihn persönlich von großer Bedeutung war. Auf die Art und Weise, auf die ein Sohn wichtig für einen Vater war. Einmal mehr musste Boromir sich eingestehen, dass er seine Mutter vermisste, selbst nach den dreißig Jahren, die nun seit ihrem Tode verstrichen waren. Besonders in Momenten wie diesen wünschte er, sie wäre noch am Leben, würde sich auf seine Bettkante setzen und ihn anlächeln, genauso wie sie es getan hatte als er noch ein kleiner Junge und wieder einmal zu übermütig beim Spielen gewesen war und sich verletzt hatte. Niemals hatte sie ihn bestraft oder ausgeschimpft, wahrscheinlich weil Denethor allein ihm mehr als genug Disziplin beibrachte. Finduilas war die liebevollste und sanftmütigste Frau gewesen, die er jemals gekannt hatte, und oft schon hatte er sich gefragt, wie sie ein Leben an Denethors Seite überhaupt ertragen konnte, war sein Wesen dem ihren doch so verschieden. Nicht ein einziges Mal hatte er gesehen oder gehört, wie sie sich beklagt hätte. Im Gegenteil sogar. Oft hatte sie ihm gesagt, dass sie wohl die glücklichste Frau in ganz Mittel-Erde sein müsste, weil Denethor ihr die bezauberndsten Kinder geschenkt hatte, die eine Mutter sich wünschen konnte.

Sie war die einzige Person neben Faramir gewesen, in deren Gegenwart Boromir nicht der starke und tapfere Anführer, Krieger und Erbe des Statthalters sein musste um bedingungslos geliebt zu werden. Der Tag an dem sie starb, war der Schlimmste in seinem ganzen Leben gewesen, und er hatte lange Zeit geweint und getrauert. Das einzig Positive was aus Finduilas Ableben resultiert war, war die Tatsache, dass es Faramir und Boromir nur noch fester zusammenschweißte und die zwei Brüder für alle Ewigkeit unzertrennlich machte. Die Liebe, die sein Bruder für ihn hegte war die reinste und ehrlichste Zuneigung, die Boromir seit dem Tode seiner Mutter widerfahren war, und sein Herz erwiderte ohne Bedingungen dieselben Gefühle für Faramir.

Vielleicht trug Aerilyn ihn aus den gleichen Gründen in ihrem Herzen wie Faramir. Vielleicht liebte sie ihn nicht nur wegen seiner Stellung, Macht und Stärke, sondern für das was übrig blieb, wenn man hinter die raue Fassade des harten Soldaten blickte. Er war sich nicht sicher, er war noch nie gut darin gewesen Gedanken von Frauen zu erraten, aber er erlaubte sich zu träumen und zu hoffen.

„Ich will, dass die Hochzeit in zwei Tagen stattfindet", sagte Denethor plötzlich als wenn er Boromirs Gedanken gelesen hätte.

„So bald?" fragte Boromir.

„Wenn du in einer besseren Verfassung wärest, dann hätte ich alles für heute arrangieren lassen, aber ich fürchte das wäre zu viel für dich gewesen. Trotzdem müssen wir uns damit beeilen.  In zwei Tagen wirst du Lady Aerilyn zu deiner Frau nehmen und am nächsten Tag in die Schlacht ziehen."

„Am nächsten Tag?" erwiderte Boromir und blickte seinem Vater beunruhigt ins Gesicht. „Aber ich werde nicht fähig sein einwandfrei zu kämpfen nach nur so wenigen Tagen der Genesung!"

„Du musst auch nicht einwandfrei kämpfen können!" bellte sein Vater ungeduldig. „Alles was du tun musst ist deine Rüstung anziehen und auf deinem Pferd das Gleichgewicht halten! Kämpfe nicht an der Front mit, halte dich im Hintergrund. Sei einfach nur anwesend und gib den Soldaten Zuversicht, Boromir! Das ist keineswegs zuviel von dir verlangt!"

„Aber trotzdem… Ich brauche Zeit die Kampagnen zu planen, Landkarten zu studieren und die Taktik mit den Offizieren zu diskutieren."

„Das sind Dinge um die du dich sehr wohl kümmern kannst während du durch deine Verletzungen noch ans Bett gefesselt bist."

„Ich fürchte, ich werde etwas mehr Zeit benötigen alles gründlich vorzubereiten…"

„Zeit ist ein Luxus den wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht leisten können, Boromir! Wir müssen schnell handeln und zurückschlagen wenn wir nicht wie Narren dastehen sondern den Respekt und Ruf halten wollen, den wir aufgebaut haben!"

