Zu diesem Kapitel inspirierten mich die Songs "(It's hard) letting you go"
von Bon Jovi und "My lover's gone" von Dido. Ja, ich weiss, ich schwafele
immer viel über Musik aber ich bin der Meinung, ihr müßtet euch die Songs
wirklich mal anhören, damit ihr die Kapitel wirklich richtig versteht und
was beim Schreiben in mir vorgeht. Das will ich Euch nämlich nicht
vorenthalten.
Kapitel 2
Heimkehr
Legolas hatte sich von Aragorn und den Hobbits verabschiedet und war dann gemeinsam mit Gimli nach Düsterwald aufgebrochen. Natürlich nicht, ohne Aragorn vorher zuzusichern, dass er der Hochzeit von Arwen und ihm mit seiner Familie beiwohnen würde. Nun konnte er es kaum erwarten, endlich heimzukehren, in die unterirdischen Eichenhallen seines Vaters, in sein Heim, das den prächtigen Hallen von Menegroth nachempfunden waren, dem unterirdischen Palast König Elu Thingol. Er konnte es vor allen Dingen nicht erwarten, endlich wieder zu seiner geliebten Gemahlin heimzukehren. Ihre atemberaubende Schönheit ließ alles andere, was ihn in seiner Heimat erwartete, nebensächlich erscheinen.
"Erzähl mir mehr von Elu Thingol!" forderte Gimli, der neben ihm auf einem kleinen schwarzen Pony aus edler Rohan-Zucht ritt und riß ihn so aus seinen träumerischen Gedanken. "Wer war dieser König?"
Legolas lächelte leicht. Es erfreute ihn sehr, dass sein zwergischer Freund sich für die Geschichte seines Volkes interessierte. Sie hatten sich sogar noch während des Ringkrieges - so wurde der Krieg zwischen den freien Völkern Mittelerdes und den dunklen Mächten Saurons inzwischen landläufig genannt - gegenseitig versprochen, Orte zu besuchen, die ihnen besonders viel bedeuteten. Legolas hatte sich das Versprechen ausbedungen, mit Gimli zum grossen Fangorn-Wald zurückzukehren, um ihn zu erkunden. Gimli wollte ihm im Gegenzug die Grotten von Aglarond zeigen. Doch zunächst zog es den Prinzen heim nach Yst Tewair, heim zu seiner Familie und vor allem zu seiner geliebten Gemahlin.
"Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken, verträumter Elb? Ich habe dich gebeten, mir etwas zu erzählen.", raunte Gimli neben ihm.
Legolas erwiderte geduldig:
"Ich habe deine Bitte sehr wohl vernommen, Freund Zwerg. Es wird niemals geschehen, dass du auf eine Frage keine Antwort von mir erhalten wirst, übe dich nur in Geduld."
Gimli brummte:
"Dieses ewig ermüdende Geschwafel von Geduld... du stellst meine Freundschaft wirklich auf eine sehr harte Probe! Und nun erzähl mir schon etwas von der glorreichen Vergangenheit deiner edlen Vorfahren!"
"Elu Thingol, dessen Name Graumantel bedeutet und im Quenya Elwe Singollo oder Sindacollo gesprochen wird, war der König in Doriath. Er war einer der drei, die Orome, der Jäger, vom See Cuiviénen, dem Ort des ersten Erwachens der Elben, nach Aman führte. Als er die Teleri nach Westen führte, begegnete ihm im Wald von Nan Elmoth die Maia Melian. Er verliebte sich in sie und er blieb mit ihr in Mittelerde zurück. Er erbaute seinen unterirdischen Palast Menegroth und die Sindar von Beleriand erkannten ihn als obersten Fürsten an. Sein Schwert trug den Namen Aranrúth, was Königsgrimm bedeutet. Seine Gemahlin legte einen Banngürtel um Doriath, wie sein Königreich genannt wurde, und er herrschte mehr als fünfhundert Jahre in Frieden. Er ist einer meiner Ahnen und ich glaube, er ist auch der Grund, warum mein Vater bis heute nicht gut auf die Zwerge zu sprechen ist."
Es schien, als hätte die Erzählung Gimli letztendlich doch gelangweilt, die Verwandtschaftsverhältnisse und die Geschichten der Elben waren so ermüdend; doch bei dem letztgesagten horchte er natürlich auf.
"Was willst du damit nun schon wieder sagen? Ich meine, das mit dem Volk der Zwerge.", wollte er wissen.
Legolas lächelte. Er hatte geahnt, dass gerade dieses Thema seinen Zwergenfreund ganz besonders interessieren würde.
Er erklärte:
"Nun, Thingol war der Besitzer eines der Silmaril, der Edelsteine, die Feanor geschaffen hatte, um das Licht der zwei Bäume, das älter war als Sonne und Mond, darin zu bewahren. Ich dachte, das wäre dir bekannt. Er wollte diesen Edelstein von den Zwergen in das Nauglámir einfassen lassen."
Gimli unterbrach ihn staunend:
"Das Nauglámir? Ich nehme an, du weißt trotz deiner Jugend, dass dieses Halsband die berühmteste Arbeit der Zwerge des ersten Zeitalters darstellt?!"
Legolas nickte und fuhr unbeirrt in seiner Erzählung fort:
"Die Zwergenschmiede, die den Silmaril so kunstvoll einfaßten, behaupteten nach getaner Arbeit, dass - da ja das Nauglámir gewissermaßen auch ihnen gehörte - das fertige Kleinod in ihren Besitz übergehen müsse und darüber kam es zu einem Streit, bei dem Elu Thingol von den Zwergen erschlagen wurde."
Gimli murmelte etwas in seinen dichten Bart. Legolas bemühte sich zwar sehr, die Dinge möglichst neutral darzustellen, doch der Zwergenfürst kam dennoch nicht umhin, sich unwohl in seiner Haut zu fühlen.
"Was soll ich sagen? Es war sicher keine schöne Angelegenheit... aber man hätte sich gewiß auch anders einigen können. Weiterhin glaube ich nicht, dass allein die Zwerge Schuld an diesem Unglück trugen.", sagte er und blickte vom Rücken seines Ponies zu Legolas hoch.
"Du mußt dich vor mir nicht rechtfertigen. Viele Dinge sind in drei Zeitaltern geschehen, die sich nicht rückgängig machen lassen. Unsere Freundschaft sollen diese Dinge nicht belasten."
Sie erreichten eine kleine Anhöhe, von der aus man einen sehr guten Blick über das umliegende Gelände hatte. Vor ihren Augen breitete sich ein großer Wald aus, der sich weit von Norden nach Süden erstreckte und der im Westen an das Nebelgebirge grenzte und an dessem östlichen Rand der Berg Erebor befand.
Legolas atmete die hauchzarte, Frühling verheißende Luft tief ein und sagte leise zu sich selbst:
"Si padon bar na caw, bar na mirnen nîn, bar ned i daur nui'wath e- daw[1]."
"Ooooh!", machte Gimli, "Wie oft habe ich gesagt, du sollst in meiner Anwesenheit nicht immer Elbisch sprechen. So gerne ich auch wollte, ich verstehe diese Sprache nicht. Beizeiten kannst du mir ja mal einige Worte beibringen."
Der Elbenprinz war in Gedanken schon bei seiner Gemahlin. Noch heute Nacht sollte sie endlich wieder in seinen Armen liegen, unter den schimmernden Sternen Taur-nu-Fuins.
