Aerilyn stand vor der Tür zu Boromirs Zimmer in den Häusern der Heilung, ihr Herz wie wild klopfend.
Es war schon spät am Abend und sie war sich sicher, dass Boromir sich bereits fragte, warum sie ihn nicht am Tag besucht hatte. Sie hatte ihn als letztes am Morgen gesehen, und dann, nach dem furchtbaren Zwischenfall mit ihrem Vater, hatte sie für Stunden in Atalars Bett geschlafen. Noch nie zuvor hatte sie sich so erschöpft gefühlt, es war so als ob ihr Körper nun nach dem Schlaf verlangte, der ihm während der letzten Tage verwehrt worden war. Es war ein erstaunlich tiefer und traumloser Schlaf gewesen, wahrscheinlich weil ihr Bruder direkt neben ihr geschlummert und seine wärmende Anwesenheit sie sehr beruhigt hatte.
Aber jetzt war sie überhaupt nicht mehr ruhig. Sie stand nun schon seit mehreren Minuten hier, ihre nervöse Hand auf dem Türknopf liegend. Sie wusste, dass sie Boromir früher oder später gegenübertreten musste, und je länger sie wartete, desto elender fühlte sie sich. Zögernd festigte Aerilyn ihren Griff um den Türknauf und holte tief Luft.
Nein, nein! schrie eine Stimme in ihrem Innern. Du kannst ihm doch so nicht gegenübertreten!
Wenn sie doch nur wüsste, wie er reagieren würde… Sie hatte Angst. Nicht vor seiner Reaktion ihr gegenüber, immerhin war sie auch nicht diejenige, die Schuld daran trug, wie ihr Gesicht gerade aussah, aber sie fürchtete die Wut, die Boromir wahrscheinlich sofort ihrem Vater gegenüber entwickeln würde. Das letzte, was sie wollte und brauchte, war ein Streit zwischen ihrem Verlobten und ihrem Vater, einen Tag vor ihrer Hochzeit.
Aber wenn er es nicht heute sieht, wird er es morgen sehen, überlegte sie und bemühte sich, den Drang einfach wegzulaufen zu ignorieren. Nachdem sie zu dem Entschluss gekommen war, dass es höchstwahrscheinlich in einer Katastrophe enden würde, wenn Boromir erst in dem Augenblick, in dem sie Ringe und Treueschwüre austauschen sollten, von ihrem Zustand erfuhr, schluckte sie schwer und öffnete so leise wie möglich die Tür.
Boromir saß im Schneidersitz auf seinem Bett, eine gewaltige Landkarte auf dem Schoß und eine große Feder in der Hand. Ein kleines Tintenfässchen stand direkt neben ihm und sie beobachtete stumm, wie er die Feder hineintauchte und ein paar Punkte auf der Karte markierte, sein ansehnliches Gesicht voller Konzentration. Sie musste ziemlich viel Selbstkontrolle aufbringen, um nicht einfach wieder kehrt zu machen und ihn weiterhin seinen Planungen und Vorbereitungen zu überlassen. Anstatt davonzulaufen, schloss sie leise die Tür hinter sich und näherte sich ihrem zukünftigen Ehemann mit weichen Knien und einem Kloß im Hals.
„Guten Abend, Boromir", sagte sie. Ihre Stimme ließ sie im Stich und kam in einer wackeligen Tonlage heraus, die ihr Unbehagen verriet. Sein Kopf schnellte hoch während sie näher trat, und das kleine Lächeln, das angefangen hatte sich auf seinem Gesicht auszubreiten sobald er sie entdeckt hatte, erstarrte in der Sekunde, in der sein Blick ihr Gesicht erreichte. Sie blieb vor ihm stehen, die Finger ihrer ineinander verhakten Hände nervös miteinander spielend. Sie sah ihn nicht an, sie konnte es einfach nicht, aber sie spürte ganz deutlich seine intensiven Augen auf ihr. Er starrte sie für einige totenstille Momente an, bis die Lähmung des Schocks verebbte und er seine Sprache wieder fand.
