Kapitel 1
Feuer in Esgaroth
Goldene, warme Sonnenstrahlen, wie spitze Nadeln aus purem Gold, bahnten sich ihren Weg durch ein dichtes, dunkles Laubdach. Es war das satte, dunkelgrüne Laub von ehrwürdigen alten Eichen und Buchen, das vom leichten, frischen Frühlingswind beiseite geweht wurde, um Sonnenstrahlen hindurchzulassen und die jungen Schösslinge, die in der winterkalten Erde geschlafen hatten, aufzuwecken und zum wachsen zu bringen.
Es war Gwaeron[1], der Monat, in dem die Menschen eigentlich wieder damit begannen, die Felder zu bestellen. Ja, eigentlich... nur das sie sich nicht in Friedenszeiten befanden und das nichts aber auch gar nichts seinen eigentlichen Gang ging. Dabei war es wirklich ein so herrlicher Tag und man mochte eigentlich gar nicht an den Krieg und all die Übel, die er mit sich brachte, denken.
Das wollte Arinwë Ninniach[2] schon lange nicht mehr. Seit der plötzlichen und ziemlich unerwarteten Abreise ihres geliebten Gemahls, Legolas Thranduilien, dem Sohn König Thranduils, war sie kaum noch aus dem prachtvollen, unterirdischen Palast ihres königlichen Schwiegervaters herausgekommen. Nur wenn der jüngere Sohn des Königs oder die Zwillingssöhne seiner Schwester sie begleiteten durfte sie im heiligen Hain spazieren oder die aussenliegenden Bereiche der Stadt in den Wäldern besuchen, niemals jedoch die Grenzen des Waldlandreiches verlassen. Sie mochte Caranlas, Gloroval und Celebroval wirklich sehr und sie gaben sich auch wirklich Mühe, ihr nicht zur Last zu fallen, wenn sie die Stille an der frischen Luft suchte, doch dennoch war sie nie wirklich mit ihren Gedanken allein.
Elenim, die Schwester ihres Gemahls, die ihren Namen der Farbe ihres Haares verdankte, welches von einem sehr hellen Blond war, verbrachte ebenfalls viel Zeit mit ihr. Genau wie sie sehnte sie sich sehr danach, wieder einmal auf dem Rücken eines der edlen Rösser aus Thranduils Stall, frei von allen belastenden Gedanken durch den Wald zu galoppieren, doch jedes Mal, wenn Arinwë davon sprach, winkte Elenim deprimiert ab und sagte, dass sie wohl oder übel warten mussten, bis die Grenzen wieder sicher waren. Manchmal hatte Arinwë das Gefühl, alle hätten sich gegen sie verschworen. Viele Jahre lang hatte sie anders gelebt, als sie es jetzt tat. Als sie noch einfach nur die Tochter des Schmieds gewesen war, hatte sie immer und zu jeder Zeit hingehen können, wohin sie wollte. Sie kam sich vor wie ein wertvoller und seltener kleiner Vogel in einem goldenen Käfig. Ein Gefängnis blieb aber nun einmal ein Gefängnis, egal, wie edel es eingerichtet war.
Arinwë seufzte tief. Sie war sich sicher, dass Legolas es mit seiner Anweisung, dass sie sich stets im Palast aufhalten sollte und sein Bruder und sein Vater ständig ein Auge auf ihr haben sollten, nur gut gemeint hatte. Allerdings fragte sie sich, ob er damit gerechnet hatte, länger als ein oder zwei Monate fort zu sein.
Gerade in diesem Moment eilte sie zum Thronsaal, denn Caranlas war am frühen Morgen nach Esgaroth aufgebrochen und die Grenzwächter hatten Mitteilung gemacht, das er jeden Augenblick zurückerwartet wurde. Arinwë wollte unbedingt mit ihm reden, um zu erfahren, ob in der Stadt der Menschen alles seinen gewohnten Gang ging. Zu Gwaeron fand für gewöhnlich ein großer Markt in Esgaroth statt und jedes Jahr nahm auch eine Gesandtschaft der Elben des Düsterwalds daran teil. Die Menschen aus Esgaroth kauften gerne elbischen Schmuck und auch die Gewandungen aus einem Stoff, der aus der Seide der Spinnen gemacht wurde, die im Düsterwald hausten, waren sehr beliebt. Auf diese Art und Weise hatten die Tawarwaith, die Waldelben aus dem Düsterwald, aus dem Übel etwas Nutzbringendes gemacht. Die Spinnen waren ein Überbleibsel aus der Zeit, als Morgoth, der dunkle Herrscher, noch von Dol Guldur im Norden des Düsterwaldes aus Mittelerde mit seinem Schrecken überzogen hatte.
Die Menschen, die in Esgaroth lebten, waren - so sagte zumindest Thranduil - nicht so engstirnig wie die, mit denen die Verwandten aus Imladris Verkehr pflegten. Sie waren einfache Menschen und keine hochtrabenden Numenorer. Elrond aus Imladris hatte schon seit langer Zeit diesen irrwitzigen Plan, den letzten Nachfahren der Könige des Westens wieder zum König von Gondor zu machen. Thranduil konnte nichts negatives über diesen jungen Mann sagen, der sich in Imladris aufhielt, seit er mit seiner Mutter dort von Herrn Elrond aufgenommen worde, doch er brauchte nur an all die Dinge denken, die geschehen waren und die letztlich zur Vernichtung von Westernis geführt hatten. Thranduil pflegte zu sagen, dass Elrond von Imladris allerdings schon wüßte, was er tat und er sich nicht in dessen Angelegenheiten einmischen wollte.
Die Elben aus dem Düsterwald waren jedenfalls als Händler in Esgaroth gerne gesehen, denn das Geld, das sie durch den Verkauf ihrer Waren erlangten, gaben sie natürlich an Ort und Stelle wieder aus. Sie kauften Stoffe von den Menschen und rohe Edelsteine von den Zwergen. Einiges von dem Geld spendeten sie auch für das Waisenhaus und die in Esgaroth ansässige Heilstätte. Arinwë lächelte. Was sollten Elben denn auch schon mit Geld anfangen? Der Wald gab ihnen doch nahezu alles, was sie zum Leben brauchten.
Caranlas war, begleitet von einigen Kriegern der königlichen Palastgarde, sehr früh am Morgen aufgebrochen, um in Esgaroth nach dem Rechten zu sehen. Man fragte sich, ob es wirklich sicher war, auch in diesem Jahr wieder eine Gesandtschaft in die Stadt zu schicken. Seit der neuerliche Krieg zwischen Sauron und den freien Völkern von Mittelerde ausgebrochen war, blieben die Elben in Düsterwald am liebsten innerhalb ihrer eigenen Grenzen. Selbst im Düsterwald, der nicht umsonst auch Taur-nu-Fuin[3] genannt wurde, konnte man die wachsende Macht Saurons, des dunklen Herrschers, spüren. Die Tawarwaith mischten in diesem Krieg, der von Sauron und seinem Handlanger Saruman entfesselt worden waren, nicht mit. Sie hatten selbst alle Hände voll damit zu tun, die Eroberungsversuche der dunklen Mächte abzuwehren.
König Thranduil hatte ihr erzählt, dass sich die Elben aus Imladris und Laurelindórinan wieder einmal in die Angelegenheiten der Menschen mischten, dass er jedenfalls nicht daran denke, mehr zu tun, als seinen Sohn als Botschafter nach Imladris zu schicken. Immerhin war ihnen dieser abscheuliche kleine Gnom, der allseits nur Gollum genannt wurde und den sie für den Istari Mithrandir hatten in Verwahrung nehmen sollen, entwischt und Elrond und die anderen Mitglieder des 'Weißen Rates' mußten davon erfahren.
In der letzten Zeit war der ansonsten durch und durch gutmütige Thranduil deswegen immer sehr wütend gewesen. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass Elrond von Imladris Legolas als einen der Gefährten des Ringträgers, eines Hobbits aus dem Auenland, wie man sagte, aussuchen würde. Er hatte damit gerechnet, dass er nach der Versammlung in Bruchtal in seine Heimat zurückkehren würde. Auch Arinwë hatte, zugegebenermaßen, darauf gehofft. Nun war er schon fast ein halbes Jahr fort und man hatte seitdem nichts von ihm gehört. Ein halbes Jahr war natürlich nicht lang für Elben, doch immerhin war es doch länger, als eigentlich beabsichtigt gewesen war - und einer liebenden Gemahlin erschien diese Zeit doch doppelt so lang.
Arinwë konnte sich erinnern, Thranduil hinter verschlossenen Türen fluchen gehört zu haben. Sie hatte seine Worte nicht alle verstehen können, doch der Name des Herrn von Imladris war mehr als einmal gefallen.
