*** Huhu Nini, wie schön, dass auch du jetzt diese Geschichte liest!! Fühl dich von mir geknuddelt!! ;-)
Danke auch an alle anderen, die mir noch treu sind! Ich weiß es sehr zu schätzen.***
Legolas überquerte gerade den großen Hof, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er hielt an, drehte sich um und sah Atalar auf ihn zutrotten. Anscheinend war er zu faul um zu rennen, aber zu höflich um gemächlich zu gehen und den Elben lange warten zu lassen.
„Habt Ihr mich gesucht?" fragte Legolas verwundert als Atalar ihn eingeholt hatte.
„Ja, das habe ich. Wohin geht Ihr?" fragte Atalar während sie sich wieder in Bewegung setzten, die Sonne im Rücken.
„Zu den Stallungen. Boromir hat veranlasst, dass ich eines der Pferde bekomme."
„Wirklich? So ein Zufall", sagte Atalar und ein kleines Lächeln huschte über sein blasses Gesicht. „Ich habe nach Euch gesucht weil ich genau deswegen mit Euch reden wollte."
„Ihr wollt mit mir über Pferde reden?" fragte Legolas ein bisschen verwundert und erwiderte das Lächeln. Er war sehr froh, Atalar lächeln zu sehen, auch wenn es nur zaghaft war. Jetzt wo er darüber nachdachte fiel ihm auf, dass er Atalar noch nie zuvor hatte lächeln sehen, ganz zu schweigen von lachen. Er hatte ihn in Wut und Schmerz gesehen, trauernd, weinend und sich selbst umzubringen versuchend, aber noch nie hatte er einen fröhlichen Atalar zu Gesicht bekommen. Er entschied, dass er sich an diesen Anblick durchaus gewöhnen könnte und hoffte, dass er diese Seite des jungen Mannes in Zukunft besser kennen lernen würde.
„Nein… Doch… Naja, nicht direkt", erwiderte Atalar, Legolas aus seinen Gedanken reißend. „Ich würde Euch gerne Tavor überlassen."
„Tavor?" wiederholte Legolas und runzelte fragend die Stirn.
„Inunyens Hengst", erklärte Atalar. „Er heißt Tavor."
Legolas starrte Atalar sprachlos an und schüttelte dann den Kopf.
„So ein Geschenk kann ich nicht annehmen", lehnte er ab, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte und richtete seinen Blick wieder gen Horizont.
„Wieso nicht? Ich würde ihn Euch sehr gerne schenken. Ich weiß, dass ihr ihn sehr gut behandeln werdet. Wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst."
„Aber…" fing Legolas an und seufzte sanft als er sich wieder Atalar zuwandte, um ihn in die Augen sehen zu können.
„Was ist daran falsch?" fragte Atalar etwas ungeduldig.
„Wollt Ihr ihn denn nicht selber behalten?"
„Ich möchte ihn Euch geben, Legolas. Wie oft muss ich es denn noch sagen? Oder wollt Ihr etwa zu Fuß zurück nach Mirkwood gehen?"
„Boromir wird mir ein Pferd überlassen."
„Tavor ist ein schönes Tier, er wird Euch ein treuer Gefährte sein. Er ist stark und sehr, sehr schnell, immerhin ist er doch ein Botenpferd, aber er ist auch sehr sanftmütig. Er wäre perfekt für Euch geeignet. Bitte, Legolas, nun sagt doch schon ja."
„Wenn Ihr es so sehr wollt…" sagte Legolas etwas unbehaglich. Er war sich immer noch unsicher, ob er akzeptieren oder ablehnen sollte.
„Ja, ich will es. Keine Widersprüche mehr", sagte Atalar.
„Na schön… Ich danke Euch. Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
„Lasst uns einfach sagen, dass Ihr mir etwas schuldet," schlug Atalar vor, aber das Glitzern in seinen dunklen Augen verriet Legolas, dass er nur scherzte.
„Schon Pläne für heute?" fragte Legolas enthusiastisch und faltete die Hände hinter seinem Rücken.
„Nein, nicht wirklich. Meine Schwester ist in den Häusern der Heilung bei Boromir." Der eifersüchtige Unterton in Atalars Stimme ließ Legolas' Lächeln etwas breiter werden, aber der Elb gab sein Bestes, es nicht zu offensichtlich zur Schau zu tragen.
„Vielleicht solltet Ihr damit anfangen, andere Freundschaften als die Eurer Schwester zu pflegen, jetzt da sie kurz davor steht zu heiraten", sagte Legolas.
„Ich habe keine anderen Freunde", sagte Atalar und atmete dann ganz plötzlich ein, als wenn ein schneller Gedanke ihm durch den Kopf geschossen wäre.
„Was schlagt ihr denn vor, was wir unternehmen könnten?" fragte er, als er schließlich verstand, was Legolas Absicht gewesen war, und auch sein Lächeln wurde größer. Zum ersten Mal bemerkte Legolas, dass Atalar kleine Grübchen hatte.
„Würdet Ihr mir ein paar Kunststücke mit dem Bogen zeigen?"
„Es wäre mir ein großes Vergnügen," stimmte Legolas zu, sehr zufrieden mit Atalars plötzlichem Energieschub.
„Dann lasst uns die Ausrüstung holen. Wir treffen uns genau hier in, sagen wir, fünfzehn Minuten?"
„Perfekt", erwiderte Legolas und sah dann zu, wie Atalar in die Richtung zurücklief aus der er gekommen war, bevor er selbst den Raum ansteuerte, den Boromir ihm für seinen Aufenthalt in Minas Tirith zugewiesen hatte.