Boromir wollte etwas erwidern, aber sein Vater fiel ihm ins Wort bevor er auch nur die Chance hatte, einen Satz anzufangen.

„Ruh dich jetzt aus. Du schläfst dich diese Nacht besser ordentlich aus, denn morgen werde ich dich mit allem versorgen was du benötigst um den Krieg vorzubereiten. Ich erwarte von dir, dass du so effizient arbeitest wie immer."

„Ich werde tun was ich kann", sagte Boromir, den harten Blick seines Vaters haltend.

„Ich hoffe, das wird genug sein", erwiderte Denethor und verließ dann das Zimmer ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Draußen stieß er beinahe mit Atalar zusammen, der gerade mit hoher Geschwindigkeit um eine der vielen Ecken der langen Flure gebogen kam.

„Verzeihung, Truchsess Denethor, ich habe Euch nicht gesehen", sagte Atalar sofort, obwohl er Boromirs Vater noch nicht einmal berührt hatte.

„Es ist nichts passiert", erwiderte Denethor. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl?"

„Wieso, doch, ich… Mir geht es gut, " stotterte Atalar, ein bisschen verwirrt darüber, dass der Statthalter von Gondor sich für sein Wohlergehen interessierte.

„Was habt Ihr dann in den Häusern der Heilung verloren?"

„Oh, ich wollte Eurem Sohn einen Besuch abstatten", sagte Atalar und errötete leicht unter dem strengen Blick Denethors. Er verfluchte sein schlechtes Timing und hoffte, dass er niemandem mehr in die Arme laufen würde, der ihn kannte. Er wollte nicht, dass jeder über seine Absicht Boromir zu besuchen Bescheid wusste.

„Ach so, " sagte der alte Mann knapp, aber der Ton in seiner Stimme machte klar, dass er nicht gerade glücklich damit war, was Atalar gerade gesagt hatte.

„Er schläft doch nicht, oder? Ich möchte nicht seine Genesung stören, " fügte der junge Mann eilig hinzu.

„Nein, Boromir ist wach. Aber Ihr werdet Euren Besuch trotzdem kurz halten. Verstanden?"

Atalar verspürte den Drang dem Statthalter ins Gesicht zu sagen, dass er nicht bereit war sich von ihm herumkommandieren zu lassen und besuchen konnte, wen er wollte solange er wollte, aber als er sich ins Gedächtnis rief wie sehr sein Vater ihn zurechtgewiesen hatte nachdem er schon einmal so ausfallend Denethor gegenüber gewesen war, biss er sich auf die Unterlippe und nickte nur.

„Einen schönen Tag noch, Lord Atalar", sagte Denethor und ging mit eiligen Schritten davon.

„Danke, gleichfalls", murmelte Atalar obwohl Denethor bereits außer Hörweite war. Er wartete ein paar Minuten bevor er an Boromirs Tür klopfte. Er wollte ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, wenn er noch gerötete Wangen hatte.

„Herein", ertönte eine müde Stimme. Atalar öffnete langsam die Tür und steckte den Kopf hinein.

„Ich hoffe ich störe nicht", sagte er vorsichtig.

„Lord Atalar", sagte Boromir, der offensichtlich sehr überrascht war. „Nein, nein, bitte tretet ein."

Atalar tat was Boromir ihm gesagt hatte und schloss die Tür leise hinter seinem Rücken.

„Wie geht es Euch?" fragte er und näherte sich langsam Boromirs Bett.

„Besser, danke", erwiderte Boromir und fragte sich, was Atalar wollte. Boromir war sicher, dass er nicht nur gekommen war um herauszufinden, wie es seinem zukünftigen Schwager ging. Er beschloss, dass es besser war ihn geradeheraus zu fragen als noch unnötige höfliche Floskeln auszutauschen bevor sie schließlich zu dem kamen, weswegen er tatsächlich hier war.

„Was kann ich für Euch tun?" fragte Boromir und versuchte, seine Stimme freundlich klingen zu lassen.

„Nichts," erwiderte Atalar. „Ich meine, ich…"

„Ja?"

„Ich…" versuchte Atalar es noch einmal und schluckte dann schwer, nicht wissend wie er fortfahren sollte.