„Aerilyn, was ist geschehen?" fragte er, seine Stimme überraschend sanft und leise, und streckte eine Hand nach ihrem Gesicht aus, zärtlich seine Fingerspitzen über die unversehrte Wange laufen lassend und sie dazu bringend, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Wer hat dir das angetan?"
Sie antwortete nicht sondern senkte ihren Blick auf den Boden. Sie konnte den fragenden Blick in seinen Augen nicht ertragen, den Ausdruck auf seinem Gesicht, der weit über Besorgnis hinausging. Sie wollte nicht über die Angelegenheit reden. Sie wünschte, dass sie einfach so tun könnte, dass nichts geschehen war.
„Wer hat das getan?" wiederholte er etwas drängender, während er seine Hand von ihrer erhitzten Wange zurückzog. Sie hörte Papierrascheln als er die Karte zur Seite legte, und spürte dann beide seine Hände auf ihrem Körper, jede jeweils einen ihrer Arme streichelnd.
„Aerilyn…" flehte er sie an, aber noch immer reagierte sie nicht. Stattdessen presste sie ihre Lippen fest zusammen, in einem verzweifelten Versuch, die Tränen zurückzuhalten, die sich langsam aber sicher in ihren Augen sammelten. Plötzlich wurden die zärtlichen Streicheleinheiten abrupt unterbrochen und sie keuchte leise und erschrocken auf, als seine Finger sich fest um ihre Arme schlossen, sie beinahe schüttelten.
„Ich habe dir eine einfache Frage gestellt!" sagte Boromir etwas schroffer als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Er bemühte sich noch nicht einmal, seine Ungeduld und Wut, die hervorzubrechen begann, zu verbergen. „Antworte mir!"
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht", erwiderte sie verzweifelt, ihre Stimme leise aber voller Emotion. Sie biss die Zähne zusammen, als er ihr Kinn zwischen seinem Daumen und Zeigefinger einfing und sie sanft zwang, aufzusehen und ihm in die Augen zu blicken.
„Du wirst mir sagen, wer dich geschlagen hat. Auf der Stelle, " verlangte er, seine Stimme wieder etwas zärtlicher, aber trotzdem machte sie noch immer deutlich, dass er nicht gewillt war, ihr Schweigen länger zu dulden. Sie wusste, dass sie lieber nicht wieder seiner Frage ausweichen sollte, es sei denn, sie wollte einen Streit mit ihm anfangen.
„Ich wurde von meinem Vater bestraft", sagte sie ihm schließlich mit einer schwachen Stimme. Der Kloß in ihrem Hals wurde noch größer, als sie sah wie Boromirs Augen sich zu dünnen Schlitzen verengten, das Smaragdgrün vor Wut Funken sprühend.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht", sagte Aerilyn noch einmal und zuckte dann zusammen, als er sie plötzlich anschrie.
„Nicht schlimm?!" fuhr er sie an. „Hast du dir mal dein Gesicht angesehen?!"
„Bitte…" wimmerte sie und legte ihre Hände in dem hilflosen Versuch, ihn zu beruhigen, auf seine Oberarme, aber es funktionierte überhaupt nicht. Es schien sogar seinen Zorn nur noch heftiger werden zu lassen.
„Was, bitte?! Du kannst nicht ernsthaft von mir verlangen so zu tun, als wäre nichts geschehen!" schnappte er und schwang mit einem verbitterten Gesichtsausdruck seine Beine über die Bettkante.
„Was tust du da? Du musst liegen bleiben," sagte Aerilyn und ließ ihre Hände von seinen Armen auf seine Brust gleiten, versuchend, ihn zurückzudrücken.
„Nein, Aerilyn! Begreifst du überhaupt, dass dein halbes Gesicht grün und blau geschlagen ist?!"