Atalar drückte die Tür zu seinem Zimmer auf und trat eilig ein, immer noch ein kleines Lächeln auf dem Gesicht. Er wollte schnell seinen Bogen, ein paar Pfeile und, nur für den Fall, dass es im Laufe des Tages wieder kühler werden sollte, einen seiner Umhänge holen, damit Legolas nicht auf ihn warten musste. Aus irgendeinem Grund nahm er an, dass der Elb früher zu ihrem Treffpunkt zurückkehren würde als sie abgemacht hatten. Rasch wandte er sich einer Ecke seines recht großen Gemaches zu, in der einige seiner Waffen auf den Boden geworfen lagen – er war schon immer eine unordentliche Person gewesen – doch als sein Blick auf sein Bett fiel, setzte sein Herzschlag einmal aus und er blieb wie versteinert auf der Stelle stehen. Das Bett war frisch überzogen und gemacht. Eines der Dienstmädchen musste es getan haben während er auf der Suche nach Legolas gewesen war. Er spürte Panik in sich aufsteigen. Wenn jemand sein Bett gemacht hatte, musste dieser gewisse jemand sie gefunden haben…
Er stürzte vorwärts, ein zitternder, verzweifelter Atemzug hörbar aus seinen Lungen strömend, und packte das schneeweiße Kissen mit einer nervösen Hand. Er schluckte und hob das Kissen vorsichtig hoch, beinahe nicht wagend, hinzusehen. Sie war fort. Jemand hatte sie gefunden, und nun war sie fort. Ein frustrierter, hoffnungsloser Laut brach aus ihm während er das Kissen wieder auf das Bett schmetterte. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er könnte sich selbst dafür ohrfeigen, so dumm gewesen zu sein. Er hatte doch gewusst, dass dies nicht das beste Versteck dafür gewesen war. Er hatte es gewusst…
„Vermisst du das hier?" ertönte eine dunkle Stimme hinter ihm und ließ Atalar vor Schreck vom Bett zurückweichen. Er wirbelte herum und stand plötzlich seinem Vater gegenüber, der auf der anderen Seite des Raumes in einem Sessel saß. Atalar hatte noch nicht einmal bemerkt, dass noch jemand im Zimmer war, als er es betreten hatte. Der Blick des jungen Mannes senkte sich auf die Hand seines Vaters, und dort war sie, genau zwischen seines Vaters Fingern. Die Strähne roten Haares, die er von Inunyen genommen hatte bevor er ihren leblosen Körper den Flammen überlassen hatte. Anfangs hatte er sie ständig bei sich getragen, aber in letzter Zeit hatte er sie unter seinem Kopfkissen aufbewahrt. Es half ihm, Ruhe und ungestörten Schlaf zu finden. Wahrscheinlich war das nur dummer Aberglaube, aber es funktionierte, und das war alles, was für ihn zählte.
Atalar fühlte, wie er errötete und sein Herz zu rasen begann, als Ribensis' Gesichtsausdruck sich verhärtete und er seine Hand sinken ließ, sehr langsam.
„Sag mir, was hat das zu bedeuten?" wollte der Statthalter wissen. Atalar öffnete den Mund, aber er konnte nicht ein einziges vernünftiges Wort herausbringen und schloss ihn daher wieder ohne irgendetwas gesagt zu haben.
„Was hat das zu bedeuten?!" brüllte sein Vater ihn an, erhob sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Sessel und stand in weniger als einer Sekunde direkt vor seinem erschrockenen Sohn. Atalar fuhr zusammen, als die freie Hand seines Vaters ihm entgegen schoss, ihn am Kragen packte und ihn mit unerwarteter Kraft näher zerrte. Noch immer geschockt von der Situation stolperte Atalar vorwärts und stieß beinahe mit seinem Vater zusammen, dessen Gesicht inzwischen gewaltige Wut offenbarte.
„Ich habe dir eine Frage gestellt!" bellte der Statthalter und zog so schroff an Atalars Kragen, dass dieser fast nicht mehr atmen konnte.
„Ich weiß nicht, was du meinst!" zwängte Atalar hervor und schloss beide Hände um den Unterarm seines Vaters, versuchte, ihn abzuschütteln.
„Wage es nicht, deinem Vater ins Gesicht zu lügen!"
„Du erwürgst mich!" raspelte Atalar heraus, noch immer versuchend, sich freizukämpfen, aber sein Vater war ein äußerst starker Mann, besonders wenn er aufgebracht war.
„Ist dies nicht eine Strähne von Inunyens Haar?!" wollte Ribensis wissen, ohne den Griff seiner Finger zu lockern.
„Vater, bitte! Ich… kann nicht at -"
„Das ist eine simple Frage, Atalar! Hattest du etwas mit Inunyen zu tun?!"
„Ja, es ist ihr Haar!" platzte es aus Atalar. „Es ist ihres…" wiederholte der junge Mann, leiser diesmal.
„Also ist es wahr…" flüsterte sein Vater wie vom Donner gerührt. Sein Griff wurde schwächer und erlaubte Atalar, wieder zu Atem zu kommen. Eine Sekunde lang dachte Atalar, dass er ihn vollkommen loslassen und vielleicht sogar zu weinen anfangen würde, solch eine Verzweiflung offenbarten die dunklen Augen seines Vaters, doch dann wurde der Statthalter erneut von heftiger Wut übermannt und einmal mehr packte er seinen Sohn und presste ihn so kraftvoll gegen die Wand, dass Atalar nicht anders konnte als einen Laut des Unbehagens auszustoßen.
„Ich kann das nicht glauben! Du und dieses korrupte Miststück… Das kann doch nicht wahr sein!"
„Es ist wahr!" schrie Atalar zurück, jetzt selber aufgebracht. „Es ist wahr, du musst es akzeptieren!"