~*~
König Thranduil und sein zweitältester Sohn waren gerade im Begriff, den Thronsaal zu verlassen und sich in die sogenannte kleine königliche Bibliothek dahinter zurückzuziehen, als Arinwë atemlos und mit wehenden Gewändern hinzukam. Caranlas hatte dem König soeben versichert, dass es in Esgaroth wirklich friedlich sei und er freundlich empfangen worden war und nun wollten sie gemeinsam die Warenlisten durchgehen. Wenn man mit den Menschen in der Stadt handeln wollte, mußten vorher noch einige Vorbereitungen getroffen werden.
"Caranlas! Wie ich mich freue, dich zu sehen.", rief Arinwë als sie ihren Schwager erblickte. Sie umarmte ihn und küßte ihn flüchtig auf die Wange, bevor sie fortfuhr.
"Erzähl' mir doch, wie es in Esgaroth war. Ich war so lange nicht mehr außerhalb unserer geschützten Grenzen, dass ich sehr darauf brenne, Neuigkeiten aus der Stadt zu erfahren. Wie sieht es aus, dort draußen in der Welt?"
Thranduil und Caranlas wechselten einen vielsagenden Blick. Sie befürchteten, dass sie wieder mit dem alten Thema beginnen wollte. Der König hatte mehr als eine Diskussion mit seiner Schwiegertochter darüber geführt, dass er sie auf gar keinen Fall die geschützten Grenzen überschreiten lassen würde, aber mit jedem Blick aus ihren traurigen Augen wurde er schwächer. Lange würde er ihren Bitten nicht mehr widerstehen können. Allerdings hatte er seinem Sohn versprochen, auf sie Acht zu geben und er würde es sich selbst nicht verzeihen können, wenn ihr etwas zustieße. Er bereitete sich also innerlich schon darauf vor, dass sie nun versuchen würde, über Caranlas die Erlaubnis dazu zu bekommen.
"Bisher ist alles sehr friedlich. Die Menschen bereiten sich auf das Frühlingsfest und die Aussaat vor. Auch der Markt wird, wie jedes Jahr stattfinden, wenn auch das Angebot an Waren dieses Mal nicht besonders reichhaltig sein wird. Es mangelt wirklich an allem.", erzählte Caranlas.
Thranduil wollte etwas hinzufügen. Er wollte ihr sagen, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, ihn um Erlaubnis zu bitten, Caranlas begleiten zu dürfen, doch bevor er auch nur dazu ansetzen konnte, setzte sie ihr süßestes Lächeln auf, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ und sagte:
"Aber es ist doch eine gute Nachricht, dass alles so friedlich ist. Thranduil, wenn Caranlas nach Esgaroth reist, laßt mich doch mit ihm gehen. Ich liebe es zwar, in eurem Palast zu leben und es mangelt mir wirklich an nichts, doch es verlangt mich sehr, endlich einmal wieder hinauszugehen. Nicht nur heraus aus dem Palast, sondern heraus aus Yst Tewair[4], heraus aus Eryn Lasgalen."
Thranduils Gesicht verriet seine tiefe Besorgnis und seine eigene Trauer darüber, ihr diesen Wunsch abschlagen zu müssen.
"Meine Liebe, du weißt, was ich Legolas versprochen habe. Du warst dabei. Es herrscht Krieg und keiner von uns, nicht einmal der hellsichtige Herr Elrond aus Imladris kann sagen, welche Gefahren dort draußen lauern.", hielt Thranduil ihr entgegen.
Arinwë wies auf Caranlas, der sich in seiner Rolle als Mittel zum Zweck äußerst unwohl fühlte und ihrem Blick auswich.
Sie erwiderte:
"Aber ich habe doch gehört, was Caranlas gesagt hat. Er sagte, es sei sicher. Das ist doch so, nicht wahr Caranlas?"
Vater und Sohn warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie hatten geahnt, dass Arinwë etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte, doch bis zu diesem Moment hatten sie nicht gewußt, was genau sie gehört hatte. Nun wußten sie es und sie wußten auch, dass es keinen Zweck hatte, nach einer Ausrede zu suchen. Die kluge Arinwë würde auf jeden Fall letztendlich einen Weg finden, ihren Willen durchzusetzen. Vater und Sohn waren sich sicher, was sie sich mit ihren Blicken zu verstehen gaben, dass Arinwë inzwischen so verzweifelt war, dass sie notfalls auch heimlich und ohne Thranduils Erlaubnis Yst Tewair verlassen würde.
Schließlich setzte die Prinzessin ein gewinnendes Lächeln auf und sagte:
"Im übrigen würdet ihr nicht einmal gegen Legolas' Wunsch handeln, immerhin wird Caranlas mich ja nach Esgaroth begleiten."
Arinwë spürte, dass die Stimmung zu ihren Gunsten umschlug.
Thranduil nickte seufzend und gab schließlich nach. Er hatte diese Alternative gegen die andere, weit schlechtere abgewogen, nämlich das Arinwë sich auf eigene Faust aufmachen würde und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es sicherer wäre, sie in Caranlas Begleitung gehen zu lassen.
"Aber eines solltet ihr euch merken: Das ist eine einmalige Ausnahme und ich würde es vorziehen, wenn Legolas nichts davon erführe.", zischte er warnend und mit einem zerknirschten Ausdruck in seinem alterslosen Gesicht.
Arinwë umarmte ihren Schwiegervater und erklärte:
"Oh, ihr wißt doch, dass ihr euch in jedem Fall auf mich verlassen könnt."
Sie raffte ihre kostbaren Gewänder und verließ eiligen Schrittes den Thronsaal.
Zurück blieben der König der Tawarwaith und sein zweitgeborener Sohn. Thranduil gelang es nicht, das Gefühl abzuschütteln, als Verlierer aus einem Spiel hervorgegangen zu sein, bei dem der Gewinner schon von Beginn an festgestanden hatte. Caranlas zuckte mit den Schultern, als er dem ratlosen Blick seines Vaters begegnete.
"Ich glaube nicht, dass mein Bruder es leicht mit ihr hat.", meinte Caranlas und er konnte das zynische Lächeln auf seinem Gesicht dabei kaum verbergen.
Sie setzten ihren Weg in die königliche Bibliothek fort, so wie sie es ursprünglich geplant hatten. Doch Thranduil kam nicht umhin, sich weiterhin zu fragen, ob es richtig gewesen war, Arinwë den Ausflug nach Esgaroth zu erlauben.
Caranlas, der seine Unruhe spürte, versuchte ihn zu beruhigen, in dem er sagte:
"Was hättest du denn schon tun oder sagen können, Vater, das sie von ihrem Wunsch abgebracht hätte? Auch Legolas hätte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen können. Im übrigen ist sie ja - wie sie selbst schon sagte - in meiner Begleitung."
Thranduil betrachtete seinen Sohn aufmerksam, nach einem Zeichen suchend, das ihn erkennen ließ, dass er genauso beunruhigt war wie er selbst. Doch die graugrünen Augen in dem kantigen und doch sanften Gesicht, das von rotblondem Haar umrahmt war, blieben ruhig und sagten ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wahrscheinlich hatte Caranlas recht. Wenn er sagte, Esgaroth sei sicher, dann konnte er darauf vertrauen. Wieso wurde er dann dieses ungute Gefühl nicht los?
~*~
Arinwë versuchte sich so zu benehmen, wie es sich für eine elbische Prinzessin gehörte, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Schritte immer schneller wurden, konnte kaum das strahlende Lächeln aus ihrem Gesicht verbannen. Sie mußte unbedingt mit Elenim sprechen. Wenn sie mit Caranlas nach Esgaroth gehen würde, dann würde sie sicherlich auch gerne mitgehen. Auch Elenim hatte Yst Tewair schon lange nicht mehr verlassen. Es war gut zu wissen, wo sie die Prinzessin finden würde. Elenim liebte den Rosenpavillon ihrer Mutter, der so genannt wurde, weil sich das weiße, filigrane Bauwerk inmitten der duftenden Rosenrabatten befand.
Auch an diesem Tag war Elenim wieder dort. Arinwë wußte, dass die Prinzessin dort auf ihrem Diwan liegen würde, um zu lesen oder um einfach nur den Himmel zu betrachten und zu träumen. Nun, anderen Beschäftigungen konnten die Frauen in diesen Tagen ja auch nicht nachgehen, dachte sie zynisch. Tatsächlich fand sie Elenim im Garten des Palastes im Rosenpavillon, jedoch hatte sie sich nicht niedergelassen, um ein Buch zu lesen oder um ihren Tagträumen nachzugehen, sondern sie saß dort mit einem, zugegeben äußerst gutaussehenden Elben, den Arinwë noch nicht kannte. Er hatte goldblondes Haar, fast wie sonnenbeschienener Honig oder Bernstein, und seine Augen glänzten selbst auf die Entfernung tiefgrün. Sie konnte sie schon von weitem miteinander scherzen hören. Elenim's Lachen erklang silberhell und wurde vom zarten Frühlingswind weit in ihre Richtung getragen. Ein Elb, der die Prinzessin so glücklich machte? Es konnte sich bei ihm nur um Ferycilîr[5], den jungen Elben aus Cirbentair[6], den sie in einer Jahresfrist zum Gemahl nehmen wollte.