Gimli, der wieder einmal ein wenig erbost darüber war, dass er nicht sofort eine Antwort bekam, stieß ihn an. Aus seinen Träumen gerissen blickte Legolas in das erwartungsvolle Gesicht des Zwergen.
"Entschuldige! Ich bin nun einmal sehr glücklich, endlich wieder in meiner Heimat zu sein. Du mußt mir verzeihen. Und ich kann es kaum erwarten, Arinwë endlich wiederzusehen."
Gimli grinste breit und klopfte Legolas verständnisvoll auf den Rücken.
"Sicher, sicher, Junge! Würde ein prachtvolles Zwergenweib daheim auf mich warten, was nicht der Fall ist, ginge es mir gewiß genauso. Allerdings habe ich es noch nicht für nötig befunden, mich für immer zu binden. Ich meine: Schau mich doch an! Soll ich vielen Zwerginnen das Herz brechen, nur weil ich einer einzigen den Vorrang gebe? Aber ich bin wirklich gespannt, ob deine Prinzessin wirklich so schön ist, wie du mir erzählt hast."
"Das ist sie! Sie ist es wert, dass selbst ein Elb, der sich darüber kaum Gedanken machen muß, in den Tod geht.", schwärmte Legolas.
Gimli schaute seinen Freund verblüfft an. So hatte er ihn noch niemals reden hören. Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Er hoffte doch sehr, dass der Elb nun, da der Krieg beendet war, sein Leben nicht damit verbringen wollte, dümmliche Liebesgedichte zu schreiben.
Schließlich nahm der Elb die Zügel wieder auf und sagte mit verändertem Tonfall:
"Arod ist ein schneller Läufer, wie sieht es mit deinem Pony aus? Wenn wir galoppieren, können wir noch heute Abend in der Halle meines Vaters speisen."
Gimli ließ sein rumpelndes Lachen erklingen, das wie weit entferntes Donnergrollen klang und erwiderte:
"Du wirst schon sehen: Ich reite wie der Teufel!"
Nun lachte Legolas tatsächlich leise, was ein seltenes Ereignis war.
"Nun, dann müßtest du schon irgendwo heimlich geübt haben, was mich doch sehr wundern würde. Deine ganze Körperhaltung verrät, wie sehr du den Pferden mißtraust." sagte er und gab Arod mit einem Schnalzen der Zunge das Zeichen zum Galopp.
Der graue Hengst stemmte die Hinterbeine in den Boden und preschte los.
~*~
"Er kommt," war das einzige, was Caranlas seinem Vater sagen konnte.
Fast ein Monat war vergangen seit der Tragödie in Esgaroth und noch immer waren Vater und Sohn nicht in der Lage, darüber zu sprechen, wie sie es Legolas sagen sollten. Nun blieb keine Zeit mehr. Sie wußten, dass es das erste war, wonach er fragen würde, wenn er nicht, wie er es wahrscheinlich erwartete, von seiner geliebten Gemahlin begrüßt würde.
Was mit Elenim geschehen war, wußten sie nicht. Celebroval und Gloroval waren nach sieben Tagen Suche zurückgekehrt.
"Wie weit sind sie noch vom Palast entfernt? Wann werden sie ankommen?", fragte Thranduil.
Caranlas, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Fenster des Audienzsaales seines Vaters stand, wandte seinen Kopf halb zum König um. Thranduil stand mit gesenktem Kopf und hängenden Schulern hinter ihm.
"Heute Abend wird er hier sein.", antwortete der jüngere Elbenprinz.
~*~
Legolas verstand es einfach nicht. Es herrschte eine sehr eigenartige Stimmung im Wald. Alle Elben, denen er unterwegs begegnete, entboten ihm den offiziellen Gruß, doch schnell wichen sie seinem Blick aus. Bei den ersten, denen sie begegnet waren, hatte er zunächst noch gelächelt, doch als sein Lächeln nicht erwidert wurde, gefror es ihm im Gesicht. Hatte es etwas mit ihm zu tun oder vielleicht damit, dass er einen Zwerg mit nach Taur-nu-Fuin brachte?
Er wollte nicht mit Hochrufen empfangen werden, nur weil er einer der Streiter gegen Sauron gewesen war und daran beteiligt war, das Mittelerde nicht dem dunklen Schatten anheimgefallen war. Zumindest jedoch hatte er erwartet, dass die Tawarwaith froh sein würden, ihren Prinzen wiederzusehen. Nun, da der Ringkrieg beendet war, machte sich in allen Gebieten, die vom Ringkrieg betroffen waren eine allgemeine Festtagsstimmung breit. Davon hatten sich Gimli und Legolas mit eigenen Augen überzeugen können. Legolas konnte das Verhalten seiner Leute nicht nachvollziehen. Es war, als läge ein bedrückender grauer Schleier über seiner Rückkehr und das lag gewiß nicht an der Dämmerung, die langsam einsetzte. Was war nur passiert?
Gimli faßte in Worte, was Legolas nur dachte.
"Hier herrscht ja eine sehr frostige Stimmung. Ich weiß ja inzwischen, dass ein Elb niemals in gröhlendes Gelächter ausbrechen wird aber so ernste Gesichter habe ich nicht einmal in Lothlorien gesehen."
Der Prinz wischte mit einer fahrigen Handbewegung einen tiefhängenden Ast beiseite, bevor er erwiderte:
"Du hast vollkommen recht. So habe ich mir meine Heimkehr wirklich nicht vorgestellt. Aber ich verstehe ihr Verhalten ebensowenig wie du. Vielleicht werden wir es erfahren, wenn wir den Palast meines Vaters erreichen."
"Wann wird das sein? Ist es noch sehr weit?", wollte Gimli wissen, als sich plötzlich vor seinen Augen der Wald zu einer großen Lichtung weitete.
Es war ein atemberaubender Anblick. Das rötliche Licht der sinkenden Sonne, ließ den leise vor sich hin plätschernden Fluß, der sich am anderen Ende der Licht befand, in einem irisierenden Licht aufblitzen. Das dichte Laubwerk, das vom frühlingshaften Wind sanft bewegt wurde, zauberte immer andere Lichtmuster auf das saftiggrüne Gras, mit dem die Lichtung bewachsen war. Fröhlich zwitschernde Vögel, die den Weg zu ihren Nestern suchten, begrüßten den Abend. Diese romantische Stimmung stand in einem krassen Widerspruch zu den Ausdrücken, die sich auf den Gesichtern der Elben gezeigt hatten, die sie unterwegs getroffen hatten.
"Wir sind schon da.", sagte Legolas leise.
Vor dem Palast seines Vaters, der sich direkt am Ufer des Erynduin befand und dessen Räumlichkeiten teilweise überirdisch befanden, wartete eine schweigende Menge auf den heimkehrenden Prinzen.
Als Legolas wie immer mit der ihm eigenen Eleganz aus dem Sattel glitt, legten die Wartenden ihre rechte Hand auf ihr Herz und neigten den Kopf vor ihm, doch es herrschte immer noch eine beunruhigende Stille. Gimli, der es nicht gewohnt war, dass seinem Elbenfreund eine solche Ehrerbietung entgegengebracht wurde, trat nervös von einem Bein auf das andere nachdem er zuvor ein wenig linkisch aus dem Sattel gerutscht war.