„Niemals werde ich dies akzeptieren! Wie konntest du nur, Atalar?! Du bist der Sohn des Statthalters, wie konntest du dich nur auf sie einlassen?! Sie war nichts als eine gewöhnliche Botin, und jetzt wissen wir, dass sie sogar eine Spionin war, das ist selbstverständlich noch viel schlimmer! Warum hast du dir nicht eine andere für dein Vergnügen ausgesucht?! Es gibt so viele Damen, die durchaus Geschmack an dir finden und die weitaus angemessener für diese Dinge wären!"
„Aber ich habe Inunyen nicht einfach für fleischliches Vergnügen benutzt! Ich habe sie geliebt!"
„Halt deinen Mund, ich will davon nichts hören!" schrie Ribensis entsetzt, und fragte dann ein wenig kontrollierter: „Wie lange ging das schon so?"
„Etwa sechs Jahre," antwortete der junge Mann wahrheitsgemäß und bereitete sich auf einen weiteren Ausbruch seines Vaters vor.
„Sechs Jahre?! Atalar, bist du verrückt?! Was ist bloß in dich gefahren?! Siehst du denn nicht, welche Schande das über unsere Familie bringt?! Dass der einzige Sohn des Statthalters eine Affäre mit der Tochter des hinterlistigsten Feindes unseres Reiches hatte?! Ich bin froh, dass diese Hure tot ist, sonst hätte ich sie mit meinen eigenen Händen exekutiert!"
„Sprich nicht so über sie!" rief Atalar, versuchend, den Schmerz zu verbergen, den die Worte seines Vaters ihm bereiteten. „Inunyen war keine Hure."
„War sie nicht?" fragte Ribensis sarkastisch. „Hat sie denn nicht ihre Beine für dich gespreizt, obwohl sie wusste, dass es falsch war?!"
„Es ist nicht falsch zu lieben," erwiderte Atalar, seine Stimme brüchig und konstant an Stärke verlierend.
„Es ist falsch, sich jemanden wie sie ins Bett zu holen, wenn du der Sohn des Statthalters bist! Stell dir nur einmal vor was es bedeutet hätte, wenn sie einen Sohn zur Welt gebracht hätte, der von dir gezeugt wurde!"
Atalar biss die Zähne zusammen und bemühte sich, die überwältigende Wut zu kontrollieren, die sich in seinem Bauch sammelte. Er hätte versuchen können seinen Vater zu beruhigen indem er im versicherte, dass er Inunyen in all den Jahren nur ein einziges Mal körperlich geliebt hatte und dass aus dieser einzelnen Zusammenkunft kein Kind entstanden war, aber er tat es nicht. Wenn er sich jetzt so verhielt, als ob er seine Taten bereute und sich seiner Gefühle schämte, würde er nicht nur das Andenken der einzigen Frau, die er jemals wahrlich geliebt hatte, in den Dreck ziehen, sondern auch Schande über sich selbst bringen. Anstatt seinem Vater zu sagen, dass Inunyen und er nur sehr selten sexuelle Momente miteinander geteilt hatten, öffnete er seinen Mund und hörte sich selbst sagen:
„Ich wäre stolz gewesen, wenn sie die Mutter meiner Kinder gewesen wäre."
„Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und Inunyen!" fuhr Ribensis ihn an und, bevor Atalar ahnen konnte, was sein Vater vorhatte, warf die rote, weiche Locke in die Flammen des Kamins, der nicht weit von ihnen entfernt war.
„Nein!" brach es aus Atalar und er versuchte, hinterherzustürzen um zu retten, was noch zu retten war, aber sein Vater packte ihn bei den Schultern und schleuderte ihn grob zurück gegen die Wand. Atalar spürte seinen Hinterkopf gegen die harte Steinoberfläche schmettern und für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Einzig und allein die brutalen Hände des Statthalters bewahrten ihn davor, zu Boden zu rutschen.
„Falls ich jemals herausfinden sollte, dass du von Inunyens Identität und ihren Plänen wusstest, ich schwöre dann wirst du in den Kerker geworfen, so wie es bei jedem Verräter der Fall ist!" hörte er seinen Vater poltern, aber obwohl er nur Zentimeter entfernt von ihm war klang es, als wäre er sehr weit weg. „Erwarte keine Gnade, nur weil du mein Sohn bist!"
Der pulsierende Schmerz in Atalars Kopf war so überwältigend, dass ihm übel davon wurde. Er kämpfte heftig gegen die Benommenheit an, die seinen Verstand benebelte, und blinzelte seine Augen nur mit großer Mühe auf.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?!" wollte sein Vater wissen und schüttelte ihn noch einmal, wodurch sein Hinterkopf wieder mit der Wand kollidierte. Atalar stöhnte vor Schmerz auf und versuchte, seinen Vater wegzudrücken, aber er konnte nicht die nötige Kraft dazu aufbringen.
„Lass mich los," flüsterte er erschöpft, seine Stimme vor sowohl körperlichen als auch seelischen Schmerzen zitternd.
„Hast du von ihrem Vorhaben gewusst?!"
„Nein, habe ich nicht."
"Wenn du mich anlügst –"
"Nein, bitte... Ich schwöre, ich wusste es nicht!" eilten die Worte aus Atalars Mund, leichte Panik in seinem Ton. „Du tust mir weh, bitte lass mich los!"
„Ich tue dir weh?!" fragte Ribensis. "Hast du eine Ahnung, wieviel Schmerz deine Schwester in den vergangenen Tagen erfahren musste?! Weißt du, wie sehr deine Inunyen ihr wehgetan hat?!"
Atalar schaffte es nicht etwas zu erwidern und schloss fest seine Augen, sich darauf konzentrierend die Tränen zurückzuhalten, die ihm in die Augen stiegen.