Arinwë fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Sie glaubte, dass sie die beiden Verliebten nur stören würde. Elenim und Ferycilîr so zu sehen, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Obwohl sie im Streit auseinandergegangen waren, vermißte sie Legolas so sehr. Seine warme Stimme, die zärtlichen Berührungen seiner sanften Hände, die Poesie, mit der er ihre Schönheit beschrieb und immer wieder neue Worte erfand; selbst seine liebevollen Neckereien würde sie nun willkommen heißen. Sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass sie sich einmal so einsam fühlen würde. Wenn er doch nur endlich zu ihr zurückkommen würde.
Sie wollte schon wieder umkehren, als Elenim sie erblickte und sie zu sich winkte.
"Arinwë! Wie ich mich freue, dich zu sehen. Komm doch zu uns und höre dir an, welche Neuigkeiten uns Ferycilîr zu erzählen hat. Er ist aus Cirbentair gekommen, um unserer Familie seine erneut seine Aufwartung zu machen Er will mit Vater noch einige Dinge klären für die Hochzeitsfeierlichkeiten im nächsten Jahr. Es ist wirklich schade, dass ihr beide noch keine Gelegenheit hattet, euch näher kennenzulernen."
Arinwë erwiderte leise:
"Sei mir nicht böse aber ich hielt es für besser, euch allein zu lassen..."
Elenim erhob sich und ging auf sie zu. Sie nahm sie bei der Hand und führte sie zum Pavillon.
"Sei nicht dumm. Wenn du denkst, du könntest uns stören, liegst du völlig falsch. Wollten wir alleine sein, würden wir für unsere Treffen keinen Ort wählen, von dem meine ganze Familie weiß, wie gerne ich mich dort aufhalte."
Da hatte Elenim natürlich recht.
Ferycilîr stieg die drei Stufen, die zum Pavillon hinaufführten herab und begrüßte Arinwë.
"Alae Arinwë Ninniach, ich freue mich sehr, euch kennenzulernen und endlich einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Der Zufall wollte, dass wir uns bisher noch nicht begegnet sind. Wann immer ich mit eurem Gemahl zur Jagd zog, konnte er immer nur von euch reden. Er sang Loblieder auf eure Schönheit und eine Zeit lang mußten wir gar befürchten er hätte völlig das Interesse an der Jagd und an der Natur verloren."
Arinwë lächelte. Ferycilîr hatte sehr gute Manieren und er wußte sehr wohl, allein mit Worten das Herz einer Frau zu gewinnen.
"Alae Ferycilîr aus Cirbentair. Ich freue mich ebenfalls sehr, euch kennenzulernen, immerhin werden wir bald miteinander verschwägert sein. Allerdings kam ich hierher, um mit Elenim zu reden, wenn es euch nichts ausmacht."
Ferycilîr verbeugte sich leicht und trat einen Schritt zur Seite.
"Elenim, soeben ist Caranlas aus Esgaroth zurückgekehrt und ich habe Thranduil gebeten, mich zum Frühjahrsmarkt mit ihm gehen zu lassen. Er hat schließlich eingewilligt und nun dachte ich, dass du mich sicher gerne begleiten würdest."
Ferycilîr berührte Elenim sanft an der Schulter und sagte leise:
"Ich würde es vorziehen, wenn du nicht gingest. Ich komme zwar aus einer Stadt tief im Wald, doch auch ich weiß, was draußen, außerhalb der Grenzen des Taur-nu-Fuin vor sich geht, Melethril[7]. Es herrscht Krieg und unser König will sich nicht in diese Angelegenheiten einmischen. Ich würde dich ja begleiten, doch ich werde schon übermorgen wieder bei den Grenzwächtern gebraucht."
Arinwë war überrascht. Sie hatte nicht gedacht, dass Ferycilîr, der junge Jäger, so vorsichtig sein würde. Sie mußte sich anscheinend etwas einfallen lassen, um Elenim zu überreden. Sie wußte, dass es ihr gelingen würde, so wie es ihr auch schon bei ihrem Schwiegervater gelungen war.
"Ferycilîr, es ist wirklich nichts, worum ihr euch Sorgen machen müßtet. Am Markttag werden uns Prinz Caranlas und die Vettern eurer Schwester begleiten. Wir sind also sicher."
Elenim blickte ihren Geliebten bittend an. Arinwë wußte, dass sie genauso gerne wieder einmal aus dem Wald heraus wollte, wie sie selbst.
Der Jäger seufzte und erwiderte:
"Nun gut, dann muß ich mich wohl geschlagen geben. Ich hoffe, wenn du erst meine Gemahlin bist, Elenim, wird mein Wort mehr Gehör bei dir finden."
~*~
Das Wetter an diesem Tag hätte nicht besser sein können. Es war für den frühen Frühling schon sehr warm. Die Sonne hatte sehr viel Kraft und erwärmte den Boden. Dieser Tag war wie geschaffen für den nachmittäglichen Ausflug eines verliebten Pärchens. Doch Legolas war nicht hier und auch Elenim wurde nicht von Ferycilîr begleitet, denn er war am Abend des Vortages wieder zur Grenze aufgebrochen. Dennoch war Arinwë an diesem Tag wirklich bester Laune. Sie hatte sich vorgenommen, sich aus einem dunkelgrünen Stoff, den sie mitgenommen hatte, auf dem Markt ein Kleid in der Art schneidern zu lassen, wie es die Damen in Gondor trugen. Sie hatte sich schon immer für die Mode anderer Völker interessiert.
Elenim ritt zu ihr heran und reichte ihr verspielt die Hand.
"Und? Freust du dich?", wollte sie wissen.
Arinwë fragte sich einen Moment lang, wie Elenim, deren hellblondes Haar wie eine Seidenfahne hinter ihr her wehte, diese Frage gemeint hatte. Wollte sie wissen, ob sie sich darüber freute, ihren Schwiegervater letztendlich überredet zu haben oder meinte sie wirklich nur die reine Freude an diesem schönen Tag. Nein, Elenim war nicht so. Solche Hintergedanken waren ihr fremd. Nun, Arinwë war einfach nur vorsichtig geworden. Seit sie Legolas' Gemahlin war, war ihr oft die Eifersucht anderer junger Elbinnen entgegengeschlagen. Man hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er gerade sie zu seiner Gemahlin erwählen würde. Man hatte sie nicht für standesgemäß gehalten, weil sie nur die Tochter eines Schmieds war.
"Und wie ich mich freue! Schau nur! Schau nur hoch zum Himmel! Dieses klare, helle Blau, so weit und so frisch. Wie ich das vermißt habe!", rief Arinwë freudig aus.
Elenim lachte und erwiderte:
"Man könnte fast meinen, du fühlst dich im Wald überhaupt nicht mehr wohl."
"Ach, so ist es nicht. Ich denke, du verstehst mich auch sehr gut. Unser Wald ist wunderschön, doch es kann auch ungemein erdrückend sein, wenn man nirgendwo hingehen darf."
Elenim nickte.
~*~
Bald erreichten sie die Stadt der Menschen. Viele Männer aus der Stadt blieben wie angewurzelt am Straßenrand stehen - egal was sie gerade taten - und blickten den Elbinnen staunend hinterher. In ihren glänzenden, weiten Gewändern und auf den edlen Rössern wirkten sie für die Menschen anscheinend wie überirdische Zauberinnen aus alten Legenden.
Trotzdem wirkte die Aufmerksamkeit ein wenig befremdlich auf Arinwë. Schließlich waren sie nicht die ersten Elbinnen, die nach Esgaroth kamen.
Als hätte Elenim ihre Gedanken gelesen, sagte sie plötzlich leise neben ihr:
"Wahrscheinlich haben sie noch nie zwei elbische Prinzessinnen gesehen. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wir hätten unauffälligere Gewänder gewählt."
Am Rande des Marktplatzes, auf dem schon ein geschäftiges Treiben herrschte, hielt der Zug an.
"Ich werde zum Ratsherren gehen, denn ich habe einige Sachen mit ihm zu besprechen." sagte Caranlas, während er vom Pferd stieg.
Er half Elenim und Arinwë aus dem Sattel und fuhr dann seufzend fort:
"Eigentlich wäre das Legolas' Aufgabe, doch der..." ein noch tieferes Seufzen "... ist ja nicht da."
Arinwë schenkte ihrem Schwager ein bittersüßes Lächeln und erwiderte:
"Niemand wünscht sich seine Rückkehr mehr als ich mein lieber Caranlas, das kannst du mir glauben."