„Redet weiter", sagte Boromir etwas ungeduldig. Er runzelte leicht die Stirn als der jüngere Mann anfing in der Tasche seiner Hose zu wühlen. Er holte ein relativ kleines Objekt heraus und hielt es Boromir hin, dessen Augen sich weiteten als er realisierte, was es war.

„Ich dachte, Ihr wollt es sicherlich zurück haben", erklärte Atalar unnötigerweise während Boromir vorsichtig die Kette seiner Mutter aus der Hand des jungen Mannes nahm.

„Sie ist immer noch kaputt, aber Ihr könntet sie reparieren lassen."

„Vielen Dank", sagte Boromir, immer noch nach unten blickend, und drehte den Anhänger in den Fingern als wenn er nicht fassen konnte, dass es wirklich die echte Kette war.

„Gern geschehen", erwiderte Atalar leise.

„Nein, ich meine es wirklich ernst. Ich danke Euch vielmals. Ich kann nicht in Worte fassen, was es mir bedeutet, " sagte er mit einer Stimme, die plötzlich ganz heiser war und zu brechen drohte. Er schloss die Finger um das Amulett als wenn er es nie wieder loslassen wollte und hob den Kopf um Atalar anzusehen, aber zu seiner Überraschung hatte der junge Mann inzwischen das Zimmer verlassen, ohne dass Boromir davon Notiz genommen hatte.

Aerilyn klopfte an die Tür und vernahm nur eine Sekunde später Boromirs Stimme, die sie hereinbat. Sie betrat das Zimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter ihrem Rücken. Ein liebevolles Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab als ihr Blick auf ihren zukünftigen Ehemann fiel.

Boromir war in seinem Bett, doch er saß aufrecht und studierte eine Landkarte. Er hätte sich gar nicht hinlegen können, selbst wenn er es gewollt hätte, denn das gesamte Bett war mit Papierrollen, Karten und Plänen übersät. Faramir und ein Mann den Aerilyn nicht kannte saßen auf Stühlen neben dem Bett während Aragorn gegen die Wand gelehnt direkt neben dem offenen Fenster stand. Sie waren ganz offensichtlich in eine erhitzte Diskussion vertieft gewesen, aber sobald Aerilyn den Raum betreten hatte war ihre Unterhaltung erstorben und alle richteten gleichzeitig ihre Blicke auf sie. Aerilyn spürte, wie sie rot wurde und wollte sich gerade dafür entschuldigen, dass sie gestört hatte und so schnell wie möglich wieder gehen, als Boromir das Wort ergriff.

„Würdet ihr bitte die Dame und mich für einen Moment entschuldigen?" fragte er die anderen Männer ohne seine Augen von Aerilyns Gesicht abzuwenden.

„Ich denke, es wird dir ganz gut tun eine kleine Pause von den Vorbereitungen zu nehmen", sagte Faramir während er sich von dem Stuhl erhob.

„Wir können alle eine kleine Pause gebrauchen", korrigierte Aragorn und durchquerte den Raum um zur Tür zu gelangen. Sein Blick wanderte über Aerilyns Körper während er sich näherte. Einmal mehr bemerkte er, dass sie ein überaus graziler Anblick war, unmissverständlich eine junge Frau von nobler Herkunft, dazu erzogen ihren Platz an der Seite eines mächtigen Mannes einzunehmen, aber sie hatte auch etwas Erfrischendes an ihr. Die überwiegende Mehrheit des Volkes von Gondor war begeistert darüber, sie als die Frau neben ihrem zukünftigen Herrscher willkommen zu heißen. Ein offenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht auf als sich ihre Blicke trafen und sie lächelte strahlend zurück.

„Ich werde euch wissen lassen, wenn ihr wieder hereinkommen könnt", sagte Boromir bevor Aragorn, Faramir und der dritte Mann herausgingen.

„Lasst euch Zeit", erwiderte Faramir und zwinkerte Aerilyn zu, deren Lächeln durch seine Bemerkung noch breiter wurde. Während die drei Männer den Raum eilig und leise verließen, trat Aerilyn näher an das Bett, auf dem Boromir saß.

„Welch eine Freude dich zu sehen", sagte er mit einem fröhlichen Lächeln und legte eine Hand auf ihre Hüfte als sie vor ihm stehen blieb.

„Fühlst du dich besser?" fragte sie, beugte sich herab und küsste Boromir auf die Stirn.

„Jetzt da du bei mir bist, ja", erwiderte er und zog sie näher bis er seinen Kopf gegen ihr verlockendes Dekolleté legen konnte.