„Antworte deinem Vater!" hörte er Ribenses wie von Sinnen brüllen, und dann traf ihn ein energischer Schlag quer über das Gesicht. Er sagte nichts, verteidigte sich nicht und reagierte auch sonst auf keine Art und Weise auf die Prügel, die folgte. Er ließ es einfach geschehen. Er ließ seinen Vater seine Wut auf seine Kosten abarbeiten, ließ ihn seinen Körper missbrauchen und verletzen. Er wusste, es würde bald wieder vorüber sein und sein Vater würde ihn wieder in Ruhe lassen, ihn mit neuen, frischen Wunden an Körper und Seele zurücklassen. Schließlich war es schon immer so gewesen.
Aerilyn dachte die ganze Zeit über an ihre Unterhaltung mit Boromir während sie auf dem Weg zu dem Gemach ihres Bruders war. Sie fragte sich, ob Atalar von dem bevorstehenden Krieg wusste. Falls er das tat, würde sie wirklich sauer auf ihn sein, da er ihr nichts davon gesagt hatte.
Sie grübelte noch immer über die ganze Situation, und besonders über die Möglichkeit, dass Boromir auf dem Schlachtfeld fallen konnte und niemals sein eigenes Kind sehen würde, während sie den Flur hinabging, der zu Atalars Gemach führte, dass dicht an ihrem eigenen war. Ihre Gedanken wurden erst unterbrochen, als sie eigenartige Geräusche aus dem Zimmer ihres Bruders dringen hörte. Es klang beinahe so, als ob dort drinnen ein Kampf stattfand…
Sie spürte wie ihr Herzschlag schneller wurde als Erinnerungsbilder ihrer Kindheit an ihrem inneren Auge vorbeiglitten, Bilder von einem gebrochenen, verletzten und weinenden Atalar. Ein Klumpen formte sich in ihrem Hals und sie war fast zu ängstlich um herauszufinden, was genau da vor sich ging, aber als sie ihren Bruder vor Schmerzen aufkeuchen hörte, begann sie zu rennen. Schwer atmend stieß sie die Tür mit der Hilfe ihres vollen Gewichtes auf und ließ einen verzweifelten, schmerzerfüllten Laut entweichen als sie realisierte, was vor ihren Augen geschah.
„Nein! Hör auf!" schrie Aerilyn als sie sah, wie ihr Vater wieder und wieder auf ihren Bruder einschlug. Sie setzte sich in Bewegung, aber es war, als wenn sie überhaupt nicht näher kommen würde. Entsetzt wurde sie Zeugin, wie ein weiterer Schlag direkt in Atalars Gesicht traf, dieses Mal ein besonders harter Hieb, und er wurde von der heftigen Wucht zu Boden geworfen. Er fiel sehr unglücklich und seine Stirn schlug gegen die scharfe Kante des massiven Tisches, der in der Nähe stand. Aerilyn konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie sah und hörte, wie sein Kopf auf dem harten Holz aufschlug. Es war eines der furchtbarsten Geräusche, das sie jemals gehört hatte, und sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen als sie mit ansehen musste, wie der Körper ihres Bruders schlaff zu Boden fiel. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und entließen ein par Tränen als sie das rote Blut entdeckte, das an der Ecke des Holztisches klebte.
„Was hast du getan?!" schrie Aerilyn ihren Vater hysterisch an und eilte an Atalars Seite. Vorsichtig rollte sie ihn auf den Rücken und umschloss seinen Kopf mit ihren Händen, sein Gesicht sanft mit zitternden Fingern umrahmend. Sie war erleichtert zu sehen, dass er nicht bewusstlos war, nur ein wenig orientierungslos. Aus der großen Wunde in seiner Stirn quoll recht viel Blut, das die helle Haut seines bleichen Gesichtes hinablief, aber er lebte.
„Atalar..." flüsterte Aerilyn und lächelte schwach, zärtlich über seine Wange streichelnd. Er hob eine Hand, anscheinend um auch ihr Gesicht zu berühren, doch bevor er sie erreichen konnte, packte ihr Vater Aerilyns Arm und zerrte sie grob wieder auf ihre Füße.
„Bleib aus dem Weg!" zischte Ribensis aufgebracht und versuchte, Aerilyn zur Seite zu schleudern, aber sie brachte ihre gesamte Kraft auf um ihr Gleichgewicht zu halten, riss sich frei von dem Griff ihres Vaters und stellte sich wieder zwischen ihn und Atalar.
„Wenn du deinen eigenen Sohn zu Tode prügeln willst, musst du erst mich schlagen!" sagte Aerilyn und baute sich in dem verzweifelten Versuch, ihren Bruder zu beschützen, vor ihrem Vater auf. Sie bemühte sich, stark und entschlossen zu klingen, aber ihre Stimme zitterte, offenbarte ihre Furcht. Ihre Augen weiteten sich vor Ungläubigkeit als sie sah, wie ihr Vater seine Hand erhob, doch bevor sie vollkommen realisierte, dass er es wirklich tun würde, und die Möglichkeit hatte sich zu ducken, ohrfeigte er sie. Hart. Die Welt hielt für einen Moment inne, als der Schlag ihren Kopf zur Seite fliegen ließ und der intensive Schmerz ihr den Atem raubte. Es fühlte sich fast wie in Zeitlupe an, als ihr ganzer Körper von der heftigen Wucht der Ohrfeige zur Seite gerissen wurde, und plötzlich fand sie sich selbst auf dem Boden wieder, auf der Vorderseite liegend, genau neben ihrem Bruder.