Sie kämpfte gegen ihn an, murmelte weitere Bitten, doch in seiner Wut war Boromir fest entschlossen und unnachgiebig, sogar noch mehr als sonst. Er schob sie mühelos zur Seite, um aus dem Bett zu kommen, und brachte sie unbeabsichtigt aus dem Gleichgewicht. Sie wäre wohl zu Boden gestürzt, wenn sie nicht ihren Arm zum Bett ausgestreckt, blind nach etwas gegriffen und sich an dem, was ihre Finger zu fassen bekamen, festgehalten hätte. In der raschen Bewegung streifte sie das Tintenfässchen und brachte es zu Fall. Noch bevor es auf den Boden auftraf spürte sie Boromirs Hände sie auffangen, doch als das Geräusch von zerspringendem Glas in ihre Ohren drang, entzog sie sich seinem Griff.
„Es tut mir leid", murmelte sie während sie sich auf den Boden kniete, um die zerbrochenen Scherben aufzusammeln.
„Aerilyn…" seufzte Boromir und legte eine starke Hand um ihre Schulter. „Lass es liegen. Komm, du wirst dich nur schneiden. Und dein Kleid wird ganz schmutzig."
„Das ist mir egal", erwiderte sie leise.
„Aber mir nicht. Du bist mir nicht egal, meine ich. Das Kleid schon." Seine Worte hatten die von ihm beabsichtigte Wirkung, denn sie erhob sich wieder und schmiegte sich an ihn, ihre Tintenbefleckten Hände auf seiner Brust ruhend und ihr ganzer Körper gegen den seinen gedrückt. Einen Augenblick lang hielt und streichelte er sie um ihr Trost zu spenden, aber er hatte nicht vergessen, was getan werden musste.
„Wo ist dein Vater im Moment?" fragte Boromir schließlich, was seine Verlobte sich aus seiner Umarmung zurückziehen ließ, um ihn ansehen zu können. Sie schüttelte schwach den Kopf während ihre Hände sich zu Fäusten ballten, die sich in sein Hemd klammerten.
„Du bist noch nicht wieder gesund. Bitte, geh zurück ins Bett, " flehte sie ihn an und startete einen erneuten Versuch, ihn hinunter auf die Laken zu drücken, aber er ließ sie keinen Erfolg haben. Stattdessen legte er seine Hände über ihre viel kleineren, kalten Fäuste und drückte sie liebevoll.
„Ich fühle mich erholt genug, um mit deinem Vater hierüber reden zu können", sagte er sanft, und doch sehr entschlossen.
„Nein, bitte nicht", flüsterte sie. „Es wird alles nur noch schlimmer machen, wenn du mit ihm redest."
„Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, was er dir antun könnte", erwiderte Boromir, sein besorgter Blick über die dunklen Schwellungen ihres blauen Auges und geschwollenen Wangenknochens gleitend.
„Du bist doch noch nicht einmal vernünftig angezogen", gab Aerilyn zu bedenken.
„Das ist im Moment das kleinste Problem, meinst du nicht?" sagte er und beugte sich dann hinab, um ihr einen sanften Kuss auf die Lippen zu geben. Es war ein Kuss, der Zuversicht ausdrücken und das Versprechen, sie zu beschützen, besiegeln sollte, aber er brachte bloß ihre Tränen dazu, schließlich doch hervorzubrechen.
„Geh nicht", versuchte sie noch einmal ihn zu überreden, beinahe geräuschlos weinend, und schlang ihre Arme um seine Taille, so als ob sie ihn durch physische Stärke zurückhalten wollte. Das war natürlich ein absurder Gedanke, wenn man den gewaltigen Unterschied zwischen ihren Körperkräften in Betracht zog.
„Ich muss", sagte er, ergriff ihre Hände, die hinter seinem Rücken verschränkt waren, und öffnete mühelos ihre feste Umarmung.
„Hat dein Vater dich denn niemals bestraft?" fragte Aerilyn verzweifelt, stille Tränen ihre Wangen hinablaufend.