Auf der Terrasse vor dem großen Felsen, in dem sich der überirdische Teil des Palastes befand, erblickte Legolas seine Familie. Sein Vater, der König, sein Bruder Caranlas, seine Vettern Gloroval und Celebroval und deren Mutter, die Schwester seines Vaters, Ninwathiel, warteten dort auf ihn. Seine Gemahlin Arinwë und Elenim waren nicht dort. Das Fehlen Arinwës ließ sich vielleicht dadurch erklären, dass sie ihm immer noch zürnte, doch Elenim hätte keinen Grund, ihn nicht bei seiner Rückkehr zu empfangen.
"Komm!", forderte Legolas Gimli auf.
Ein Bediensteter des Palastes, der nicht einmal ein Zeichen benötigt hatte, übernahm die Zügel der beiden Pferde und führte sie fort.
Als Legolas und Gimli sich in Bewegung setzten, auf die Terrasse zu, wichen die Anwesenden so weit zurück, dass sich eine Gasse bildete.
Legolas Schritte wurden immer schwerer, je näher er seiner wartenden Familie kam. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas passiert sein mußte, von dem er eigentlich gar nicht wissen wollte, was es war. War es möglich, dass ihm nach all den Schrecken die er auf der Reise mit seinen Gefährten erlebt hatte, hier etwas noch viel schlimmeres erwartete?
"Mae govannen, ion nîn[2]! Es tut meinem Herzen gut, dich wiederzusehen.", begrüßte ihn sein Vater, doch seine Stimme klang belegt.
Thranduil schloß seinen Sohn in seine Arme, doch seine Umarmung war steif und ließ jene Herzlichkeit vermissen, mit der er ihn sonst begrüßte, wenn er längere Zeit fort gewesen war. Dies trug noch dazu bei, das Legolas sich immer unwohler fühlte.
"Auch euch, verehrter Herr Zwerg, möchte ich begrüßen.", fuhr der König schließlich an Gimli gewandt fort "Da ihr in Begleitung meines Sohnes hier erscheint, gehe ich davon aus - wenn es auch noch so eigenartig ist - dass euch Freundschaft verbindet. Leider kann ich euch aus familiären Gründen nicht so begrüßen, wie es euch wahrscheinlich gebührt. Es gibt einige Dinge, die zu klären sind. Laßt euch von Belwen die Gemächer zeigen, die wir unseren Gästen vorbehalten haben."
Legolas blickte von einem zum anderen. Ninwathiels Blick verriet Mitgefühl, doch er wußte immer noch nicht weshalb. Celebroval und Gloroval bemühten sich sogar, seinem Blick auszuweichen und Caranlas - und das irritierte ihn noch mehr als die starre Begrüßung seines Vaters - blickte nicht einmal auf, obwohl er gewiß Legolas Blick auf sich ruhen fühlte.
Gimli, der ebenfalls die bedrückte Stimmung wahrnahm, räusperte sich einmal kurz und sagte:
"Legolas, mein Freund, ich denke, wir können auch später noch miteinander reden."
Dann ließ er sich von der Elbin namens Belwen hinwegführen.
Legolas, dessen Unruhe ins Unermeßliche gewachsen war, fragte:
"Edair[3], was...?"
Doch bevor er die Frage beenden konnte, unterbrach Thranduil ihn:
"Nein! Warte, nicht hier! Das ist nichts, was wir hier besprechen sollten. Komm mit."
Thranduil entließ sein Volk, das sich versammelt hatte, um den Prinzen zu begrüßen, mit einer Handbewegung und die Versammlung löste sich langsam auf. Dann führte er seinen Sohn in den Palast. Als Legolas sich umwandte, bemerkte er, dass die anderen Mitglieder seiner Familie zurückblieben. Diese Tatsache machte ihn noch beklommener.
Anstatt zum Audienzsaal, wie er es eigentlich erwartet hatte, strebten die Schritte seines Vaters einem anderen Teil des Palastes zu, den Legolas bisher nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, nämlich als seine Mutter gestorben war und da war er noch sehr, sehr jung gewesen. Sie gingen zur Familiengruft.
Schlagartig verstand er und es hemmte jeden weiteren Schritt. Jemand der ihm nahestand war gestorben. Die Frage war, ob es sich um seine Schwester handelte oder... um Arinwë. Es war als träfe ihn der Blitz. Er konnte nicht mehr atmen, da das Entsetzen, dass ihn erfaßte die Luft aus seinen Lungen preßte. Er brachte nur ein krächzendes "Nein" heraus. Ihm war nun klar, warum Arinwë ihn nicht mit den anderen Mitgliedern seiner Familie begrüßt hatte und warum ihm keiner von ihnen in die Augen schauen konnte. Schuld und Bedauern war, was sich in ihren Augen mischte. Arinwë, seine geliebte Frau, der Stern, um den sich sein gesamtes Universum drehte, war tot. Er hatte mit seinen Freunden für Mittelerde gekämpft, alles in seiner Macht stehende unternommen, um ihr und den Kindern, über die sie beide so oft geredet hatten, eine gefahrlose Zukunft geben zu können und nun war er von einem grausamen Schicksal darum betrogen worden.
Thranduil drehte sich ruckartig um, als er den entsetzten Ausruf seines Sohnes hörte. Für einen Moment war Legolas wieder so hilflos wie der ungestüme junge Elb, der sich beim Spielen verletzt hatte und seinen Vater brauchte. Seit mehr als 2.900 Jahren hatte Thranduil sich seinem Sohn nicht mehr so nah gefühlt.
Die Blicke von Vater und Sohn trafen sich. Der fassungslose Blick in Legolas Augen brach Thranduil schier das Herz und doch konnte er keine Worte finden, um seinen Schmerz zu lindern. Auraniel, Legolas Mutter, hätte gewußt, was zu tun war.
"Bitte", flehte Legolas und seine Stimme drohte zu brechen, "sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass ich sie nicht verloren habe... Edair!"
Thranduil konnte nicht antworten. Er schloß die Augen und senkte den Kopf, doch das war für Legolas Antwort genug. Er eilte zum Eingang der Gruft und stürzte die Treppen hinunter. Am Ende der Treppe blieb Legolas stehen. Er erinnerte sich, wie sehr er sich immer vor diesem Ort gefürchtet hatte. Dies war einfach kein Ort für geliebte Menschen. Es war sehr kühl und feucht dort unten und der niedrige Raum wurde nur durch einige wenige Fackeln erhellt. Auch für die Elben war der Tod eines geliebten Familienmitgliedes etwas sehr trauriges wenn es auch sehr selten vorkam, und all diese Schwermut vereinte sich in diesem Raum, war fast mit den Händen greifbar.
Legolas hatte allerdings keinen Blick für die steinernen Antlitze seiner Vorfahren, deren friedvolle Mienen wirkten, als wollten sie ihm Trost in seiner unfaßbaren Verzweiflung spenden. Er suchte nur das, wovor er sich am meisten fürchtete, es zu finden: Das steinerne Ebenbild seiner geliebten Gemahlin. Aber er mußte sich dem Unvermeidlichen stellen.
Schließlich, am Ende einer langen Reihe von Gräbern, deren kunstvoll bearbeiteter Stein schon seit hunderten von Jahren verwittert war, fand er, was er suchte. Ein Grab, das noch ziemlich frisch war. Das gedämpfte, flackernde Licht der Fackel an der Wand fiel sanft auf das steinerne Gesicht Arinwës und zauberte bewegte Schatten darauf, so daß es fast aussah, als schliefe sie nur. Zögernd hob er die Hand und berührte nur ganz sacht das Gesicht. Er erwartete fast, ihre warme Haut zu spüren, ihren langsam gehenden Atem auf seiner Haut. Natürlich geschah nichts dergleichen.