„Hör auf mir Honig um den Mund zu schmieren, ich meinte das ernst", sagte sie und fuhr zärtlich mit einer Hand durch sein Haar.

„Ich meinte es auch ernst. Ich fühle mich wirklich besser."

„Zeigst du mir, was du gerade machst?" fragte sie, ihren Blick über all die Dinge schweifen lassend, die auf seinem Bett und dem Tisch verstreut waren, aber bevor er ihr antworten konnte trafen ihre Augen auf etwas anderes, was ihre Aufmerksamkeit erweckte und sie all die Karten und Pläne vergessen ließ.

„Hat Faramir dir die geschenkt?" fragte sie, zog sich aus seiner Umarmung und ging zu dem Tisch auf dem ein kleiner Teller mit lecker aussehenden Süßigkeiten stand.

„Gute Besserung. Von Melina, " las Aerilyn laut vor und schwieg für einen Moment, auf ihre Unterlippe beißend. Dann hob sie ihren Kopf, durchbohrte Boromir mit einem scharfen Blick und fragte: „Wer ist denn Melina?"

Ein Grinsen formte sich auf Boromirs Gesicht.

„Bist du etwa eifersüchtig, meine Liebe?" fragte er neckend.

„Nein, bin ich nicht!" schoss Aerilyn, doch ein verärgertes Blitzen in ihren dunklen Augen bewies, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

„Nein, natürlich nicht", erwiderte Boromir ironisch, sein Lächeln noch breiter werdend. Er war zwar ziemlich geschmeichelt, dass sie auf diese Art reagierte, aber eigentlich empfand er ihre leidenschaftlichen Ausbrüche eher als erschöpfend.

„Na schön, ich gebe zu, ich bin tatsächlich eifersüchtig. Aber ich bin ja nicht grundlos eifersüchtig. Ich finde es nicht sehr angebracht und taktvoll von dir, so kurz vor unserer Hochzeit Geschenke von anderen Frauen anzunehmen."

„Melina ist die Tochter von einem meiner Offiziere", erklärte Boromir.

„Na und?" schnappte Aerilyn. „Trotzdem könnte sie sich in dich verliebt haben. Anscheinend versucht sie ja, deine Zuneigung für sich zu gewinnen."

„Mit Süßigkeiten?" fragte Boromir ungläubig und runzelte die Stirn.

„Warum nicht?" fragte Aerilyn zurück. „Außerdem hat sie die Karte mit roter Tinte geschrieben, falls es dir nicht aufgefallen ist."

„Ich gebe zu, es könnte tatsächlich sein, dass Melina sich ein bisschen in mich verguckt hat", sagte Boromir.

„Siehst du!" platzte es aus Aerilyn bevor er fortfahren konnte und zeigte anschuldigend mit einem Finger auf ihn. „Ich wusste es!"

„Aber Melina ist erst zehn, Aerilyn", sagte Boromir und konnte ein Lachen nicht unterdrücken, als er ihren verdutzten Gesichtsausdruck sah.

„Oh", sagte sie schließlich, ihre Wangen rot anlaufend. Dann musste auch sie lachen.

„Oh nein, es tut mir so leid. Ich fühle mich so dumm…" sagte sie kichernd.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", erwiderte er.

„Darf ich eins?" fragte sie plötzlich.

„Natürlich, nimm dir so viele du möchtest. Ich mag sowieso keine Süßigkeiten."

Er beobachtete, wie sie einen der kleinen, weichen Bällchen zwischen ihren Lippen verschwinden ließ. Ihre Augen weiteten sich und sie seufzte genießerisch als der himmlische Geschmack auf ihrer Zunge explodierte.

„Gut?" wollte er wissen während sie ein zweites in den Mund schob.

Gut?" fragte Aerilyn mit vollem Mund. „Die sind nicht bloß gut. Sie sind wundervoll. Fantastisch. Darf ich noch eins?"

Boromir lachte und nickte sanft. Er sah zu, wie sie noch eins aß, und dann noch eins, und noch eins…

„Was ist?" fragte sie als sie den verblüfften Ausdruck in seinen Augen sah. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich jetzt für zwei essen muss?"

Er lächelte und machte eine kleine Geste, um sie zu sich zu winken.

„Setz dich zu mir, bitte", sagte Boromir und schob schnell ein paar Gegenstände zur Seite um etwas Platz für sie zu machen.