Gloroval und Celebroval, die den Zug ebenfalls begleitet hatten, widmeten sich ihrer Aufgabe, den Aufbau der elbischen Markstände zu überwachen und die beiden Prinzessinnen waren bald auf sich selbst gestellt. Sie ließen die Stoffballen, aus denen sie sich Kleider schneidern lassen wollten, von einem der Karren holen und gaben Anweisungen, sie an einen bestimmten Schneider in der Gewandmachergasse zu liefern. Dann machten sich selbst auf den Weg zur Gewandmachergasse.
~*~
Caranlas war erst seit einer halben Stunde bei Halban, dem Ratsherren von Esgaroth, als er plötzlich von den nicht enden wollenden Papierstapeln aufblickte. Er hatte ein Geräusch gehört, dass ihn an das Klirren von Schwertern erinnerte. Beim ersten Mal hatte er noch den Kopf geschüttelt und sich gesagt, dass er sich das wohl nur eingebildet hatte. Letzten Endes hatte ihn wohl die übertriebene Vorsicht seines Vaters angesteckt und er hatte schon Hirngespinste. Als sich das Geräusch aber wiederholte, auch noch näherte und mit panischem Geschrei vermischte, wurde er unruhig.
"Was ist denn da draußen bloß los?", fragte Caranlas den Ratsherren Halban.
Der Ratsherr sah den Elben nur verständnislos an. Caranlas verstand. Der Mensch hatte die Geräusche, die noch sehr weit entfernt waren, natürlich nicht gehört.
"Es hört sich an, als würde es auf dem Marktplatz eine Unruhe geben. Habt ihr nicht gesagt, eure Stadt wäre sicher? Das war es doch, was ihr mir bei meinem letzten Besuch gesagt hattet, oder?", sagte er und seine Stimme klang ein wenig verärgert.
Hatte ihn der Ratsherr am Ende doch nur belogen, weil er befürchtet hatte, die Elben würden ansonsten mit ihren begehrten Waren nicht zum Markt kommen?
Halban schaute ein wenig betreten drein, was für Caranlas als Antwort reichte.
"Mein Herr, ich kann nichts hören.", entgegnete Halban kleinlaut.
Er schob den vollkommen verdutzten Ratsherren beiseite und eilte zum einzigen Fenster in dem Raum.
Der Raum, indem er sich mit Halban getroffen hatte, befand sich im zweiten Stock des Rathauses und er hatte von dort einen guten Blick auf die umliegenden Straßen. Er konnte zwar noch nichts sehen, doch er war sich nun sicher, tatsächlich Kampfgeräusche zu hören und aus welcher Richtung sie kamen.
"Ah! Nun kann ich es auch hören!", sagte Halban hinter ihm. "Was glaubt ihr was da vor sich geht?"
Caranlas zog sein Schwert und war schon im Begriff die Treppen herunterzueilen, als er erwiderte:
"Ich kann es nicht sagen aber ich werde es herausfinden."
~*~
Caranlas lief, das Schwert immer noch in der Hand, verzweifelt zwischen den brennenden Häusern der Stadt hin und her. Die Orks - oder was auch immer, denn einige von ihnen sahen aus wie Halborks - waren schon auf dem Rückzug gewesen, als er sich auf den Weg zum Marktplatz gemacht hatte. Einige von ihnen hatten sich auf ihn gestürzt, als sie seiner angesichtig geworden waren... und sie hatten dafür bezahlt. Caranlas dachte nach. Elenim und Arinwë mußten auf dem Weg zur Schneidergasse gewesen sein, als der Angriff begonnen hatte, zumindest hoffte er das. Er hoffte, dass seine Schwester und seine Schwägerin sich möglichst weit entfernt von diesen schrecklichen Ereignissen befanden. Der Überfall kam überraschend und es war alles so schnell gegangen. Der Elbenprinz machte sich große Vorwürfe. Er hätte seine Schwester und seine Schwägerin niemals alleine gehen lassen dürfen, er hätte sie begleiten sollen. Doch sie hatten ihm versichert, dass sie wirklich nur zum Gewandschneider wollten und dass sie auf sich Acht geben wollten.
Schliesslich erreichte Caranlas den Marktplatz. Dort entdeckte er die beiden hellblonden Schöpfe seiner jüngeren Vettern. Ihre Kleider waren zerrissen und sie hatten anscheinend ebenso hart gekämpft wie er selbst. Der Schmutz und die kleineren Wunden, die sie sich zugezogen hatten, zeugten davon. Gloroval kniete auf dem Boden. Er hielt etwas... nein, er hielt jemanden in den Armen. Caranlas Herz krampfte sich zusammen und befürchtete das Schlimmste.
'Iluvatar, nein, laß es nicht sein, was ich denke! Bitte laß Elenim und Arinwë in Sicherheit sein!' sandte er ein Stoßgebet zu dem Einen.
Celebroval fiel neben seinem Zwillingsbruder auf die Knie nieder und stieß einen markerschütternden Schrei aus, womit er bestätigte, dass das Schlimmste trotz aller Gebete wahr geworden war.
Caranlas stand immer noch, wie angewurzelt, an der selben Stelle. Alles in ihm sträubte sich dagegen, zu seinen Vettern zu gehen und sich anzusehen, welch schrecklichen Preis sie alle für seinen Fehler bezahlt hatten. Denn eines wurde ihm im selben Moment klar: Er hatte versagt, er hatte seine Familie nicht beschützt, wie es seine Aufgabe gewesen wäre. Er wollte nicht wissen, ob es seine Schwägerin oder seine Schwester war, die auf der kalten Erde lag.
Schließlich ging er schweren Herzens doch auf die Stelle zu. Gloroval hielt die leblose Gestalt Arinwës in seinen Armen, wiegte sie hin und her, als könne er sie dadurch wieder zum Leben erwecken. Zärtlich strich er ihr das einstmals goldene, nun von Staub schmutzige Haar aus dem blutverschmierten Gesicht. Keine Tränen. Die Zwillinge, die Legolas' lebensfrohe Gemahlin ebenso ins Herz geschlossen hatten, wie er selbst, weinten nicht, doch ihre Gesichter verrieten den unbeschreiblichen Schmerz. Der Ausdruck in dem Gesicht der Elbin verriet den Schrecken, den sie gesehen hatte, kurz bevor ihr Lebenslicht so grausam ausgelöscht worden war. Ein blutiger Schnitt zog sich quer über ihre Kehle.
"Sie hat sich gewehrt, als sie sie verschleppen wollten. Als wir uns näherten... wir hatten sie beinahe erreicht, hat er sie einfach umgebracht.", bemerkte Celebroval mit einer beherrschten Gelassenheit, die seine Gefühle Lügen strafte.
Bei ihnen versammelte sich langsam der zerschlagene Rest der Elben, die den Prinzen und die Prinzessinnen an diesem Tag zum Markt begleitet hatten. Nicht viele waren von ihnen übrig geblieben. Der Kampf hatte sich größtenteils auf dem Markt abgespielt. Die Orks hatten nicht nur Nahrungsmittel mitgenommen, sondern ausnahmslos jeden Stand geplündert. Offensichtlich hatten sie gewußt, dass in Esgaroth ein großer Markt abgehalten wurde und hatten nur auf einen geeigneten Augenblick gewartet.
Glorovals Blick glitt an dem zerschundenen Körper seiner Schwägerin herab und fiel auf etwas, das sie immer noch fest in der Hand hielt. Es war ein Stück Stoff von dem Gewand, dass Elenim an diesem Tag getragen hatte.
Der Elb schaute auf und sein Blick traf sich mit dem seines Bruders. Caranlas sprach aus, was sie beide dachten.
"Bei allen guten... Elenim! Wo ist Elenim?"
Celebroval half seinem Zwillingsbruder, Arinwës Körper vom kalten Boden aufzuheben und zu einem ihrer Pferde zu tragen. Anschließend ging er zu Caranlas und blickte ihm tief in die Augen. Was der ältere Prinz in den hellgrauen Augen seines Vetters lesen konnte war, dass er wußte, dass es schwer sein würde, Thranduil zu erklären, dass seine Schwiegertochter tot war und seine Tochter vermißt wurde aber er wußte auch, dass Caranlas der beste Mann dafür war, diese schlechten Nachrichten zu überbringen. Nach Legolas stand der rothaarige Prinz dem König am nächsten.
"Caranlas! Reite mit ihr zurück, wir werden Elenim suchen. Wenn wir sie in drei Tagen nicht gefunden haben... kehren wir ebenfalls zurück, sag' deinem Vater das."