Mit einem Mal sank Legolas mit einem markerschütternden Schrei, der die Stille in der Gruft zerriß, auf die Knie. Dann schlug er verzweifelt die Hände vor sein Gesicht. Es hatte einige Sekunden gedauert, bis er realisiert hatte, dass das friedliche, steinerne Gesicht, das sich so kalt unter seinen liebkosenden Fingern anfühlte, wirklich das seiner geliebten Gemahlin Arinwë war und das der Lebensfunke in ihren Augen ausgelöscht war. Der Schmerz, der darauf folgte, war grausam und zwang ihn mit bebenden Schultern auf den Boden. Es war, als risse eine furchtbare Macht sein Herz entzwei. Was blieb war eine tiefe, schwarze Leere. Ihm war genommen worden, was ihm in seinem unsterblichen Leben am wichtigsten war. Die Geschichten seines Volkes erzählten, dass ein Elb an einem gebrochenem Herzen starb. Wenn das stimmte, wieso lebte er dann noch und wie lange würde es dauern, bis er ebenfalls in Mandos's Hallen einging? Der Schmerz war einfach zu groß um ihn zu ertragen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den unnachgiebigen Granit des Sarkophags ein.
"Das kannst du mir nicht antun! Du kannst mich nicht einfach so verlassen", klagte er, "nicht so... Melethril, nicht so!"
~*~
Thranduil wartete eine angemessene Zeit, bis er seinem Sohn in die Gruft folgte. Er wußte, dass Legolas Zeit brauchen würde... Zeit, um zu verstehen, was geschehen war. Er würde wissen wollen, was geschehen war und der König wußte, dass er seinem Sohn die Antworten auf die Fragen, die er gewiß stellen würde, schuldete. Er fand seinen Sohn vor dem Sarg seiner Gemahlin kauernd. Seine Schultern hingen kraftlos herunter und selbst, als er ihn längst gehört haben mußte, brachte er es nicht fertig aufzustehen. Seine Stirn war an die Seite des Sargs gelehnt und seine Augen waren geschlossen. Er bot wirklich einen jämmerlichen Anblick.
Thranduil legte seine Hände auf die Schultern seines Sohnes und sagte leise, da ihm nichts besseres einfiel:
"Es tut mir so leid."
Ohne ihn anzublicken meinte Legolas mit heiserer Stimme:
"Es tut dir leid? Mehr bist du nicht im stande mir zu sagen? Vater, ich hätte zumindest erwartet, dass du mir erklären könntest, wie es dazu kam. Was ist nur passiert?"
Thranduil wünschte sich in diesem Moment, er könnte die Kraft aufbringen, seinen Sohn väterlich in die Arme zu schließen, ihm den Trost zu spenden, den er jetzt brauchte, doch er brachte es einfach nicht fertig. Gewissermaßen stieß es ihn sogar ab, dass Legolas seine Schwäche so offen zeigte. Er hatte Legolas mit väterlich, starker Hand zu einem Mann erzogen, der mit seinen Gefühlen umzugehen weiß und sie unter Kontrolle hat. Ihn jetzt so zu sehen gab ihm das Gefühl, seinen Sohn doch niemals so gut gekannt zu haben, wie er immer geglaubt hatte. Hatte seine Erziehung wirklich so sehr versagt?
Der König erzählte:
"Esgaroth wurde überfallen. An dem Tag, an dem der große Frühlingsmarkt stattfinden sollte. Es war eine Horde Orks oder was auch immer. Caranlas sagt, es haben sich auch Mischlinge unter ihnen befunden. Allerdings ging alles so schnell, daß er keine Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen. Anscheinend befanden sie sich bereits auf dem Rückzug. Für Arinwë kam jede Hilfe zu spät, was mit Elenim geschah... wissen wir nicht. Celebroval und Gloroval verfolgten ihre Spur bis zur Grenze von...."
Legolas stand auf, drehte sich um und blickte seinem Vater direkt in die Augen. Der zornige Blick in den blauen Augen, die den seinen so ähnlich waren, brachte Thranduil augenblicklich zum Schweigen.
"Esgaroth?", fragte Legolas und seine Stimme klang gefährlich leise. "Was, bei allen Valar, hatte sie denn in Esgaroth verloren? Edair... ich hatte dich gebeten... ich habe dir auf dein Wort vertraut. Wieso hast du sie dorthin gehen lassen?"
Thranduil entgegnete der Wut seines Sohnes mit Hilflosigkeit.
"Sie hat mich gebeten. Sie hat fünf Monate hier auf dich gewartet und wir haben sie nicht einmal Yst Tewair verlassen lassen. Sie hat nicht nur dich vermißt, sondern auch ihre Freiheit und sie erschien mir wie eine verwelkende Rose. Man konnte ihr nicht so einfach ihre Freiheit nehmen. Sie war wie Naneth[4]. Du weißt genau, wie leicht es Arinwë immer fiel, ihren Willen durchzusetzen, wenn sie... einen auf... diese Art und Weise anblickte. Gerade du solltest ihre Augen kennen.", erwiderte er.
Legolas fiel es schwer, sich unter Kontrolle zu halten, ein Kribbeln unter seiner Haut verriet ihm, wie aufgewühlt er innerlich war. Er wußte instinktiv, dass er etwas sagen würde, was ihm vielleicht in späterer Zeit leid tun würde. Aber er wollte den Schmerz, den er jetzt ertragen mußte, weitergeben. Er wollte, dass auch andere spürten, was er spürte. Dieses Gefühl war ihm unbekannt. Das Gefühl, dass er mit voller Absicht jemanden mit Worten verletzen wollte und es war ihm unheimlich und dennoch sprach er laut aus, was er dachte.
"Ja, Edair! Ich kenne ihre Augen und ich weiß nun auch, wessen Schuld es ist, dass sie für immer geschlossen sind. Du... hättest... sie niemals... niemals gehen lassen dürfen!"
"Han naethon, ion nîn[5]", flüsterte Thranduil und auch seine Stimme schwankte nun.
Er breitete in einer verzweifelten Geste seine Arme aus; es war seine Art, um Verzeihung zu bitten. Er war viel zu stolz, um direkt darum zu bitten.
Legolas schüttelte den Kopf und schob seinen Vater von sich fort. Ohne sich umzublicken lief er schnellen Schrittes zur Treppe und verließ die Gruft. Nachdem Legolas den königlichen Palast verlassen hatte, bemühte er sich, möglichst unauffällig die Stadt im Wald zu verlassen. Arghalad, ein enger Freund und Hauptmann der königlichen Garde, der offensichtlich mit der Absicht zu ihm kam, tröstende Worte an ihn zu richten, stieß er rücksichtslos beiseite. Was er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, waren abgedroschene Phrasen, wie leid es ihnen doch allen tat. Sie meinten es sicherlich ernst, doch in seinen Ohren klangen die Worte im Moment einfach bedeutungslos. Er wollte mit niemandem darüber sprechen... vielleicht später. Er wollte jetzt einfach nur allein sein... allein mit dem Schmerz... allein mit den Erinnerungen, denn das war letztendlich alles, was ihm von Arinwë geblieben war. Die Erinnerung und ein bewegungsloses Antlitz aus kaltem Stein. Selbst als er die Stadt verlassen hatte, lief er immer noch weiter, als wolle er dem Schmerz, der sich tief in sein Herz gegraben hatte, davonlaufen. Er wußte, dass das unmöglich war.