„Doch, das hat er, aber das ist etwas völlig anderes."
„Nein, das ist es nicht."
Boromir seufzte und umfasste ihr schlankes Handgelenk mit einer großen Hand während er mit dem Daumen der anderen ihre Tränen wegwischte.
„Ich muss sicherstellen, dass er so etwas nie wieder tun wird, verstehst du das denn nicht?"
„Immerhin ist er mein Vater."
„Aber dies ist mein Reich und solange er vorhat, hier zu verweilen, muss er sich an meine Regeln halten! Ich werde gehen und ihn darüber unterrichten, denn ich glaube nicht, dass er sonst damit aufhören wird, " sagte Boromir, wieder wütend werdend. Es machte ihn mehr als rasend, dass jemand sie geschlagen hatte, dass jemand es gewagt hatte, die Hand gegen seine zukünftige Gemahlin zu erheben. Dass jemand die Frau verletzt hatte, die sein Kind zur Welt bringen würde, den Erben seines Imperiums.
„Ich will nicht, dass er dich auch nur ein einziges weiteres mal schlägt", sprudelte es aus Boromir, bevor Aerilyn irgendetwas sagen konnte. „Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Oder unserem Kind. Wenn er dich wieder schlagen und das dazu führen sollte, dass du das Baby verlierst, würde ich mich für den Rest meines Lebens hassen, weil ich nichts unternommen habe, um es zu verhindern."
Boromir sah sie für einen Moment schweigend an, sein Blick auf den flehenden Ausdruck in ihren dunklen, vor Tränen schwimmenden Augen gerichtet. Er konnte seinen Blick nicht losreißen von dem leichten Beben ihrer blassen Lippen, oder dem großen Bluterguss, der so falsch auf ihrem hübschen Gesicht wirkte. Das satte, dunkle Rotblau der Prellung bildete einen grausamen Kontrast zu ihrer hellen Porzellanhaut.
„Ich muss", wiederholte er schließlich. „Ich sehe keinen Grund und keine Entschuldigung dafür, eine Frau zu schlagen. Ich werde so ein Verhalten nicht dulden. Nicht in meiner Stadt, und vor allem nicht, wenn meine schwangere Braut die Betroffene ist."
„Das ist sehr edel von dir, aber trotzdem flehe ich dich an, geh nicht. Ich bitte dich. Du kennst ihn nicht. Er wird nur noch wütender werden, wenn du ihm wegen dieser Sache eine Lektion zu erteilen versuchst."
„Habe keine Angst, Aerilyn. Ich werde dafür sorgen, dass er niemals wieder seine Hand gegen dich erheben wird. Er mag dein Vater sein, aber ich werde dein Ehemann sein und ich werde dich beschützen, jetzt und in Zukunft. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich in dein misshandeltes, trauriges Gesicht sehe und nichts unternehme. Ich liebe dich und ich kann es nicht ertragen, dich leiden zu sehen. Dies hier soll niemals wieder geschehen. Mach dir keine Sorgen, ich werde mich darum kümmern."
„Aber was ist mit meinem Bruder?" platzte es aus ihr heraus, ihre Augen sich mit noch mehr Tränen füllend. Boromir starrte sie an, nicht verstehend, was sie meinte.
„Was soll mit ihm sein?" fragte er verwundert.
„Wer wird ihn beschützen? Wer wird dafür sorgen, dass mein Vater niemals wieder seine Hand gegen Atalar erhebt?" wollte sie wissen, ihre Stimme stabiler werdend, während sie sprach. „Wenn du zu meinem Vater gehst, wird er vielleicht mich nicht mehr schlagen, aber ich weiß einfach, dass er außer sich sein wird vor Wut und dann wird es Atalar sein, der leiden muss. Ich kann nicht zulassen, dass das passiert."
„Aber -"
„Kein ‚aber'!" polterte Aerilyn. „Willst du, dass meinem Bruder etwas zustößt?!"