Caranlas nickte. Er bestieg sein Pferd und machte sich auf den längsten Ritt seines Lebens. ----------------------- [1] Gwaeron = Sindarin-Name des Monats März [2] Ninniach = Regenbogen [3] Taur-nu-Fuin = Der Wald unter dem Nachtschatten [4] Yst Tewair = Waldstadt [5] Ferycilîr = glänzender Jäger [6] Cirbentair = Waldhafen [7] Melethril = Geliebte
Feuer in Esgaroth
Goldene, warme Sonnenstrahlen, wie spitze Nadeln aus purem Gold, bahnten sich ihren Weg durch ein dichtes, dunkles Laubdach. Es war das satte, dunkelgrüne Laub von ehrwürdigen alten Eichen und Buchen, das vom leichten, frischen Frühlingswind beiseite geweht wurde, um Sonnenstrahlen hindurchzulassen und die jungen Schösslinge, die in der winterkalten Erde geschlafen hatten, aufzuwecken und zum wachsen zu bringen.
Es war Gwaeron[1], der Monat, in dem die Menschen eigentlich wieder damit begannen, die Felder zu bestellen. Ja, eigentlich... nur das sie sich nicht in Friedenszeiten befanden und das nichts aber auch gar nichts seinen eigentlichen Gang ging. Dabei war es wirklich ein so herrlicher Tag und man mochte eigentlich gar nicht an den Krieg und all die Übel, die er mit sich brachte, denken.
Das wollte Arinwë Ninniach[2] schon lange nicht mehr. Seit der plötzlichen und ziemlich unerwarteten Abreise ihres geliebten Gemahls, Legolas Thranduilien, dem Sohn König Thranduils, war sie kaum noch aus dem prachtvollen, unterirdischen Palast ihres königlichen Schwiegervaters herausgekommen. Nur wenn der jüngere Sohn des Königs oder die Zwillingssöhne seiner Schwester sie begleiteten durfte sie im heiligen Hain spazieren oder die aussenliegenden Bereiche der Stadt in den Wäldern besuchen, niemals jedoch die Grenzen des Waldlandreiches verlassen. Sie mochte Caranlas, Gloroval und Celebroval wirklich sehr und sie gaben sich auch wirklich Mühe, ihr nicht zur Last zu fallen, wenn sie die Stille an der frischen Luft suchte, doch dennoch war sie nie wirklich mit ihren Gedanken allein.
Elenim, die Schwester ihres Gemahls, die ihren Namen der Farbe ihres Haares verdankte, welches von einem sehr hellen Blond war, verbrachte ebenfalls viel Zeit mit ihr. Genau wie sie sehnte sie sich sehr danach, wieder einmal auf dem Rücken eines der edlen Rösser aus Thranduils Stall, frei von allen belastenden Gedanken durch den Wald zu galoppieren, doch jedes Mal, wenn Arinwë davon sprach, winkte Elenim deprimiert ab und sagte, dass sie wohl oder übel warten mussten, bis die Grenzen wieder sicher waren. Manchmal hatte Arinwë das Gefühl, alle hätten sich gegen sie verschworen. Viele Jahre lang hatte sie anders gelebt, als sie es jetzt tat. Als sie noch einfach nur die Tochter des Schmieds gewesen war, hatte sie immer und zu jeder Zeit hingehen können, wohin sie wollte. Sie kam sich vor wie ein wertvoller und seltener kleiner Vogel in einem goldenen Käfig. Ein Gefängnis blieb aber nun einmal ein Gefängnis, egal, wie edel es eingerichtet war.
Arinwë seufzte tief. Sie war sich sicher, dass Legolas es mit seiner Anweisung, dass sie sich stets im Palast aufhalten sollte und sein Bruder und sein Vater ständig ein Auge auf ihr haben sollten, nur gut gemeint hatte. Allerdings fragte sie sich, ob er damit gerechnet hatte, länger als ein oder zwei Monate fort zu sein.
Gerade in diesem Moment eilte sie zum Thronsaal, denn Caranlas war am frühen Morgen nach Esgaroth aufgebrochen und die Grenzwächter hatten Mitteilung gemacht, das er jeden Augenblick zurückerwartet wurde. Arinwë wollte unbedingt mit ihm reden, um zu erfahren, ob in der Stadt der Menschen alles seinen gewohnten Gang ging. Zu Gwaeron fand für gewöhnlich ein großer Markt in Esgaroth statt und jedes Jahr nahm auch eine Gesandtschaft der Elben des Düsterwalds daran teil. Die Menschen aus Esgaroth kauften gerne elbischen Schmuck und auch die Gewandungen aus einem Stoff, der aus der Seide der Spinnen gemacht wurde, die im Düsterwald hausten, waren sehr beliebt. Auf diese Art und Weise hatten die Tawarwaith, die Waldelben aus dem Düsterwald, aus dem Übel etwas Nutzbringendes gemacht. Die Spinnen waren ein Überbleibsel aus der Zeit, als Morgoth, der dunkle Herrscher, noch von Dol Guldur im Norden des Düsterwaldes aus Mittelerde mit seinem Schrecken überzogen hatte.
Die Menschen, die in Esgaroth lebten, waren - so sagte zumindest Thranduil - nicht so engstirnig wie die, mit denen die Verwandten aus Imladris Verkehr pflegten. Sie waren einfache Menschen und keine hochtrabenden Numenorer. Elrond aus Imladris hatte schon seit langer Zeit diesen irrwitzigen Plan, den letzten Nachfahren der Könige des Westens wieder zum König von Gondor zu machen. Thranduil konnte nichts negatives über diesen jungen Mann sagen, der sich in Imladris aufhielt, seit er mit seiner Mutter dort von Herrn Elrond aufgenommen worde, doch er brauchte nur an all die Dinge denken, die geschehen waren und die letztlich zur Vernichtung von Westernis geführt hatten. Thranduil pflegte zu sagen, dass Elrond von Imladris allerdings schon wüßte, was er tat und er sich nicht in dessen Angelegenheiten einmischen wollte.
Die Elben aus dem Düsterwald waren jedenfalls als Händler in Esgaroth gerne gesehen, denn das Geld, das sie durch den Verkauf ihrer Waren erlangten, gaben sie natürlich an Ort und Stelle wieder aus. Sie kauften Stoffe von den Menschen und rohe Edelsteine von den Zwergen. Einiges von dem Geld spendeten sie auch für das Waisenhaus und die in Esgaroth ansässige Heilstätte. Arinwë lächelte. Was sollten Elben denn auch schon mit Geld anfangen? Der Wald gab ihnen doch nahezu alles, was sie zum Leben brauchten.
Caranlas war, begleitet von einigen Kriegern der königlichen Palastgarde, sehr früh am Morgen aufgebrochen, um in Esgaroth nach dem Rechten zu sehen. Man fragte sich, ob es wirklich sicher war, auch in diesem Jahr wieder eine Gesandtschaft in die Stadt zu schicken. Seit der neuerliche Krieg zwischen Sauron und den freien Völkern von Mittelerde ausgebrochen war, blieben die Elben in Düsterwald am liebsten innerhalb ihrer eigenen Grenzen. Selbst im Düsterwald, der nicht umsonst auch Taur-nu-Fuin[3] genannt wurde, konnte man die wachsende Macht Saurons, des dunklen Herrschers, spüren. Die Tawarwaith mischten in diesem Krieg, der von Sauron und seinem Handlanger Saruman entfesselt worden waren, nicht mit. Sie hatten selbst alle Hände voll damit zu tun, die Eroberungsversuche der dunklen Mächte abzuwehren.
König Thranduil hatte ihr erzählt, dass sich die Elben aus Imladris und Laurelindórinan wieder einmal in die Angelegenheiten der Menschen mischten, dass er jedenfalls nicht daran denke, mehr zu tun, als seinen Sohn als Botschafter nach Imladris zu schicken. Immerhin war ihnen dieser abscheuliche kleine Gnom, der allseits nur Gollum genannt wurde und den sie für den Istari Mithrandir hatten in Verwahrung nehmen sollen, entwischt und Elrond und die anderen Mitglieder des 'Weißen Rates' mußten davon erfahren.
In der letzten Zeit war der ansonsten durch und durch gutmütige Thranduil deswegen immer sehr wütend gewesen. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass Elrond von Imladris Legolas als einen der Gefährten des Ringträgers, eines Hobbits aus dem Auenland, wie man sagte, aussuchen würde. Er hatte damit gerechnet, dass er nach der Versammlung in Bruchtal in seine Heimat zurückkehren würde. Auch Arinwë hatte, zugegebenermaßen, darauf gehofft. Nun war er schon fast ein halbes Jahr fort und man hatte seitdem nichts von ihm gehört. Ein halbes Jahr war natürlich nicht lang für Elben, doch immerhin war es doch länger, als eigentlich beabsichtigt gewesen war - und einer liebenden Gemahlin erschien diese Zeit doch doppelt so lang.
Arinwë konnte sich erinnern, Thranduil hinter verschlossenen Türen fluchen gehört zu haben. Sie hatte seine Worte nicht alle verstehen können, doch der Name des Herrn von Imladris war mehr als einmal gefallen.