Es war schon lange dunkel, als er den kleinen Teich mit der Trauerweide erreichte. Dies war der Ort, an dem er und Arinwë das letzte Mal allein gewesen waren und hier fühlte er sich ihr wieder ganz nah, auch wenn sie damals wütend auf ihn gewesen war. Das Schwanenpärchen schlief, die Köpfe unter die Flügel gesteckt, am anderen Ufer. Ein Schatten, der von einem schlanken und biegsamen jungen Baum geworfen wurde, erschien ihm wie die Vision seiner geliebten Gemahlin. Es war ihm, als käme sie aus Mandos' Hallen in dieser Nacht noch ein einziges Mal zu ihm, um ihm Lebewohl zu sagen... oder um ihm vielleicht zu sagen, dass sie nicht lange getrennt bleiben würden.
Er konnte ihr ebenmäßiges Gesicht sehen, ihre elfenbeinfarbene Haut, ihr weiches, goldenes Haar, das ihre rosigen Wangen umschmeichelte. Sie lächelte ihm sanft und - Legolas konnte den Ausdruck nicht anders deuten - vielleicht auch versöhnlich zu. Welch wunderschöne Einbildung! Legolas streckte die Hand aus, als wolle er sie für immer festhalten. Er glaubte wirklich einen Moment lang, dass er sie berühren könnte. Doch genau in diesem Augenblick schob sich unbarmherzig der Vollmond durch die Wolken und erhellte den Ort. Sein Licht schärfte die Umrisse des Schattens und löste die Vision auf. Es war nichts weiter als der Schatten eines jungen Baumes. Seine Hand griff ins Leere und er strauchelte. Dann blickte er zitternd zum Mond auf und verfluchte dessen silbriges Licht, das ihm in dieser Nacht eisig und grausam erschien. Er hätte damals darauf bestehen sollen, dass Vater einen anderen an seiner statt nach Imladris schickte. Er hätte bei Arinwë bleiben sollen, so wie sie es gewollt hatte.
Nichts... gar nichts war mehr so, wie es sein sollte. Alles fühlte sich falsch an. Er verfluchte den Mond, den Teich, an dem er sich früher so gerne mit ihr getroffen hatte, er verfluchte die Glühwürmchen, die wild unter den tiefhängenden Ästen der Trauerweide tanzten, ja, er verfluchte sogar das Schwanenpärchen. Wer gab ihnen das Recht, glücklich zu sein? Mit einem Mal stellte er alles in Frage, was er in den letzten sechs Monaten erlebt hatte. Wäre es nicht besser gewesen, Sauron hätte den Krieg gewonnen? Hätte er nicht schon vor langer Zeit nach Valinor segeln sollen? Das alles wäre dann nie geschehen. ----------------------- [1] Kehre ich also endlich heim, heim zu meiner Geliebten, heim in den Wald unter dem Nachtschatten [2] Mae govannen, ion nîn = Willkommen, mein Sohn [3] Edair = Vater [4] Naneth = Mutter [5] Han naethon, ion nîn = Es tut mir leid, mein Sohn
Kapitel 2
Heimkehr
Legolas hatte sich von Aragorn und den Hobbits verabschiedet und war dann gemeinsam mit Gimli nach Düsterwald aufgebrochen. Natürlich nicht, ohne Aragorn vorher zuzusichern, dass er der Hochzeit von Arwen und ihm mit seiner Familie beiwohnen würde. Nun konnte er es kaum erwarten, endlich heimzukehren, in die unterirdischen Eichenhallen seines Vaters, in sein Heim, das den prächtigen Hallen von Menegroth nachempfunden waren, dem unterirdischen Palast König Elu Thingol. Er konnte es vor allen Dingen nicht erwarten, endlich wieder zu seiner geliebten Gemahlin heimzukehren. Ihre atemberaubende Schönheit ließ alles andere, was ihn in seiner Heimat erwartete, nebensächlich erscheinen.
"Erzähl mir mehr von Elu Thingol!" forderte Gimli, der neben ihm auf einem kleinen schwarzen Pony aus edler Rohan-Zucht ritt und riß ihn so aus seinen träumerischen Gedanken. "Wer war dieser König?"
Legolas lächelte leicht. Es erfreute ihn sehr, dass sein zwergischer Freund sich für die Geschichte seines Volkes interessierte. Sie hatten sich sogar noch während des Ringkrieges - so wurde der Krieg zwischen den freien Völkern Mittelerdes und den dunklen Mächten Saurons inzwischen landläufig genannt - gegenseitig versprochen, Orte zu besuchen, die ihnen besonders viel bedeuteten. Legolas hatte sich das Versprechen ausbedungen, mit Gimli zum grossen Fangorn-Wald zurückzukehren, um ihn zu erkunden. Gimli wollte ihm im Gegenzug die Grotten von Aglarond zeigen. Doch zunächst zog es den Prinzen heim nach Yst Tewair, heim zu seiner Familie und vor allem zu seiner geliebten Gemahlin.
"Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken, verträumter Elb? Ich habe dich gebeten, mir etwas zu erzählen.", raunte Gimli neben ihm.
Legolas erwiderte geduldig:
"Ich habe deine Bitte sehr wohl vernommen, Freund Zwerg. Es wird niemals geschehen, dass du auf eine Frage keine Antwort von mir erhalten wirst, übe dich nur in Geduld."
Gimli brummte:
"Dieses ewig ermüdende Geschwafel von Geduld... du stellst meine Freundschaft wirklich auf eine sehr harte Probe! Und nun erzähl mir schon etwas von der glorreichen Vergangenheit deiner edlen Vorfahren!"
"Elu Thingol, dessen Name Graumantel bedeutet und im Quenya Elwe Singollo oder Sindacollo gesprochen wird, war der König in Doriath. Er war einer der drei, die Orome, der Jäger, vom See Cuiviénen, dem Ort des ersten Erwachens der Elben, nach Aman führte. Als er die Teleri nach Westen führte, begegnete ihm im Wald von Nan Elmoth die Maia Melian. Er verliebte sich in sie und er blieb mit ihr in Mittelerde zurück. Er erbaute seinen unterirdischen Palast Menegroth und die Sindar von Beleriand erkannten ihn als obersten Fürsten an. Sein Schwert trug den Namen Aranrúth, was Königsgrimm bedeutet. Seine Gemahlin legte einen Banngürtel um Doriath, wie sein Königreich genannt wurde, und er herrschte mehr als fünfhundert Jahre in Frieden. Er ist einer meiner Ahnen und ich glaube, er ist auch der Grund, warum mein Vater bis heute nicht gut auf die Zwerge zu sprechen ist."
Es schien, als hätte die Erzählung Gimli letztendlich doch gelangweilt, die Verwandtschaftsverhältnisse und die Geschichten der Elben waren so ermüdend; doch bei dem letztgesagten horchte er natürlich auf.
"Was willst du damit nun schon wieder sagen? Ich meine, das mit dem Volk der Zwerge.", wollte er wissen.
Legolas lächelte. Er hatte geahnt, dass gerade dieses Thema seinen Zwergenfreund ganz besonders interessieren würde.