„Nein, natürlich nicht, aber ich kann deinen Vater auch nicht einfach damit davonkommen lassen!" zischte er. „Ich habe dir meine Gründe gesagt."
„Wenn du jetzt gehst…" sagte Aerilyn, ihr Atem leicht zitternd. Boromir konnte sehen, dass es nicht leicht für sie war die folgenden Worte zu formulieren und auszusprechen, aber sie tat es, und sie trafen ihn schwer. „Sei dir darüber im Klaren, dass ich dir niemals verzeihen werde, wenn meinem Bruder wegen deiner Einmischung in unsere Familienangelegenheiten etwas zustößt."
Er schluckte und sah sie für einige stille Augenblicke an, bis er die Bedeutung ihrer Worte komplett erfasst hatte.
„Einmischung in eure Familienangelegenheiten?" wiederholte er etwas heiser. Nachdem er sich geräuspert hatte, fügte er hinzu: „Ich dachte, wir sind jetzt eine Familie… du und ich und…"
Seine Stimme verlor sich als er seine Fingerspitzen leicht über ihren noch flachen Bauch strich. Als er sie wieder zurückziehen wollte, ergriff sie seine Hand und drückte sie zärtlich und liebevoll. Als ihre Blicke sich trafen, sagte sie: „Natürlich sind wir das, Boromir. Wir sind eine Familie… du, ich, und unser noch ungeborenes Kind. Es war nicht meine Absicht, dich zu verletzen, aber… aber auch Atalar ist meine Familie. Verstehst du denn nicht meine Sorgen?"
„Doch, das tue ich. Ich habe auch einen Bruder und ich könnte es auch nicht ertragen, wenn ihm etwas zustoßen würde," sagte Boromir und seufzte dann tief, ein Zeichen, dass er sich ihren Wünschen fügen würde, auch wenn er den starken Drang verspürte, sich Statthalter Ribensis ordentlich zur Brust zu nehmen.
„Ich danke dir, ich weiß das sehr zu schätzen", sagte sie, wahrhaftig dankbar. „Wenn so was jemals wieder passiert, verspreche ich, dass du meine Erlaubnis hast, zu -"
Der Rest ihres Satzes wurde von einem festen, aber liebevollen Kuss erstickt, und sie gab einen kleinen, überraschten Laut von sich, der sich in Boromirs Mundhöhle verlor.
„Es wird nicht wieder passieren", flüsterte er gegen ihre Lippen. „Nichts wird dir jemals wieder zustoßen. Nicht, solange du bei mir bist, an meiner Seite."
„Dann", wisperte sie zurück und küsste sanft seine warmen Lippen, „werde ich bis in alle Ewigkeiten sicher sein."
Sie spürte ihn lächeln, kurz bevor sein Mund nach einem weiteren Kuss verlangte, mit mehr Leidenschaft diesmal, und sie lehnte sich gegen ihn, ihr Körper sich entspannend und ihre Tränen langsam trocknend. Sie umrahmte sein Gesicht mit ihren Händen und streichelte ihn zärtlich, ihn gleichzeitig noch näher ziehend.
„Hast du große Schmerzen?" fragte Boromir besorgt, als sie sich nach einer Weile, in der sie ihre tiefe Zuneigung füreinander demonstriert hatten, wieder voneinander lösten. Anstatt seine Frage zu beantworten, starrte sie ihn mit geweiteten, glitzernden Augen an. Boromir sah, wie ihre Mundwinkel sich zu einem lieblichen Lächeln noch oben verzogen, und so, wie sie ihre Lippen zusammenpresste, versuchte sie anscheinend ein Kichern zu unterdrücken.
„Was ist denn so lustig?" fragte er verwirrt. Er bezweifelte, dass er jemals dazu in der Lage sein würde, ihre seltsamen Stimmungsschwankungen hervorzusehen und nachzuvollziehen.
„Dein Gesicht…" sagte Aerilyn.