Noch nie zuvor hatte ihr Vater sie geschlagen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er es jetzt tun würde, und nun war sie für ein paar Sekunden von dem Schock gelähmt. Sie starrte in Atalars von blauen Flecken übersätes Gesicht, das jetzt auf der gleichen Höhe war wie das ihre. Sie beobachtete, wie das Blut in dünnen Linien von seiner Stirn über sein gesamtes Gesicht bis zu seinem Kinn rann, wo sich rote Tropfen formten und zu Boden fielen, beinahe wie Tränen. Sie sah, wie seine Nasenflügel vor Wut bebten, und sie sah den intensiven Schmerz und Zorn in seinen Augen. Es brach ihr das Herz, in so zu sehen. Sie wollte ihn trösten, ihn umarmen und ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte. Langsam hob sie eine Hand, um sanft das Blut von seinen zitternden Lippen zu wischen, aber bevor sie sein Gesicht berühren konnte wurde ihr Handgelenk von einer kräftigen Hand eingefangen und wieder wurde sie hochgezogen. Fort von ihrem geliebten Bruder. Aerilyn schrie vor Schmerz auf und versuchte zu entkommen, aber ihr Vater war natürlich zu stark.
„Wage es nicht, dich mir zu widersetzen!" brüllte er sie an und schüttelte sie so heftig, dass sie schmerzerfüllt wimmerte.
„Lass die Hände von ihr!" hörte Aerilyn ihren Bruder direkt neben sich schreien. Er musste innerhalb von Sekunden wieder auf die Beine gekommen sein, sobald Ribensis sie hochgezerrt hatte.
„Halt deinen Mund bevor ich mich vergesse!" wütete ihr Vater außer sich.
„Ich sagte, lass die Hände von ihr!" wiederholte Atalar, die Worte als wutentbrannte Drohung herauskommend.
„Was denkst du, wer du bist, dass du so mit mir reden kannst?!" erwiderte sein Vater, mindestens so wütend, wie Atalar es war. „Du bist noch immer die aufsässige Göre, die du schon als kleiner Junge warst!"
„Und du bist noch immer der aggressive, hartherzige Mann, dem es an väterlicher Liebe für seine Kinder fehlt!"
„Hört auf damit, bitte!" flehte Aerilyn, Tränen ihr Gesicht hinabströmend, aber keiner der beiden streitenden Männer schenkte ihr Beachtung.
„Ich verstehe nicht, wie ich jemals jemanden wie dich zeugen konnte!" bellte Ribensis wutentbrannt.
„Vielleicht hast du das gar nicht!" schoss Atalar zurück. „Falls du Mutter genauso schlecht behandelt hast wie du es mit Aerilyn und mir tust, würde es mich nicht überraschen, wenn wir beide von einem Mann gezeugt wurden, in dessen Arme du sie mit deinem unausstehlichen Benehmen getrieben hast!"
„Jetzt reicht es! Du…!" zischte Ribensis, seine Stimme vor Wut bebend, „Wie kannst du es wagen?! Du bist eine Schande für unsere Familie! Ich schäme mich, dein Vater zu sein!"
"Ich schäme mich nicht nur, dein Sohn zu sein, es widert mich an! Ich bin angeekelt davon, dein Blut in meinem Körper zu tragen!"
Atalar hatte noch nicht einmal alles laut ausgesprochen, was er seinem Vater an den Kopf werfen wollte, als Ribensis abrupt von Aerilyns Arm abließ und, anstatt seine Tochter weiterhin festzuhalten, seinen Handrücken mit einer sehr starken und schnellen Bewegung über Atalars blutendes Gesicht schmetterte. Aerilyn zuckte mit einem leisen, ängstlichen Schrei zusammen und erwartete, dass ihr Bruder erneut zu Boden fallen würde, doch dieses Mal war er vorbereitet gewesen und blieb auf den Beinen. Und dann geschah es. Ohne darüber nachzudenken erhob Atalar die Hand gegen seinen eigenen Vater und schlug das erste Mal in seinem Leben zurück.
Ribensis reagierte kaum auf den unerwarteten Widerstand, eher weil er vor Erstaunen gelähmt war als wegen des Schmerzes des plötzlichen Schlages. Bevor der Statthalter seine Motorik wiederfand, flog Atalars Faust erneut in sein Gesicht, und dieses Mal war mehr Druck hinter dem Schlag. Mit einem geschockten und gequälten Aufkeuchen wich Ribensis zurück, der brennende Schmerz in seinem linken Wangenknochen pochend.
„Wenn du meiner Schwester auch nur ein weiteres Haar krümmen solltest, bringe ich dich um!" schrie Atalar außer sich vor Wut und wollte einen weiteren Schlag platzieren, völlig gefangen in dem Hass und Zorn, der über all die Jahre tief in ihm versteckt herangewachsen war, aber Aerilyn hielt ihn auf indem sie seine Arme ergriff.
„Bitte, nicht," flüsterte sie angsterfüllt. Atalar blickte zu ihr nieder, schwer atmend und mit Augen, die voller Hass für ihren Vater waren.
„Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen? Deinen eigenen Vater..." sagte Ribensis leise, anscheinend noch immer völlig geschockt. Atalar hob den Kopf um ihn erneut anzublicken, während Aerilyn sich noch immer mit beiden Händen an einen seiner Arme klammerte.
„Du warst es doch, der mir beigebracht hat, dass es ein Leichtes ist seine engsten Verwandten zu verprügeln, sein eigen Fleisch und Blut. Oder warst nicht du es, der mich all die Jahre misshandelt hat, der meine Kindheit mit diesem kranken Verhalten vergiftet hat?"
Der Blick seines Vaters, dunkel und böse vor Wut, schien ihn zu durchbohren, direkt bis in sein schmerzendes Herz.
„Das wirst du bereuen, Atalar. Das hier wird einen tragischen Ausgang für dich haben, da kannst du dir sicher sein," sagte Ribensis, der Ton seiner Stimme ruhig, aber bedrohlich.
„Ich habe keine Angst vor dir. Ich bin kein kleiner Junge mehr, den du herumschubsen kannst," erwiderte Atalar, den starren Blick seines Vaters mit lodernden Augen und zusammengebissenen Zähnen haltend. Vater und Sohn starrten sich für einen quälenden Augenblick an, der allen wie eine Ewigkeit vorkam. Schließlich erhob Ribensis seine Stimme für einen letzten Satz.