„Mit Vergnügen", erwiderte sie, griff sich ein paar mehr Süßigkeiten und ließ sich dann neben ihrem Zukünftigen auf das Bett nieder. Er kicherte erneut als er ihr ins Gesicht sah und eine Hand hob, um Spuren der Süßigkeiten von ihrem linken Mundwinkel zu reiben. Sie schloss die Augen, drehte den Kopf ein wenig so dass seine Fingerspitze von ihrem Mundwinkel zur Mitte ihrer Lippen wanderte und drückte einen zärtlichen Kuss auf die verhärtete Haut dort. Seine Hand glitt von ihrem Mund zu ihrem zierlichen Nacken und zog sie sanft in seine Richtung. In Erwartung eines richtigen Kusses hielt sie den Atem an und reagierte mit heftiger Überschwänglichkeit als er seine Lippen auf die ihren drückte. Erfreut über ihre leidenschaftliche Erwiderung vertiefte Boromir hastig den Kuss und schmeckte das zuckrige Aroma der Süßigkeiten in ihrem Mund. Als Aerilyn keine Luft mehr bekam löste sie sich von seinem fordernden Mund, was ihn dazu animierte, seine Lippen zu ihrem Hals zu bewegen. Er spürte, wie ihre Finger verspielt durch sein Haar strichen und schloss seine Augen. Als er ihre zarte und weiche Haut mit niemals enden wollenden, kleinen Küssen bedeckte, spürte er ihre Halsschlagader mit beschleunigtem Puls gegen seine Lippen und Zunge pochen.

„Was sind das für Vorbereitungen von denen Faramir gesprochen hat kurz bevor er das Zimmer verließ?" fragte sie plötzlich mit einer leisen, verträumten Stimme. „Ich dachte, die Hochzeitsvorbereitungen sind inzwischen abgeschlossen."

Boromir gefror inmitten seiner Bewegung, sein Mund auf ihrem samtigen Hals verweilend.

„Stimmt etwas nicht?" fragte sie, als sie bemerkte, dass er sich versteifte und seine liebevollen Küsse verklungen waren. Er wich zurück um ihr ins Gesicht blicken zu können und entdeckte pure Verwirrung in ihren dunklen Augen. Boromir seufzte schwer und umrahmte ihr Gesicht mit beiden Händen.

„Das sind keine Hochzeitsvorbereitungen, die wir diskutieren", sagte er sanft und streichelte mit einem Daumen ihre Wange. Er hatte komplett vergessen, dass sie noch gar nichts davon wusste, dass ihre Väter die Absicht hatten gegen das Reich in den Krieg zu ziehen, das mit solch hinterhältigen Intrigen versucht hatte, ihre Allianz zu zerstören.

„Nein?" fragte Aerilyn und die Tonlage ihrer Stimme ließ vermuten, dass sie sich bereits denken konnte, was er ihr gleich sagen würde. Boromir schüttelte langsam den Kopf, eine wortlose Entschuldigung in den Augen.

„Nein", wiederholte er leise und schluckte. Er ließ von ihrem Gesicht ab und nahm ihre Hände, hielt sie mit liebevollem Druck ganz fest. Er wusste nicht, wie er es ihr auf eine vorsichtige, sanfte Art und Weise beibringen konnte, also sagte er es einfach gerade heraus.

„Wir werden bald schon in den Krieg ziehen", erklärte er unverblümt. Aerilyn benötigte ein paar Augenblicke um die Neuigkeiten zu verarbeiten, und dann verschwand die Verwirrung in ihren Augen und machte Platz für Angst und Besorgnis.

„Und du? Was ist mit dir?" fragte sie mit schwacher Stimme.

„Selbstverständlich werde ich mit meinen Männern ziehen."

„Nein!" platzte es aus Aerilyn. Sie zog ihre Hände aus seinem zärtlichen Griff und klammerte sich an Boromirs Hemd, als wenn sie ihn durchschütteln wollte.

„Was erwartest du, Aerilyn? Ich bin der Hauptmann von Gondors Truppen. Ich muss meine Soldaten anführen, ich kann sie doch nicht auf die Schlachtfelder schicken, ohne an ihrer Seite zu sein."

„Aber… aber sieh dich doch an! Deine Wunden… Du bist doch noch gar nicht gesund und…" Aerilyn schloss die Augen und holte tief Luft um sich selbst zu beruhigen. Sie ließ von Boromir ab, legte ihre gefalteten Hände in ihren Schoß und hob dann den Kopf um ihn wieder anzusehen.