Er erklärte:
"Nun, Thingol war der Besitzer eines der Silmaril, der Edelsteine, die Feanor geschaffen hatte, um das Licht der zwei Bäume, das älter war als Sonne und Mond, darin zu bewahren. Ich dachte, das wäre dir bekannt. Er wollte diesen Edelstein von den Zwergen in das Nauglámir einfassen lassen."
Gimli unterbrach ihn staunend:
"Das Nauglámir? Ich nehme an, du weißt trotz deiner Jugend, dass dieses Halsband die berühmteste Arbeit der Zwerge des ersten Zeitalters darstellt?!"
Legolas nickte und fuhr unbeirrt in seiner Erzählung fort:
"Die Zwergenschmiede, die den Silmaril so kunstvoll einfaßten, behaupteten nach getaner Arbeit, dass - da ja das Nauglámir gewissermaßen auch ihnen gehörte - das fertige Kleinod in ihren Besitz übergehen müsse und darüber kam es zu einem Streit, bei dem Elu Thingol von den Zwergen erschlagen wurde."
Gimli murmelte etwas in seinen dichten Bart. Legolas bemühte sich zwar sehr, die Dinge möglichst neutral darzustellen, doch der Zwergenfürst kam dennoch nicht umhin, sich unwohl in seiner Haut zu fühlen.
"Was soll ich sagen? Es war sicher keine schöne Angelegenheit... aber man hätte sich gewiß auch anders einigen können. Weiterhin glaube ich nicht, dass allein die Zwerge Schuld an diesem Unglück trugen.", sagte er und blickte vom Rücken seines Ponies zu Legolas hoch.
"Du mußt dich vor mir nicht rechtfertigen. Viele Dinge sind in drei Zeitaltern geschehen, die sich nicht rückgängig machen lassen. Unsere Freundschaft sollen diese Dinge nicht belasten."
Sie erreichten eine kleine Anhöhe, von der aus man einen sehr guten Blick über das umliegende Gelände hatte. Vor ihren Augen breitete sich ein großer Wald aus, der sich weit von Norden nach Süden erstreckte und der im Westen an das Nebelgebirge grenzte und an dessem östlichen Rand der Berg Erebor befand.
Legolas atmete die hauchzarte, Frühling verheißende Luft tief ein und sagte leise zu sich selbst:
"Si padon bar na caw, bar na mirnen nîn, bar ned i daur nui'wath e- daw[1]."
"Ooooh!", machte Gimli, "Wie oft habe ich gesagt, du sollst in meiner Anwesenheit nicht immer Elbisch sprechen. So gerne ich auch wollte, ich verstehe diese Sprache nicht. Beizeiten kannst du mir ja mal einige Worte beibringen."
Der Elbenprinz war in Gedanken schon bei seiner Gemahlin. Noch heute Nacht sollte sie endlich wieder in seinen Armen liegen, unter den schimmernden Sternen Taur-nu-Fuins.
Gimli, der wieder einmal ein wenig erbost darüber war, dass er nicht sofort eine Antwort bekam, stieß ihn an. Aus seinen Träumen gerissen blickte Legolas in das erwartungsvolle Gesicht des Zwergen.
"Entschuldige! Ich bin nun einmal sehr glücklich, endlich wieder in meiner Heimat zu sein. Du mußt mir verzeihen. Und ich kann es kaum erwarten, Arinwë endlich wiederzusehen."
Gimli grinste breit und klopfte Legolas verständnisvoll auf den Rücken.
"Sicher, sicher, Junge! Würde ein prachtvolles Zwergenweib daheim auf mich warten, was nicht der Fall ist, ginge es mir gewiß genauso. Allerdings habe ich es noch nicht für nötig befunden, mich für immer zu binden. Ich meine: Schau mich doch an! Soll ich vielen Zwerginnen das Herz brechen, nur weil ich einer einzigen den Vorrang gebe? Aber ich bin wirklich gespannt, ob deine Prinzessin wirklich so schön ist, wie du mir erzählt hast."
"Das ist sie! Sie ist es wert, dass selbst ein Elb, der sich darüber kaum Gedanken machen muß, in den Tod geht.", schwärmte Legolas.
Gimli schaute seinen Freund verblüfft an. So hatte er ihn noch niemals reden hören. Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Er hoffte doch sehr, dass der Elb nun, da der Krieg beendet war, sein Leben nicht damit verbringen wollte, dümmliche Liebesgedichte zu schreiben.
Schließlich nahm der Elb die Zügel wieder auf und sagte mit verändertem Tonfall:
"Arod ist ein schneller Läufer, wie sieht es mit deinem Pony aus? Wenn wir galoppieren, können wir noch heute Abend in der Halle meines Vaters speisen."
Gimli ließ sein rumpelndes Lachen erklingen, das wie weit entferntes Donnergrollen klang und erwiderte:
"Du wirst schon sehen: Ich reite wie der Teufel!"
Nun lachte Legolas tatsächlich leise, was ein seltenes Ereignis war.
"Nun, dann müßtest du schon irgendwo heimlich geübt haben, was mich doch sehr wundern würde. Deine ganze Körperhaltung verrät, wie sehr du den Pferden mißtraust." sagte er und gab Arod mit einem Schnalzen der Zunge das Zeichen zum Galopp.
Der graue Hengst stemmte die Hinterbeine in den Boden und preschte los.
~*~
"Er kommt," war das einzige, was Caranlas seinem Vater sagen konnte.
Fast ein Monat war vergangen seit der Tragödie in Esgaroth und noch immer waren Vater und Sohn nicht in der Lage, darüber zu sprechen, wie sie es Legolas sagen sollten. Nun blieb keine Zeit mehr. Sie wußten, dass es das erste war, wonach er fragen würde, wenn er nicht, wie er es wahrscheinlich erwartete, von seiner geliebten Gemahlin begrüßt würde.
Was mit Elenim geschehen war, wußten sie nicht. Celebroval und Gloroval waren nach sieben Tagen Suche zurückgekehrt.
"Wie weit sind sie noch vom Palast entfernt? Wann werden sie ankommen?", fragte Thranduil.
Caranlas, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Fenster des Audienzsaales seines Vaters stand, wandte seinen Kopf halb zum König um. Thranduil stand mit gesenktem Kopf und hängenden Schulern hinter ihm.
"Heute Abend wird er hier sein.", antwortete der jüngere Elbenprinz.
~*~
Legolas verstand es einfach nicht. Es herrschte eine sehr eigenartige Stimmung im Wald. Alle Elben, denen er unterwegs begegnete, entboten ihm den offiziellen Gruß, doch schnell wichen sie seinem Blick aus. Bei den ersten, denen sie begegnet waren, hatte er zunächst noch gelächelt, doch als sein Lächeln nicht erwidert wurde, gefror es ihm im Gesicht. Hatte es etwas mit ihm zu tun oder vielleicht damit, dass er einen Zwerg mit nach Taur-nu-Fuin brachte?
Er wollte nicht mit Hochrufen empfangen werden, nur weil er einer der Streiter gegen Sauron gewesen war und daran beteiligt war, das Mittelerde nicht dem dunklen Schatten anheimgefallen war. Zumindest jedoch hatte er erwartet, dass die Tawarwaith froh sein würden, ihren Prinzen wiederzusehen. Nun, da der Ringkrieg beendet war, machte sich in allen Gebieten, die vom Ringkrieg betroffen waren eine allgemeine Festtagsstimmung breit. Davon hatten sich Gimli und Legolas mit eigenen Augen überzeugen können. Legolas konnte das Verhalten seiner Leute nicht nachvollziehen. Es war, als läge ein bedrückender grauer Schleier über seiner Rückkehr und das lag gewiß nicht an der Dämmerung, die langsam einsetzte. Was war nur passiert?