„Ich wünschte, du wärest niemals geboren worden," sagte er, seine Stimme so kalt wie Eis, und verließ dann eilig den Raum.
Aerilyn wollte etwas sagen, aber anstelle von ordentlichen Worten kam nur ein merkwürdiges Geräusch aus ihrem Mund, eine seltsame Kombination aus einem erstickten Schluchzen und einem verzweifelten Gurgeln, und als Atalar sie in eine feste Umarmung zog, klammerte sie sich heftig an ihn während ihr Körper anfing, stark zu zittern. Atalar hielt sie eng an sich gedrückt und wiegte sie in dem erfolglosen Versuch, sie zu beruhigen, sanft in seinen Armen.
„Komm, du legst dich besser hin," flüsterte er und führte sie zu seinem Bett, jedoch nicht bevor er die Tür zu seinem Gemach abgeschlossen hatte. Als sie schließlich auf ihrer Seite lag, die weiche Decke unter ihr, legte Atalar sich mit einem leisen Seufzen hinter sie, nachdem er eine Ecke der Bettwäsche benutzt hatte, um den Großteil des Blutes von seinem Gesicht zu wischen.
„Es tut mir leid," sagte er, seine Finger mit lockigen Strähnen ihren Haares spielend.
„Was tut dir leid?" fragte sie mit einer matten Stimme. Sie drehte sich nicht um sondern blieb mit dem Rücken zu ihm liegen. Sie konnte es nicht ertragen, in sein geprügeltes Gesicht zu sehen, in seine traurigen Augen.
„Es tut mir so leid, dass ich dich nicht beschützen konnte. Ich habe es nicht geschafft ihn davon abzuhalten, dich zu schlagen."
„Entschuldige dich nicht, Atalar, bitte. Du hast so viel für mich getan. Ich weiß nicht, wie ich es jemals ohne dich ausgehalten hätte. Ich bin so dankbar, dich als Bruder zu haben."
„An dem Tag, als du geboren wurdest, war ich erst sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen," erzählte Atalar ihr, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Er hat mich geprügelt, bis ich keine Kraft mehr zum Schreien hatte. In dem Moment hatte ich geglaubt, er würde mich umbringen. Er ließ nur von mir ab, weil einer der Bediensteten die Neuigkeiten brachte, dass Mutter in den Wehen lag. Ein paar Stunden später wurdest du geboren, und noch etwas später, am Abend, durfte ich dich sehen. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Dort war ich, mit all diesen frischen blauen Flecken, überall kleine Wunden und Schorf, ein verstauchtes Handgelenk… und du warst so… so perfekt. Vollkommen unversehrt. Einfach wunderschön und so unschuldig, noch nichts von der Grausamkeit ahnend, die die Welt beherrscht. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich mein Bestes geben würde um diese Grausamkeit für dich zu bekämpfen und dich zu beschützen. Ich wollte deine frische und sorglose Schönheit bewahren."
Aerilyn presste ihre Lippen zusammen, um ein leises, trauriges Geräusch zu unterdrücken, während stille Tränen ihren Augen entflohen, obwohl sie fest geschlossen waren.
„Unser Vater hat bereits mein Leben ruiniert, ich konnte nicht zulassen, dass er dir das gleiche antut. Und ich werde es auch jetzt nicht zulassen. Das verspreche ich dir."
Sie wollte etwas erwidern, aber ihre Worte wurden von einem Schluchzen erstickt, das sie nicht länger zurückhalten konnte. Sie hob eine Hand zu ihren Augen und rieb energisch die Tränen weg, so als ob sie auch die Traurigkeit und den Schmerz davonreiben könnte. Aber es machte alles nur noch schlimmer, und je stärker sie versuchte gegen ihre Gefühle anzukämpfen, desto mehr Tränen vergoss sie.
„Weine nicht, Lyn," flüsterte Atalar und umarmte sie von hinten mit einem Arm. Er rückte näher, bis seine komplette Vorderseite sanft gegen ihre Rückseite gedrückt war. Sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken, seine streichelnde Hand auf ihrem Bauch, seine kräftigen Herzschläge gegen ihren Rücken. Sie fühlte sich geborgen und geliebt, und doch schmerzte ihr Herz sehr.
„Alles wird wieder gut," fügte Atalar hinzu, seine Schwester behutsam tröstend.
„Woher willst du das wissen?" fragte sie leise und schniefte.
„Du wirst schon sehen, meine Kleine. Boromir wird sich schnell wieder erholen, er ist einer der kräftigsten Männer, die ich gesehen habe. Und wenn er erst einmal wieder gesund ist, wirst du ihn heiraten, und ihr werdet bis an euer Lebensende glücklich miteinander leben."
Trotz des großen Leides, das über sie herrschte, musste Aerilyn kichern und drehte sich in der Umarmung ihres Bruders herum um ihn anzusehen. Als sie seine traurigen Augen sah, verblasste ihr zaghaftes Lächeln wieder und sie hob eine Hand, um sie auf seine farblose Wange zu legen.
„Und du?" fragte sie und seufzte schwer.
„Was soll mit mir sein?"
„Ich möchte, dass auch du glücklich bist."
Er lächelte und neigte leicht den Kopf, so dass seine Stirn die ihre berührte, Spuren frischen Blutes auf ihrer glatten Haut hinterlassend.
„Es ist genug Glück für mich, wenn ich weiß, dass es dir gut geht," flüsterte er.
„Nein, das ist es nicht," widersprach Aerilyn und schluckte schwer bevor sie ihn bat, „Bleib mit mir in Gondor."
„Was?" fragte Atalar und musste beinahe über ihren Vorschlag lachen.