~*~
König Thranduil und sein zweitältester Sohn waren gerade im Begriff, den Thronsaal zu verlassen und sich in die sogenannte kleine königliche Bibliothek dahinter zurückzuziehen, als Arinwë atemlos und mit wehenden Gewändern hinzukam. Caranlas hatte dem König soeben versichert, dass es in Esgaroth wirklich friedlich sei und er freundlich empfangen worden war und nun wollten sie gemeinsam die Warenlisten durchgehen. Wenn man mit den Menschen in der Stadt handeln wollte, mußten vorher noch einige Vorbereitungen getroffen werden.
"Caranlas! Wie ich mich freue, dich zu sehen.", rief Arinwë als sie ihren Schwager erblickte. Sie umarmte ihn und küßte ihn flüchtig auf die Wange, bevor sie fortfuhr.
"Erzähl' mir doch, wie es in Esgaroth war. Ich war so lange nicht mehr außerhalb unserer geschützten Grenzen, dass ich sehr darauf brenne, Neuigkeiten aus der Stadt zu erfahren. Wie sieht es aus, dort draußen in der Welt?"
Thranduil und Caranlas wechselten einen vielsagenden Blick. Sie befürchteten, dass sie wieder mit dem alten Thema beginnen wollte. Der König hatte mehr als eine Diskussion mit seiner Schwiegertochter darüber geführt, dass er sie auf gar keinen Fall die geschützten Grenzen überschreiten lassen würde, aber mit jedem Blick aus ihren traurigen Augen wurde er schwächer. Lange würde er ihren Bitten nicht mehr widerstehen können. Allerdings hatte er seinem Sohn versprochen, auf sie Acht zu geben und er würde es sich selbst nicht verzeihen können, wenn ihr etwas zustieße. Er bereitete sich also innerlich schon darauf vor, dass sie nun versuchen würde, über Caranlas die Erlaubnis dazu zu bekommen.
"Bisher ist alles sehr friedlich. Die Menschen bereiten sich auf das Frühlingsfest und die Aussaat vor. Auch der Markt wird, wie jedes Jahr stattfinden, wenn auch das Angebot an Waren dieses Mal nicht besonders reichhaltig sein wird. Es mangelt wirklich an allem.", erzählte Caranlas.
Thranduil wollte etwas hinzufügen. Er wollte ihr sagen, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, ihn um Erlaubnis zu bitten, Caranlas begleiten zu dürfen, doch bevor er auch nur dazu ansetzen konnte, setzte sie ihr süßestes Lächeln auf, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ und sagte:
"Aber es ist doch eine gute Nachricht, dass alles so friedlich ist. Thranduil, wenn Caranlas nach Esgaroth reist, laßt mich doch mit ihm gehen. Ich liebe es zwar, in eurem Palast zu leben und es mangelt mir wirklich an nichts, doch es verlangt mich sehr, endlich einmal wieder hinauszugehen. Nicht nur heraus aus dem Palast, sondern heraus aus Yst Tewair[4], heraus aus Eryn Lasgalen."
Thranduils Gesicht verriet seine tiefe Besorgnis und seine eigene Trauer darüber, ihr diesen Wunsch abschlagen zu müssen.
"Meine Liebe, du weißt, was ich Legolas versprochen habe. Du warst dabei. Es herrscht Krieg und keiner von uns, nicht einmal der hellsichtige Herr Elrond aus Imladris kann sagen, welche Gefahren dort draußen lauern.", hielt Thranduil ihr entgegen.
Arinwë wies auf Caranlas, der sich in seiner Rolle als Mittel zum Zweck äußerst unwohl fühlte und ihrem Blick auswich.
Sie erwiderte:
"Aber ich habe doch gehört, was Caranlas gesagt hat. Er sagte, es sei sicher. Das ist doch so, nicht wahr Caranlas?"
Vater und Sohn warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie hatten geahnt, dass Arinwë etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte, doch bis zu diesem Moment hatten sie nicht gewußt, was genau sie gehört hatte. Nun wußten sie es und sie wußten auch, dass es keinen Zweck hatte, nach einer Ausrede zu suchen. Die kluge Arinwë würde auf jeden Fall letztendlich einen Weg finden, ihren Willen durchzusetzen. Vater und Sohn waren sich sicher, was sie sich mit ihren Blicken zu verstehen gaben, dass Arinwë inzwischen so verzweifelt war, dass sie notfalls auch heimlich und ohne Thranduils Erlaubnis Yst Tewair verlassen würde.
Schließlich setzte die Prinzessin ein gewinnendes Lächeln auf und sagte:
"Im übrigen würdet ihr nicht einmal gegen Legolas' Wunsch handeln, immerhin wird Caranlas mich ja nach Esgaroth begleiten."
Arinwë spürte, dass die Stimmung zu ihren Gunsten umschlug.
Thranduil nickte seufzend und gab schließlich nach. Er hatte diese Alternative gegen die andere, weit schlechtere abgewogen, nämlich das Arinwë sich auf eigene Faust aufmachen würde und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es sicherer wäre, sie in Caranlas Begleitung gehen zu lassen.
"Aber eines solltet ihr euch merken: Das ist eine einmalige Ausnahme und ich würde es vorziehen, wenn Legolas nichts davon erführe.", zischte er warnend und mit einem zerknirschten Ausdruck in seinem alterslosen Gesicht.
Arinwë umarmte ihren Schwiegervater und erklärte:
"Oh, ihr wißt doch, dass ihr euch in jedem Fall auf mich verlassen könnt."
Sie raffte ihre kostbaren Gewänder und verließ eiligen Schrittes den Thronsaal.
Zurück blieben der König der Tawarwaith und sein zweitgeborener Sohn. Thranduil gelang es nicht, das Gefühl abzuschütteln, als Verlierer aus einem Spiel hervorgegangen zu sein, bei dem der Gewinner schon von Beginn an festgestanden hatte. Caranlas zuckte mit den Schultern, als er dem ratlosen Blick seines Vaters begegnete.
"Ich glaube nicht, dass mein Bruder es leicht mit ihr hat.", meinte Caranlas und er konnte das zynische Lächeln auf seinem Gesicht dabei kaum verbergen.
Sie setzten ihren Weg in die königliche Bibliothek fort, so wie sie es ursprünglich geplant hatten. Doch Thranduil kam nicht umhin, sich weiterhin zu fragen, ob es richtig gewesen war, Arinwë den Ausflug nach Esgaroth zu erlauben.
Caranlas, der seine Unruhe spürte, versuchte ihn zu beruhigen, in dem er sagte:
"Was hättest du denn schon tun oder sagen können, Vater, das sie von ihrem Wunsch abgebracht hätte? Auch Legolas hätte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen können. Im übrigen ist sie ja - wie sie selbst schon sagte - in meiner Begleitung."
Thranduil betrachtete seinen Sohn aufmerksam, nach einem Zeichen suchend, das ihn erkennen ließ, dass er genauso beunruhigt war wie er selbst. Doch die graugrünen Augen in dem kantigen und doch sanften Gesicht, das von rotblondem Haar umrahmt war, blieben ruhig und sagten ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wahrscheinlich hatte Caranlas recht. Wenn er sagte, Esgaroth sei sicher, dann konnte er darauf vertrauen. Wieso wurde er dann dieses ungute Gefühl nicht los?
~*~
Arinwë versuchte sich so zu benehmen, wie es sich für eine elbische Prinzessin gehörte, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Schritte immer schneller wurden, konnte kaum das strahlende Lächeln aus ihrem Gesicht verbannen. Sie mußte unbedingt mit Elenim sprechen. Wenn sie mit Caranlas nach Esgaroth gehen würde, dann würde sie sicherlich auch gerne mitgehen. Auch Elenim hatte Yst Tewair schon lange nicht mehr verlassen. Es war gut zu wissen, wo sie die Prinzessin finden würde. Elenim liebte den Rosenpavillon ihrer Mutter, der so genannt wurde, weil sich das weiße, filigrane Bauwerk inmitten der duftenden Rosenrabatten befand.
Auch an diesem Tag war Elenim wieder dort. Arinwë wußte, dass die Prinzessin dort auf ihrem Diwan liegen würde, um zu lesen oder um einfach nur den Himmel zu betrachten und zu träumen. Nun, anderen Beschäftigungen konnten die Frauen in diesen Tagen ja auch nicht nachgehen, dachte sie zynisch. Tatsächlich fand sie Elenim im Garten des Palastes im Rosenpavillon, jedoch hatte sie sich nicht niedergelassen, um ein Buch zu lesen oder um ihren Tagträumen nachzugehen, sondern sie saß dort mit einem, zugegeben äußerst gutaussehenden Elben, den Arinwë noch nicht kannte. Er hatte goldblondes Haar, fast wie sonnenbeschienener Honig oder Bernstein, und seine Augen glänzten selbst auf die Entfernung tiefgrün. Sie konnte sie schon von weitem miteinander scherzen hören. Elenim's Lachen erklang silberhell und wurde vom zarten Frühlingswind weit in ihre Richtung getragen. Ein Elb, der die Prinzessin so glücklich machte? Es konnte sich bei ihm nur um Ferycilîr[5], den jungen Elben aus Cirbentair[6], den sie in einer Jahresfrist zum Gemahl nehmen wollte.