Gimli faßte in Worte, was Legolas nur dachte.
"Hier herrscht ja eine sehr frostige Stimmung. Ich weiß ja inzwischen, dass ein Elb niemals in gröhlendes Gelächter ausbrechen wird aber so ernste Gesichter habe ich nicht einmal in Lothlorien gesehen."
Der Prinz wischte mit einer fahrigen Handbewegung einen tiefhängenden Ast beiseite, bevor er erwiderte:
"Du hast vollkommen recht. So habe ich mir meine Heimkehr wirklich nicht vorgestellt. Aber ich verstehe ihr Verhalten ebensowenig wie du. Vielleicht werden wir es erfahren, wenn wir den Palast meines Vaters erreichen."
"Wann wird das sein? Ist es noch sehr weit?", wollte Gimli wissen, als sich plötzlich vor seinen Augen der Wald zu einer großen Lichtung weitete.
Es war ein atemberaubender Anblick. Das rötliche Licht der sinkenden Sonne, ließ den leise vor sich hin plätschernden Fluß, der sich am anderen Ende der Licht befand, in einem irisierenden Licht aufblitzen. Das dichte Laubwerk, das vom frühlingshaften Wind sanft bewegt wurde, zauberte immer andere Lichtmuster auf das saftiggrüne Gras, mit dem die Lichtung bewachsen war. Fröhlich zwitschernde Vögel, die den Weg zu ihren Nestern suchten, begrüßten den Abend. Diese romantische Stimmung stand in einem krassen Widerspruch zu den Ausdrücken, die sich auf den Gesichtern der Elben gezeigt hatten, die sie unterwegs getroffen hatten.
"Wir sind schon da.", sagte Legolas leise.
Vor dem Palast seines Vaters, der sich direkt am Ufer des Erynduin befand und dessen Räumlichkeiten teilweise überirdisch befanden, wartete eine schweigende Menge auf den heimkehrenden Prinzen.
Als Legolas wie immer mit der ihm eigenen Eleganz aus dem Sattel glitt, legten die Wartenden ihre rechte Hand auf ihr Herz und neigten den Kopf vor ihm, doch es herrschte immer noch eine beunruhigende Stille. Gimli, der es nicht gewohnt war, dass seinem Elbenfreund eine solche Ehrerbietung entgegengebracht wurde, trat nervös von einem Bein auf das andere nachdem er zuvor ein wenig linkisch aus dem Sattel gerutscht war.
Auf der Terrasse vor dem großen Felsen, in dem sich der überirdische Teil des Palastes befand, erblickte Legolas seine Familie. Sein Vater, der König, sein Bruder Caranlas, seine Vettern Gloroval und Celebroval und deren Mutter, die Schwester seines Vaters, Ninwathiel, warteten dort auf ihn. Seine Gemahlin Arinwë und Elenim waren nicht dort. Das Fehlen Arinwës ließ sich vielleicht dadurch erklären, dass sie ihm immer noch zürnte, doch Elenim hätte keinen Grund, ihn nicht bei seiner Rückkehr zu empfangen.
"Komm!", forderte Legolas Gimli auf.
Ein Bediensteter des Palastes, der nicht einmal ein Zeichen benötigt hatte, übernahm die Zügel der beiden Pferde und führte sie fort.
Als Legolas und Gimli sich in Bewegung setzten, auf die Terrasse zu, wichen die Anwesenden so weit zurück, dass sich eine Gasse bildete.
Legolas Schritte wurden immer schwerer, je näher er seiner wartenden Familie kam. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas passiert sein mußte, von dem er eigentlich gar nicht wissen wollte, was es war. War es möglich, dass ihm nach all den Schrecken die er auf der Reise mit seinen Gefährten erlebt hatte, hier etwas noch viel schlimmeres erwartete?
"Mae govannen, ion nîn[2]! Es tut meinem Herzen gut, dich wiederzusehen.", begrüßte ihn sein Vater, doch seine Stimme klang belegt.
Thranduil schloß seinen Sohn in seine Arme, doch seine Umarmung war steif und ließ jene Herzlichkeit vermissen, mit der er ihn sonst begrüßte, wenn er längere Zeit fort gewesen war. Dies trug noch dazu bei, das Legolas sich immer unwohler fühlte.
"Auch euch, verehrter Herr Zwerg, möchte ich begrüßen.", fuhr der König schließlich an Gimli gewandt fort "Da ihr in Begleitung meines Sohnes hier erscheint, gehe ich davon aus - wenn es auch noch so eigenartig ist - dass euch Freundschaft verbindet. Leider kann ich euch aus familiären Gründen nicht so begrüßen, wie es euch wahrscheinlich gebührt. Es gibt einige Dinge, die zu klären sind. Laßt euch von Belwen die Gemächer zeigen, die wir unseren Gästen vorbehalten haben."
Legolas blickte von einem zum anderen. Ninwathiels Blick verriet Mitgefühl, doch er wußte immer noch nicht weshalb. Celebroval und Gloroval bemühten sich sogar, seinem Blick auszuweichen und Caranlas - und das irritierte ihn noch mehr als die starre Begrüßung seines Vaters - blickte nicht einmal auf, obwohl er gewiß Legolas Blick auf sich ruhen fühlte.
Gimli, der ebenfalls die bedrückte Stimmung wahrnahm, räusperte sich einmal kurz und sagte:
"Legolas, mein Freund, ich denke, wir können auch später noch miteinander reden."
Dann ließ er sich von der Elbin namens Belwen hinwegführen.
Legolas, dessen Unruhe ins Unermeßliche gewachsen war, fragte:
"Edair[3], was...?"
Doch bevor er die Frage beenden konnte, unterbrach Thranduil ihn:
"Nein! Warte, nicht hier! Das ist nichts, was wir hier besprechen sollten. Komm mit."
Thranduil entließ sein Volk, das sich versammelt hatte, um den Prinzen zu begrüßen, mit einer Handbewegung und die Versammlung löste sich langsam auf. Dann führte er seinen Sohn in den Palast. Als Legolas sich umwandte, bemerkte er, dass die anderen Mitglieder seiner Familie zurückblieben. Diese Tatsache machte ihn noch beklommener.
Anstatt zum Audienzsaal, wie er es eigentlich erwartet hatte, strebten die Schritte seines Vaters einem anderen Teil des Palastes zu, den Legolas bisher nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, nämlich als seine Mutter gestorben war und da war er noch sehr, sehr jung gewesen. Sie gingen zur Familiengruft.
Schlagartig verstand er und es hemmte jeden weiteren Schritt. Jemand der ihm nahestand war gestorben. Die Frage war, ob es sich um seine Schwester handelte oder... um Arinwë. Es war als träfe ihn der Blitz. Er konnte nicht mehr atmen, da das Entsetzen, dass ihn erfaßte die Luft aus seinen Lungen preßte. Er brachte nur ein krächzendes "Nein" heraus. Ihm war nun klar, warum Arinwë ihn nicht mit den anderen Mitgliedern seiner Familie begrüßt hatte und warum ihm keiner von ihnen in die Augen schauen konnte. Schuld und Bedauern war, was sich in ihren Augen mischte. Arinwë, seine geliebte Frau, der Stern, um den sich sein gesamtes Universum drehte, war tot. Er hatte mit seinen Freunden für Mittelerde gekämpft, alles in seiner Macht stehende unternommen, um ihr und den Kindern, über die sie beide so oft geredet hatten, eine gefahrlose Zukunft geben zu können und nun war er von einem grausamen Schicksal darum betrogen worden.