„Bitte, Atalar. Ich bin sicher, Boromir würde alles für deinen dauerhaften Aufenthalt arrangieren lassen."
„Ich glaube nicht, dass er das tun würde."
„Wieso nicht? Ich werde ihn schon nicht darum bitten, ein zusätzliches Bett für dich in unser Schlafzimmer zu stellen."
Atalar musste erneut lächeln.
„Weißt du noch, was wir immer zueinander gesagt haben?" fragte sie und biss sich auf die Unterlippe.
„Dass wir zusammenhalten werden."
„Genau," sagte Aerilyn, „Und ich will nicht, dass du mit unserem Vater wieder zurückgehst. Ich habe solche Angst, dass er dir etwas antun wird. Etwas Schlimmeres, als einen Schlag ins Gesicht."
„Das wird er nicht," sagte Atalar und zog sie noch näher an sich, auch noch seinen zweiten Arm um sie legend. Sie schmiegte sich verzweifelt an ihn, drückte ihr Gesicht gegen seinen warmen Körper.
„Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren," flüsterte sie, ihre Worte durch seine Kleidung gedämpft, während die Tränen wieder zu rollen begannen. „Ich hab dich so lieb."
„Ich hab dich auch lieb, meine kleine Lyn," erwiderte er und ließ seine Finger zärtlich durch ihr Haar gleiten.
„Verlass mich nicht."
„Aber Boromir wird sich von nun an um dich kümmern. Du wirst mich nicht mehr brauchen."
„Boromir ist nicht mein Bruder," gab sie zu Bedenken. „Ich werde dich immer brauchen. Kein Ehemann könnte dich ersetzen und mir geben, was du und ich miteinander teilen."
„Was ist mit Faramir? Ich dachte, du magst ihn sehr, ähnlich wie einen Bruder."
"Ja, aber das ist doch nicht das gleiche. Ich will niemanden außer dich."
Er spürte sein Herz vor Freude überquellen, als er ihre Worte vernahm. Er war gerührt, dass sie wollte, dass er blieb, und es fühlte sich so gut an, von seiner Schwester gebraucht und geliebt zu werden. Er hielt sie fest und fuhr fort, mit ihrem weichen Haar zu spielen, während er seine andere Hand benutzte, um ihren Rücken zu reiben und ihren Nacken zu kraulen. Das hatte sie schon immer gemocht, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.
„Atalar?" fragte sie nach ein paar stillen Augenblicken.
„Ja, meine Kleine?"
„Darf ich heute Nacht bei dir bleiben?"
„Aber es ist doch noch nicht einmal Mittag, Lyn," sagte Atalar schwach lächelnd.
„Ich weiß, aber ich dachte ich könnte schon einmal fragen."
„Du musst nicht fragen," erwiderte er. „Natürlich darfst du bleiben."
Bevor sie etwas entgegnen konnte, klopfte es an der Tür. Atalar spürte, wie Aerilyns Körper sich in seiner Umarmung anspannte. Er küsste ihren Kopf und wollte aus dem Bett klettern, aber sie klammerte sich fest an ihn und schüttelte den Kopf.
„Mach nicht die Tür auf," flüsterte sie ängstlich.
„Er wird es nicht sein," versuchte Atalar, sie zu beruhigen. „Er kommt niemals zurück, nachdem er…" Seine Stimme verlor sich und er schluckte nervös. Dann klopfte es noch einmal, lauter diesmal.
„Er wird es nicht sein," sagte Atalar noch einmal und erhob sich, um die Tür zu öffnen. Und in der Tat war es nicht ihr Vater, sondern eine besorgt aussehende Schwester von den Häusern der Heilung. Atalar hatte sie schon einmal gesehen, gleich nachdem sie von ihrer Verfolgung zurückgekommen waren.
„Statthalter Ribensis schickt mich," erklärte sie ruhig, die Wunde auf Atalars Stirn beäugend. "Er sagte mir, Ihr seid gestürzt."
Atalar schnaubte abfällig und leise auf.
„Ja," sagte er dann flach, „ich bin gestürzt."
„Nun, würdet Ihr mich dann eintreten und einen Blick auf Eure Verletzung werfen lassen?"
„Natürlich. Bitte kommt herein."
Während die Krankenschwester sich um die Wunde kümmerte, blieb Aerilyn im Bett ihres Bruders liegen und starrte schweigend auf die Blutflecken, die auf der unschuldig weißen Bettwäsche zu trocknen begannen.
„Ich fürchte, Ihr benötigt ein paar Stiche," hörte sie die Schwester sagen, während diese die Platzwunde vorsichtig säuberte.
„Muss ich dafür zu den Häusern der Heilung gehen?" fragte Atalar leise zurück, so als ob er dachte, dass Aerilyn schlafen würde und er sie nicht wecken wollte.
„Nein, wenn Ihr wollt, kann ich es hier machen."
„Danke," erwiderte Atalar und dann wurden keine Worte mehr gewechselt bis sie fertig war und er sie zurück zur Tür brachte.
„Falls Ihr noch schlimmere Kopfschmerzen bekommt, oder die Wunde Euch andere Probleme bereitet, wisst Ihr, wo Ihr mich finden könnt," sagte sie.
„Ja, vielen Dank noch mal," sagte Atalar und sah ihr nach, wie sie den Flur hinabging. Als er sich zurück zu seinem Zimmer drehte und die Tür schließen wollte, hörte er, wie sie jemanden auf dem Korridor grüßte, und dann eine vertraute Stimme, die den Gruß höflich erwiderte. Legolas! Er hatte ihn völlig vergessen… Bevor er sich entscheiden konnte, was er tun sollte – entweder die Tür schließen und so tun, als wäre er nicht da, oder Legolas vor die Augen treten und ihm die Wahrheit sagen – erreichte der Elb sein Gemach und blieb genau hinter Atalar stehen, der noch immer seinen Rücken zum Flur gewandt hatte.