Arinwë fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Sie glaubte, dass sie die beiden Verliebten nur stören würde. Elenim und Ferycilîr so zu sehen, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Obwohl sie im Streit auseinandergegangen waren, vermißte sie Legolas so sehr. Seine warme Stimme, die zärtlichen Berührungen seiner sanften Hände, die Poesie, mit der er ihre Schönheit beschrieb und immer wieder neue Worte erfand; selbst seine liebevollen Neckereien würde sie nun willkommen heißen. Sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass sie sich einmal so einsam fühlen würde. Wenn er doch nur endlich zu ihr zurückkommen würde.
Sie wollte schon wieder umkehren, als Elenim sie erblickte und sie zu sich winkte.
"Arinwë! Wie ich mich freue, dich zu sehen. Komm doch zu uns und höre dir an, welche Neuigkeiten uns Ferycilîr zu erzählen hat. Er ist aus Cirbentair gekommen, um unserer Familie seine erneut seine Aufwartung zu machen Er will mit Vater noch einige Dinge klären für die Hochzeitsfeierlichkeiten im nächsten Jahr. Es ist wirklich schade, dass ihr beide noch keine Gelegenheit hattet, euch näher kennenzulernen."
Arinwë erwiderte leise:
"Sei mir nicht böse aber ich hielt es für besser, euch allein zu lassen..."
Elenim erhob sich und ging auf sie zu. Sie nahm sie bei der Hand und führte sie zum Pavillon.
"Sei nicht dumm. Wenn du denkst, du könntest uns stören, liegst du völlig falsch. Wollten wir alleine sein, würden wir für unsere Treffen keinen Ort wählen, von dem meine ganze Familie weiß, wie gerne ich mich dort aufhalte."
Da hatte Elenim natürlich recht.
Ferycilîr stieg die drei Stufen, die zum Pavillon hinaufführten herab und begrüßte Arinwë.
"Alae Arinwë Ninniach, ich freue mich sehr, euch kennenzulernen und endlich einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Der Zufall wollte, dass wir uns bisher noch nicht begegnet sind. Wann immer ich mit eurem Gemahl zur Jagd zog, konnte er immer nur von euch reden. Er sang Loblieder auf eure Schönheit und eine Zeit lang mußten wir gar befürchten er hätte völlig das Interesse an der Jagd und an der Natur verloren."
Arinwë lächelte. Ferycilîr hatte sehr gute Manieren und er wußte sehr wohl, allein mit Worten das Herz einer Frau zu gewinnen.
"Alae Ferycilîr aus Cirbentair. Ich freue mich ebenfalls sehr, euch kennenzulernen, immerhin werden wir bald miteinander verschwägert sein. Allerdings kam ich hierher, um mit Elenim zu reden, wenn es euch nichts ausmacht."
Ferycilîr verbeugte sich leicht und trat einen Schritt zur Seite.
"Elenim, soeben ist Caranlas aus Esgaroth zurückgekehrt und ich habe Thranduil gebeten, mich zum Frühjahrsmarkt mit ihm gehen zu lassen. Er hat schließlich eingewilligt und nun dachte ich, dass du mich sicher gerne begleiten würdest."
Ferycilîr berührte Elenim sanft an der Schulter und sagte leise:
"Ich würde es vorziehen, wenn du nicht gingest. Ich komme zwar aus einer Stadt tief im Wald, doch auch ich weiß, was draußen, außerhalb der Grenzen des Taur-nu-Fuin vor sich geht, Melethril[7]. Es herrscht Krieg und unser König will sich nicht in diese Angelegenheiten einmischen. Ich würde dich ja begleiten, doch ich werde schon übermorgen wieder bei den Grenzwächtern gebraucht."
Arinwë war überrascht. Sie hatte nicht gedacht, dass Ferycilîr, der junge Jäger, so vorsichtig sein würde. Sie mußte sich anscheinend etwas einfallen lassen, um Elenim zu überreden. Sie wußte, dass es ihr gelingen würde, so wie es ihr auch schon bei ihrem Schwiegervater gelungen war.
"Ferycilîr, es ist wirklich nichts, worum ihr euch Sorgen machen müßtet. Am Markttag werden uns Prinz Caranlas und die Vettern eurer Schwester begleiten. Wir sind also sicher."
Elenim blickte ihren Geliebten bittend an. Arinwë wußte, dass sie genauso gerne wieder einmal aus dem Wald heraus wollte, wie sie selbst.
Der Jäger seufzte und erwiderte:
"Nun gut, dann muß ich mich wohl geschlagen geben. Ich hoffe, wenn du erst meine Gemahlin bist, Elenim, wird mein Wort mehr Gehör bei dir finden."
~*~
Das Wetter an diesem Tag hätte nicht besser sein können. Es war für den frühen Frühling schon sehr warm. Die Sonne hatte sehr viel Kraft und erwärmte den Boden. Dieser Tag war wie geschaffen für den nachmittäglichen Ausflug eines verliebten Pärchens. Doch Legolas war nicht hier und auch Elenim wurde nicht von Ferycilîr begleitet, denn er war am Abend des Vortages wieder zur Grenze aufgebrochen. Dennoch war Arinwë an diesem Tag wirklich bester Laune. Sie hatte sich vorgenommen, sich aus einem dunkelgrünen Stoff, den sie mitgenommen hatte, auf dem Markt ein Kleid in der Art schneidern zu lassen, wie es die Damen in Gondor trugen. Sie hatte sich schon immer für die Mode anderer Völker interessiert.
Elenim ritt zu ihr heran und reichte ihr verspielt die Hand.
"Und? Freust du dich?", wollte sie wissen.
Arinwë fragte sich einen Moment lang, wie Elenim, deren hellblondes Haar wie eine Seidenfahne hinter ihr her wehte, diese Frage gemeint hatte. Wollte sie wissen, ob sie sich darüber freute, ihren Schwiegervater letztendlich überredet zu haben oder meinte sie wirklich nur die reine Freude an diesem schönen Tag. Nein, Elenim war nicht so. Solche Hintergedanken waren ihr fremd. Nun, Arinwë war einfach nur vorsichtig geworden. Seit sie Legolas' Gemahlin war, war ihr oft die Eifersucht anderer junger Elbinnen entgegengeschlagen. Man hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er gerade sie zu seiner Gemahlin erwählen würde. Man hatte sie nicht für standesgemäß gehalten, weil sie nur die Tochter eines Schmieds war.
"Und wie ich mich freue! Schau nur! Schau nur hoch zum Himmel! Dieses klare, helle Blau, so weit und so frisch. Wie ich das vermißt habe!", rief Arinwë freudig aus.
Elenim lachte und erwiderte:
"Man könnte fast meinen, du fühlst dich im Wald überhaupt nicht mehr wohl."
"Ach, so ist es nicht. Ich denke, du verstehst mich auch sehr gut. Unser Wald ist wunderschön, doch es kann auch ungemein erdrückend sein, wenn man nirgendwo hingehen darf."
Elenim nickte.
~*~
Bald erreichten sie die Stadt der Menschen. Viele Männer aus der Stadt blieben wie angewurzelt am Straßenrand stehen - egal was sie gerade taten - und blickten den Elbinnen staunend hinterher. In ihren glänzenden, weiten Gewändern und auf den edlen Rössern wirkten sie für die Menschen anscheinend wie überirdische Zauberinnen aus alten Legenden.
Trotzdem wirkte die Aufmerksamkeit ein wenig befremdlich auf Arinwë. Schließlich waren sie nicht die ersten Elbinnen, die nach Esgaroth kamen.
Als hätte Elenim ihre Gedanken gelesen, sagte sie plötzlich leise neben ihr:
"Wahrscheinlich haben sie noch nie zwei elbische Prinzessinnen gesehen. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wir hätten unauffälligere Gewänder gewählt."
Am Rande des Marktplatzes, auf dem schon ein geschäftiges Treiben herrschte, hielt der Zug an.
"Ich werde zum Ratsherren gehen, denn ich habe einige Sachen mit ihm zu besprechen." sagte Caranlas, während er vom Pferd stieg.
Er half Elenim und Arinwë aus dem Sattel und fuhr dann seufzend fort:
"Eigentlich wäre das Legolas' Aufgabe, doch der..." ein noch tieferes Seufzen "... ist ja nicht da."
Arinwë schenkte ihrem Schwager ein bittersüßes Lächeln und erwiderte:
"Niemand wünscht sich seine Rückkehr mehr als ich mein lieber Caranlas, das kannst du mir glauben."