„Wann werdet ihr aufbrechen?" fragte sie mit einer mehr oder weniger festen Stimme. Sie gab ihr Bestes, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber es war schwer.

„Einen Tag nach der Hochzeit", sagte Boromir ihr leise. Aerilyn starrte ihn wie vom Donner gerührt an, ihr Mund vor Schock ein wenig geöffnet.

„Es tut mir leid", fügte Boromir hinzu und fühlte sich mehr als unbeholfen als er die Entschuldigung aussprach.

„Es ist ja nicht deine Schuld", sagte Aerilyn schließlich nach einem langen Moment des Schweigens. Ihre Stimme offenbarte, dass sie stark mit den Tränen kämpfte. „Du erfüllst nur deine Pflicht."

„Du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr?" fragte er und hielt ihr Kinn vorsichtig zwischen Daumen und gekrümmten Zeigefinger. „Und dass ich es bevorzugen würde hier bei dir zu bleiben, vor allem die Tage nach unserer Hochzeit. Aber es ist nicht möglich."

„Ich weiß", flüsterte Aerilyn und versuchte ihn anzulächeln, scheiterte aber kläglich. Stattdessen liefen ihr ein paar Tränen aus den Augen und sie verfluchte sich dafür, dass sie so ein weinerlicher Schwächling war, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie war noch nie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu unterdrücken.

„Komm her", murmelte Boromir und zog sie näher um sie an sich zu drücken, sie sanft wiegend und streichelnd.

„Es tut mir so leid, ich will nicht die ganze Zeit immer nur weinen. Es passiert einfach gegen meinen Willen, " wimmerte sie und presste ihr Gesicht gegen seine Brust, ihre Tränen in sein Hemd wischend. Sie schniefte laut um ihre Nase vom Laufen abzuhalten und damit seine saubere, frische Kleidung zu ruinieren. Allein sein Duft füllte ihre Gedanken aus als sie einatmete und für ein paar Sekunden war ihr Geruchssinn verwirrt da er nicht das empfing, wovon er ausgegangen war. Boromir roch nach Seife, Medizin und Verband, ganz anders als er unter normalen Umständen roch. Dank ihrer empfindlichen Nase hätte sie zwar immer noch sagen können, dass es sich um ihn handelte, indem sie mit geschlossenen Augen an ihm gerochen hätte, aber sein vertrauter männlicher Körpergeruch wurde beinahe komplett von dem unangenehmen, medizinischen Geruch überlagert. Das diskret erdige, leicht stählerne Aroma das sonst immer von ihm ausgeströmt war und das Aerilyn zu lieben gelernt hatte war verschwunden.

„Ich werde deine Tränen einfach als Kompliment ansehen, denn ich denke sie beweisen, dass du mich vermissen wirst", sagte Boromir und küsste sie sanft auf den Kopf.

„Ja", schniefte Aerilyn und klammerte sich verzweifelt an seinen Körper. Sie verharrte noch ein paar Augenblicke an ihren zukünftigen Ehemann gekuschelt bis er tief Luft holte und erklärte: „Es tut mir leid, Aerilyn, aber du musst jetzt wieder gehen. Ich muss mich noch um vieles kümmern, was die militärischen Angelegenheiten angeht."

„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" fragte sie und stand auf.

„Nein, danke." Er hob beide Hände und strich die Tränen von ihrem Gesicht. „Tu mir bitte nur den Gefallen und wasch dein Gesicht bevor du gehst. Ich will nicht, dass die Leute deine Tränen sehen und anfangen Gerüchte und erfundene Geschichten zu verbreiten. Ich will nicht, dass sie denken wir hätten uns gestritten oder etwas ähnliches."

Aerilyn nickte verständnisvoll und Boromir gab ihr einen letzten Kuss auf ihre heißen und vor Tränen nassen Lippen. Nachdem sie jeden Hinweis ihres Weinens aus ihrem Gesicht beseitigt und Boromirs Zimmer verlassen hatte, fühlte sie sich so niedergeschlagen dass sie sich sehr stark zusammenreißen musste, nicht sofort wieder in Tränen auszubrechen. Sie musste mit jemandem reden. Jemand, der sie gut kannte, der verstand was in ihrem Herzen und ihrem Kopf vor sich ging und der sie besser trösten konnte als jeder andere. Sie musste mit ihrem Bruder reden, und so machte sie sich auf zu Atalars Gemächern.