„Was ist damit?"
Ohne ein Wort zu sagen, hob Aerilyn ihre Hände, mit den Handflächen offen nach oben gerichtet.
„Oh nein…" murmelte Boromir und wischte den Ärmel seines Hemdes über seine Wangen, aber ihrem Kichern nach zu urteilen nützte es nichts.
„Halt, du machst es nur noch schlimmer!" rief Aerilyn und ergriff seine Unterarme, lachte dann kurz und leicht auf, als sie sein Gesicht wieder beäugte.
„Du hast überall Tinte", sagte sie ihm, ein großes Grinsen auf ihrem verletzten Gesicht.
„Das hast du mit Absicht gemacht, nicht wahr?" meinte Boromir und verengte seine Augen mit gespielter Verärgerung.
„Nein, nein! Das ist nicht wahr!" protestierte Aerilyn, ihn noch immer angrinsend.
„Tatsächlich?" sagte er langsam und mit einem übertrieben gefährlichen Unterton. „Weißt du, was wir hier in Gondor mit kleinen Frauen machen, die Tinte auf die Gesichter anderer Leute schmieren?"
„Ich nehme an, nichts Gutes", sagte Aerilyn und wich mit einem weiteren Kichern zurück, als er nach ihr griff, aber er war zu schnell und zog sie mit einer kräftigen Bewegung in seine Arme. Sie quiekte, als er sie hochhob, und versuchte vergebens sich aus seinem festen Halt zu winden.
Boromir spürte, wie das Geräusch ihres Lachens sein Herz aufgehen ließ. Es tat gut, sie so zu hören, und als er sich über sie beugte, nachdem er sie auf sein Bett geworfen hatte, musste er einen Moment innehalten, um den Anblick ihres weiten, offenen Lächelns und ihrer leuchtenden, dunklen Augen zu genießen.
„Du bist wunderschön so. Du solltest öfter lachen", sagte er mit einer leisen, bewundernden Stimme und lehnte sich weiter nach unten.
„Das solltest du auch, mein baldiger Gemahl", flüsterte sie bevor sich ihre Lippen erneut trafen. Sie wollte ihn umarmen, aber er fing ihre Handgelenke und drückte ihre Arme hinunter auf das Bett.
„Lass deine Finger bloß von meinem Gesicht", knurrte er in den Kuss, sie einmal mehr zum Kichern bringend.
„Was ist denn hier los?!" toste eine schroffe Stimme. Die beiden Liebenden ließen erschrocken voneinander ab. Boromir drehte sich um während Aerilyn sich beeilte, von dem Bett zu klettern und ihr Kleid zu richten, ihr Gesicht heftig errötend.
Denethor stand im Türrahmen, und allein seine Anwesenheit rief eine einschüchternde, eisige Atmosphäre hervor.
„Vater", sagte Boromir monoton. „Ich -"
„Halt den Mund," unterbrach Denethor verärgert und trat in den Raum, sein Blick auf Aerilyn gerichtet, die hastig ihre Tintenbefleckten Hände hinter ihrem Rücken versteckte.
„Es ist spät, junge Dame. Ihr solltet inzwischen tief und fest schlafen, morgen wird ein langer Tag für euch beide sein."
„Ja, ich bin schon auf dem Weg. Gute Nacht, " sagte Aerilyn so höflich sie konnte, machte einen kleinen Knicks vor Denethor und ging schnell an ihm vorbei zur Tür.
„Und bevor Ihr Euch zur Ruhe begebt, entfernt diese Tinte von Euren Händen, Kindchen", fügte Denethor hinzu kurz bevor sie das Zimmer verließ.
„Das werde ich", erwiderte Aerilyn, ihre Errötung noch dunkler werdend, und ging dann leise, jedoch nicht, ohne Boromir einen letzten, liebevollen Blick zuzuwerfen. Er zwinkerte ihr zu, und dann war sie fort.