Gloroval und Celebroval, die den Zug ebenfalls begleitet hatten, widmeten sich ihrer Aufgabe, den Aufbau der elbischen Markstände zu überwachen und die beiden Prinzessinnen waren bald auf sich selbst gestellt. Sie ließen die Stoffballen, aus denen sie sich Kleider schneidern lassen wollten, von einem der Karren holen und gaben Anweisungen, sie an einen bestimmten Schneider in der Gewandmachergasse zu liefern. Dann machten sich selbst auf den Weg zur Gewandmachergasse.
~*~
Caranlas war erst seit einer halben Stunde bei Halban, dem Ratsherren von Esgaroth, als er plötzlich von den nicht enden wollenden Papierstapeln aufblickte. Er hatte ein Geräusch gehört, dass ihn an das Klirren von Schwertern erinnerte. Beim ersten Mal hatte er noch den Kopf geschüttelt und sich gesagt, dass er sich das wohl nur eingebildet hatte. Letzten Endes hatte ihn wohl die übertriebene Vorsicht seines Vaters angesteckt und er hatte schon Hirngespinste. Als sich das Geräusch aber wiederholte, auch noch näherte und mit panischem Geschrei vermischte, wurde er unruhig.
"Was ist denn da draußen bloß los?", fragte Caranlas den Ratsherren Halban.
Der Ratsherr sah den Elben nur verständnislos an. Caranlas verstand. Der Mensch hatte die Geräusche, die noch sehr weit entfernt waren, natürlich nicht gehört.
"Es hört sich an, als würde es auf dem Marktplatz eine Unruhe geben. Habt ihr nicht gesagt, eure Stadt wäre sicher? Das war es doch, was ihr mir bei meinem letzten Besuch gesagt hattet, oder?", sagte er und seine Stimme klang ein wenig verärgert.
Hatte ihn der Ratsherr am Ende doch nur belogen, weil er befürchtet hatte, die Elben würden ansonsten mit ihren begehrten Waren nicht zum Markt kommen?
Halban schaute ein wenig betreten drein, was für Caranlas als Antwort reichte.
"Mein Herr, ich kann nichts hören.", entgegnete Halban kleinlaut.
Er schob den vollkommen verdutzten Ratsherren beiseite und eilte zum einzigen Fenster in dem Raum.
Der Raum, indem er sich mit Halban getroffen hatte, befand sich im zweiten Stock des Rathauses und er hatte von dort einen guten Blick auf die umliegenden Straßen. Er konnte zwar noch nichts sehen, doch er war sich nun sicher, tatsächlich Kampfgeräusche zu hören und aus welcher Richtung sie kamen.
"Ah! Nun kann ich es auch hören!", sagte Halban hinter ihm. "Was glaubt ihr was da vor sich geht?"
Caranlas zog sein Schwert und war schon im Begriff die Treppen herunterzueilen, als er erwiderte:
"Ich kann es nicht sagen aber ich werde es herausfinden."
~*~
Caranlas lief, das Schwert immer noch in der Hand, verzweifelt zwischen den brennenden Häusern der Stadt hin und her. Die Orks - oder was auch immer, denn einige von ihnen sahen aus wie Halborks - waren schon auf dem Rückzug gewesen, als er sich auf den Weg zum Marktplatz gemacht hatte. Einige von ihnen hatten sich auf ihn gestürzt, als sie seiner angesichtig geworden waren... und sie hatten dafür bezahlt. Caranlas dachte nach. Elenim und Arinwë mußten auf dem Weg zur Schneidergasse gewesen sein, als der Angriff begonnen hatte, zumindest hoffte er das. Er hoffte, dass seine Schwester und seine Schwägerin sich möglichst weit entfernt von diesen schrecklichen Ereignissen befanden. Der Überfall kam überraschend und es war alles so schnell gegangen. Der Elbenprinz machte sich große Vorwürfe. Er hätte seine Schwester und seine Schwägerin niemals alleine gehen lassen dürfen, er hätte sie begleiten sollen. Doch sie hatten ihm versichert, dass sie wirklich nur zum Gewandschneider wollten und dass sie auf sich Acht geben wollten.
Schliesslich erreichte Caranlas den Marktplatz. Dort entdeckte er die beiden hellblonden Schöpfe seiner jüngeren Vettern. Ihre Kleider waren zerrissen und sie hatten anscheinend ebenso hart gekämpft wie er selbst. Der Schmutz und die kleineren Wunden, die sie sich zugezogen hatten, zeugten davon. Gloroval kniete auf dem Boden. Er hielt etwas... nein, er hielt jemanden in den Armen. Caranlas Herz krampfte sich zusammen und befürchtete das Schlimmste.
'Iluvatar, nein, laß es nicht sein, was ich denke! Bitte laß Elenim und Arinwë in Sicherheit sein!' sandte er ein Stoßgebet zu dem Einen.
Celebroval fiel neben seinem Zwillingsbruder auf die Knie nieder und stieß einen markerschütternden Schrei aus, womit er bestätigte, dass das Schlimmste trotz aller Gebete wahr geworden war.
Caranlas stand immer noch, wie angewurzelt, an der selben Stelle. Alles in ihm sträubte sich dagegen, zu seinen Vettern zu gehen und sich anzusehen, welch schrecklichen Preis sie alle für seinen Fehler bezahlt hatten. Denn eines wurde ihm im selben Moment klar: Er hatte versagt, er hatte seine Familie nicht beschützt, wie es seine Aufgabe gewesen wäre. Er wollte nicht wissen, ob es seine Schwägerin oder seine Schwester war, die auf der kalten Erde lag.
Schließlich ging er schweren Herzens doch auf die Stelle zu. Gloroval hielt die leblose Gestalt Arinwës in seinen Armen, wiegte sie hin und her, als könne er sie dadurch wieder zum Leben erwecken. Zärtlich strich er ihr das einstmals goldene, nun von Staub schmutzige Haar aus dem blutverschmierten Gesicht. Keine Tränen. Die Zwillinge, die Legolas' lebensfrohe Gemahlin ebenso ins Herz geschlossen hatten, wie er selbst, weinten nicht, doch ihre Gesichter verrieten den unbeschreiblichen Schmerz. Der Ausdruck in dem Gesicht der Elbin verriet den Schrecken, den sie gesehen hatte, kurz bevor ihr Lebenslicht so grausam ausgelöscht worden war. Ein blutiger Schnitt zog sich quer über ihre Kehle.
"Sie hat sich gewehrt, als sie sie verschleppen wollten. Als wir uns näherten... wir hatten sie beinahe erreicht, hat er sie einfach umgebracht.", bemerkte Celebroval mit einer beherrschten Gelassenheit, die seine Gefühle Lügen strafte.
Bei ihnen versammelte sich langsam der zerschlagene Rest der Elben, die den Prinzen und die Prinzessinnen an diesem Tag zum Markt begleitet hatten. Nicht viele waren von ihnen übrig geblieben. Der Kampf hatte sich größtenteils auf dem Markt abgespielt. Die Orks hatten nicht nur Nahrungsmittel mitgenommen, sondern ausnahmslos jeden Stand geplündert. Offensichtlich hatten sie gewußt, dass in Esgaroth ein großer Markt abgehalten wurde und hatten nur auf einen geeigneten Augenblick gewartet.
Glorovals Blick glitt an dem zerschundenen Körper seiner Schwägerin herab und fiel auf etwas, das sie immer noch fest in der Hand hielt. Es war ein Stück Stoff von dem Gewand, dass Elenim an diesem Tag getragen hatte.
Der Elb schaute auf und sein Blick traf sich mit dem seines Bruders. Caranlas sprach aus, was sie beide dachten.
"Bei allen guten... Elenim! Wo ist Elenim?"
Celebroval half seinem Zwillingsbruder, Arinwës Körper vom kalten Boden aufzuheben und zu einem ihrer Pferde zu tragen. Anschließend ging er zu Caranlas und blickte ihm tief in die Augen. Was der ältere Prinz in den hellgrauen Augen seines Vetters lesen konnte war, dass er wußte, dass es schwer sein würde, Thranduil zu erklären, dass seine Schwiegertochter tot war und seine Tochter vermißt wurde aber er wußte auch, dass Caranlas der beste Mann dafür war, diese schlechten Nachrichten zu überbringen. Nach Legolas stand der rothaarige Prinz dem König am nächsten.
"Caranlas! Reite mit ihr zurück, wir werden Elenim suchen. Wenn wir sie in drei Tagen nicht gefunden haben... kehren wir ebenfalls zurück, sag' deinem Vater das."
Caranlas nickte. Er bestieg sein Pferd und machte sich auf den längsten Ritt seines Lebens. ----------------------- [1] Gwaeron = Sindarin-Name des Monats März [2] Ninniach = Regenbogen [3] Taur-nu-Fuin = Der Wald unter dem Nachtschatten [4] Yst Tewair = Waldstadt [5] Ferycilîr = glänzender Jäger [6] Cirbentair = Waldhafen [7] Melethril = Geliebte