„Seid Ihr beschäftigt?" fragte Legolas. „Ich warte schon recht lange und dachte, ich könnte vorbeischauen und nachsehen, was Ihr so -" Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als Atalar sich umdrehte und dem Elb sein Gesicht zeigte.
„Atalar..." stammelte Legolas und bemühte sich, nicht ganz so geschockt auszusehen, wie er tatsächlich war. „Was ist geschehen?"
„Ich... bin gestürzt," hörte Atalar sich murmeln, Legolas' besorgtem Blick ausweichend.
„Ihr seid gestürzt?" echote Legolas ungläubig.
„Ja. Auf eine äußerst unglückliche Art und Weise. Ich bin mit der Stirn genau auf die Ecke des Tisches aufgeschlagen."
„Und weil Ihr mit der Stirn auf die Tischkante geschlagen seid, habt Ihr all diese Blutergüsse und Schwellungen in Eurem gesamten Gesicht? Und Eure Lippe ist davon aufgesprungen? Davon, dass Ihr Eure Stirn an der Tischkante aufgeschlagen habt?" fragte Legolas sanft. Atalar blickte auf, in Legolas' Augen, Tränen in seine eigenen steigend. Er schämte sich so sehr, obgleich er wusste, dass dies alles nicht seine Schuld war.
„Ja," sagte Atalar stur, aber er konnte nicht verhindern, dass eine einzelne Träne seine Wange hinablief.
„Passiert das oft?" wollte Legolas wissen.
„Ich denke, Ihr geht jetzt besser und sucht Euch jemand anderes, dem Ihr Eure Kunststücke beibringen könnt," schlug Atalar vor, Legolas' Frage ignorierend.
„Ihr wisst, dass dies nicht richtig ist, nicht wahr?" sagte der Elb. „Niemand hat das Recht, Euch das anzutun. Noch nicht einmal Euer Vater."
„Das ist nicht Eure Angelegenheit, bitte geht jetzt," sagte Atalar mit einer gedämpften Stimme und schloss die Tür vor Legolas' Nase, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
„Wer war das?" fragte Aerilyn als Atalar zurück zu ihr kam und sich wieder hinlegte, sie sanft in die Arme schließend.
„Niemand," flüsterte Atalar und schloss die Augen. Für ein paar Momente lagen sie einfach da und sprachen nicht, aber schließlich konnte Aerilyn die Frage nicht länger zurückhalten.
„Was ist passiert, Atalar? Warum hat Vater das getan?" fragte sie sehr leise. Er antwortete nicht sofort, erzählte ihr dann aber alles. Als er begonnen hatte, sein Geheimnis preiszugeben, konnte er nicht mehr aufhören zu reden und entfaltete seine gesamte Lebenslüge vor ihr, sich nicht darum kümmernd, was sie denken oder sagen würde, ob sie ihn hassen würde, wenn sie endlich die Wahrheit wusste. Als er fertig war, drehte Aerilyn sich wieder herum und sah ihn für einen langen Moment an, in ihren Augen ehrliches Mitgefühl.
„Du hast sie wirklich geliebt, nicht wahr?" flüsterte sie und glitt sanft mit ihren Fingern durch sein dunkles Haar, ein paar kurze Locken aus seiner Stirn streichend.
„Ja," erwiderte er knapp und schlug die Lider nieder, um seinen Schmerz zu verbergen. Aerilyn wusste nichts zu erwidern, ihr fielen keine Worte ein, die angemessen gewesen wären. Normalerweise war es Atalar, der sie trösten musste, und nicht andersherum. Die derzeitige Situation war ungewohnt, aber Aerilyn war froh, dass sie endlich auch einmal etwas für ihn tun konnte, nach all den Jahren, in denen er sich um sie gekümmert hatte. Sie rückte näher an ihn heran und umarmte ihn fest.
„Wenn du noch reden möchtest, über dies oder irgendetwas anderes…" sagte Aerilyn und seufzte tief. „Ich möchte nur, dass du weißt, ich werde zuhören, egal was du erzählen möchtest. Ich werde dich immer lieben."
Er nickte schwach, sein heißer Atem gegen ihre empfindliche Haut schlagend. Sie fühlte, dass er kurz davor war zu weinen. Zärtlich vergrub sie eine Hand in seinem kurzen Haar um seinen Kopf gegen ihren Körper zu halten.
„Bitte glaub mir, ich wusste es nicht," flüsterte er gegen ihre warme Haut. „Niemals hätte ich es ihr erlaubt, dir wehzutun. Ich habe es nicht gewusst. Ich habe es nicht gemerkt."
„Es ist in Ordnung, Atalar. Mach dich nicht dafür verantwortlich, bitte."
„Aber ich verstehe nicht, wieso mir nichts aufgefallen ist… irgendetwas. Ich fühle mich so schuldig. Ich bin verwirrt… Ich liebe sie noch immer, obwohl ich weiß, was sie dir angetan hat und was sie auch mir antun wollte. Wie kann ich eine Frau lieben, die befahl, einen Anschlag auf dich auszuüben und die versuchte, mich zu erstechen? Und wie konnte ich nur so blind sein? Ich war ihr so nahe, und doch habe ich nichts von ihrer wahren Identität bemerkt. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte."
Schon bald spürte sie die Feuchtigkeit seiner stillen Tränen über ihre eigene Haut kriechen, und sie festigte ihre Umarmung um ihm zu zeigen, dass sie für ihn da war. Genauso, wie er immer für sie da gewesen war, in ihrer Vergangenheit. Sie mussten eine kleine Ewigkeit so zusammen gelegen haben, doch schließlich schliefen sie beide ein, aneinandergeschmiegt in einer Umarmung liebevoller Geschwister, obwohl es noch nicht einmal Mittag war.