„Du enttäuscht mich sehr", sagte Denethor düster, nachdem Aerilyn verschwunden war, und trat langsam zum Fenster des Zimmers, um seinen müden Blick über die dunklen Gärten draußen wandern zu lassen.
„Ich habe meiner Verlobten nur Trost gespendet", versuchte Boromir sich zu erklären.
„Oh ja, das konnte ich sehr gut sehen!" spuckte Denethor sarkastisch und drehte sich herum, um seinen ältesten Sohn anzusehen. „Eine schöne Art des Trostes hast du dir da ausgesucht, ihr zuteil werden zu lassen."
Boromir öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber sein Vater fiel ihm ins Wort.
„Du bist hier in den Häusern der Heilung, Boromir! Dies ist kein Freudenhaus!"
„Aerilyn ist auch keine Hure", sagte Boromir ruhig.
„Dann hör auf, sie als solche zu behandeln! Zügel dein Verlangen! Du wirst sie morgen Nacht haben, ist das denn nicht früh genug?! Außerdem hast du wichtigere Dinge, um die du dich im Moment zu kümmern hast. Du hast einen Krieg zu führen, du kannst es dir nicht leisten, zu trödeln und mit ihr herumzuspielen."
„Ich kenne meine Pflichten, und sei versichert, dass ich sie in keiner Hinsicht vernachlässige."
Denethor schnaubte nur über die Aussage seines Sohnes und fügte dann hinzu: „Ich hoffe nur, dass Statthalter Ribensis nichts hiervon erfahren wird. Ich bezweifele, dass er dich dafür schätzen würde, dass du seine einzige Tochter in dein Bett gezerrt hast, bevor das kleine Ding mit dir verheiratet wurde."
„Ihr Name ist Aerilyn", sagte Boromir ungeduldig. Er mochte es nicht, wie sein Vater stets über sie zu reden pflegte. „Und ich habe sie nicht in mein Bett gezerrt. Ich habe sie getröstet. Das habe ich dir eben schon gesagt."
Denethor hob eine Augenbraue, eine winzige, herablassende Geste, die mehr als tausend Worte ausdrückte und schon immer Boromirs Blut vor Zorn zum Kochen gebracht hatte. Aber er schaffte es, seinen inneren Sturm zu unterdrücken und sprach mit einer mehr oder weniger kontrollierten Stimme, als er schließlich fragte: „Hast du nicht ihr Gesicht gesehen?"
„Ihr Vater hat sie geschlagen", sagte Denethor teilnahmslos.
„Du weißt es?" fragte Boromir, sich abmühend, seine heftigen Emotionen für sich zu behalten. „Du weißt es, und es kümmert dich nicht?"
„Es ist nicht sehr angenehm, dass sie so an eurem Hochzeitstag aussehen wird, aber der Schleier wird es gut verstecken. Das Volk wird es nicht sehen."
„Das Volk wird es nicht sehen?" wiederholte Boromir angewidert. „Das meinte ich nicht."
„Aber ich meinte es", entgegnete Denethor. „Alles andere ist unwichtig. Und was den Schlag selbst angeht... Du solltest froh sein, dass Statthalter Ribensis seine Tochter gründlich diszipliniert. Das wird dir eine Menge Ärger ersparen."
Boromir wollte etwas auf diese unglaubliche Äußerung erwidern, aber Denethor erhob rasch eine seiner Hände, eine resolute Geste um seinen Sohn verstummen zu lassen.
„Genug davon", sagte er schnell, bevor Boromir das Thema wieder aufgreifen konnte. „Ich werde nach jemandem schicken lassen, der dein Gesicht von diesen lächerlichen Tintenflecken säubern wird… Du siehst aus wie ein Narr. Wenn ich wieder zurückkomme, wirst du mir zeigen womit du dich den heutigen Tag über beschäftigt hast. Und geh zurück ins Bett. Der Morgen wird einen langen und erschöpfenden Tag mit sich bringen."