Thranduil drehte sich ruckartig um, als er den entsetzten Ausruf seines Sohnes hörte. Für einen Moment war Legolas wieder so hilflos wie der ungestüme junge Elb, der sich beim Spielen verletzt hatte und seinen Vater brauchte. Seit mehr als 2.900 Jahren hatte Thranduil sich seinem Sohn nicht mehr so nah gefühlt.
Die Blicke von Vater und Sohn trafen sich. Der fassungslose Blick in Legolas Augen brach Thranduil schier das Herz und doch konnte er keine Worte finden, um seinen Schmerz zu lindern. Auraniel, Legolas Mutter, hätte gewußt, was zu tun war.
"Bitte", flehte Legolas und seine Stimme drohte zu brechen, "sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass ich sie nicht verloren habe... Edair!"
Thranduil konnte nicht antworten. Er schloß die Augen und senkte den Kopf, doch das war für Legolas Antwort genug. Er eilte zum Eingang der Gruft und stürzte die Treppen hinunter. Am Ende der Treppe blieb Legolas stehen. Er erinnerte sich, wie sehr er sich immer vor diesem Ort gefürchtet hatte. Dies war einfach kein Ort für geliebte Menschen. Es war sehr kühl und feucht dort unten und der niedrige Raum wurde nur durch einige wenige Fackeln erhellt. Auch für die Elben war der Tod eines geliebten Familienmitgliedes etwas sehr trauriges wenn es auch sehr selten vorkam, und all diese Schwermut vereinte sich in diesem Raum, war fast mit den Händen greifbar.
Legolas hatte allerdings keinen Blick für die steinernen Antlitze seiner Vorfahren, deren friedvolle Mienen wirkten, als wollten sie ihm Trost in seiner unfaßbaren Verzweiflung spenden. Er suchte nur das, wovor er sich am meisten fürchtete, es zu finden: Das steinerne Ebenbild seiner geliebten Gemahlin. Aber er mußte sich dem Unvermeidlichen stellen.
Schließlich, am Ende einer langen Reihe von Gräbern, deren kunstvoll bearbeiteter Stein schon seit hunderten von Jahren verwittert war, fand er, was er suchte. Ein Grab, das noch ziemlich frisch war. Das gedämpfte, flackernde Licht der Fackel an der Wand fiel sanft auf das steinerne Gesicht Arinwës und zauberte bewegte Schatten darauf, so daß es fast aussah, als schliefe sie nur. Zögernd hob er die Hand und berührte nur ganz sacht das Gesicht. Er erwartete fast, ihre warme Haut zu spüren, ihren langsam gehenden Atem auf seiner Haut. Natürlich geschah nichts dergleichen.
Mit einem Mal sank Legolas mit einem markerschütternden Schrei, der die Stille in der Gruft zerriß, auf die Knie. Dann schlug er verzweifelt die Hände vor sein Gesicht. Es hatte einige Sekunden gedauert, bis er realisiert hatte, dass das friedliche, steinerne Gesicht, das sich so kalt unter seinen liebkosenden Fingern anfühlte, wirklich das seiner geliebten Gemahlin Arinwë war und das der Lebensfunke in ihren Augen ausgelöscht war. Der Schmerz, der darauf folgte, war grausam und zwang ihn mit bebenden Schultern auf den Boden. Es war, als risse eine furchtbare Macht sein Herz entzwei. Was blieb war eine tiefe, schwarze Leere. Ihm war genommen worden, was ihm in seinem unsterblichen Leben am wichtigsten war. Die Geschichten seines Volkes erzählten, dass ein Elb an einem gebrochenem Herzen starb. Wenn das stimmte, wieso lebte er dann noch und wie lange würde es dauern, bis er ebenfalls in Mandos's Hallen einging? Der Schmerz war einfach zu groß um ihn zu ertragen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den unnachgiebigen Granit des Sarkophags ein.
"Das kannst du mir nicht antun! Du kannst mich nicht einfach so verlassen", klagte er, "nicht so... Melethril, nicht so!"
~*~
Thranduil wartete eine angemessene Zeit, bis er seinem Sohn in die Gruft folgte. Er wußte, dass Legolas Zeit brauchen würde... Zeit, um zu verstehen, was geschehen war. Er würde wissen wollen, was geschehen war und der König wußte, dass er seinem Sohn die Antworten auf die Fragen, die er gewiß stellen würde, schuldete. Er fand seinen Sohn vor dem Sarg seiner Gemahlin kauernd. Seine Schultern hingen kraftlos herunter und selbst, als er ihn längst gehört haben mußte, brachte er es nicht fertig aufzustehen. Seine Stirn war an die Seite des Sargs gelehnt und seine Augen waren geschlossen. Er bot wirklich einen jämmerlichen Anblick.
Thranduil legte seine Hände auf die Schultern seines Sohnes und sagte leise, da ihm nichts besseres einfiel:
"Es tut mir so leid."
Ohne ihn anzublicken meinte Legolas mit heiserer Stimme:
"Es tut dir leid? Mehr bist du nicht im stande mir zu sagen? Vater, ich hätte zumindest erwartet, dass du mir erklären könntest, wie es dazu kam. Was ist nur passiert?"
Thranduil wünschte sich in diesem Moment, er könnte die Kraft aufbringen, seinen Sohn väterlich in die Arme zu schließen, ihm den Trost zu spenden, den er jetzt brauchte, doch er brachte es einfach nicht fertig. Gewissermaßen stieß es ihn sogar ab, dass Legolas seine Schwäche so offen zeigte. Er hatte Legolas mit väterlich, starker Hand zu einem Mann erzogen, der mit seinen Gefühlen umzugehen weiß und sie unter Kontrolle hat. Ihn jetzt so zu sehen gab ihm das Gefühl, seinen Sohn doch niemals so gut gekannt zu haben, wie er immer geglaubt hatte. Hatte seine Erziehung wirklich so sehr versagt?
Der König erzählte:
"Esgaroth wurde überfallen. An dem Tag, an dem der große Frühlingsmarkt stattfinden sollte. Es war eine Horde Orks oder was auch immer. Caranlas sagt, es haben sich auch Mischlinge unter ihnen befunden. Allerdings ging alles so schnell, daß er keine Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen. Anscheinend befanden sie sich bereits auf dem Rückzug. Für Arinwë kam jede Hilfe zu spät, was mit Elenim geschah... wissen wir nicht. Celebroval und Gloroval verfolgten ihre Spur bis zur Grenze von...."
Legolas stand auf, drehte sich um und blickte seinem Vater direkt in die Augen. Der zornige Blick in den blauen Augen, die den seinen so ähnlich waren, brachte Thranduil augenblicklich zum Schweigen.
"Esgaroth?", fragte Legolas und seine Stimme klang gefährlich leise. "Was, bei allen Valar, hatte sie denn in Esgaroth verloren? Edair... ich hatte dich gebeten... ich habe dir auf dein Wort vertraut. Wieso hast du sie dorthin gehen lassen?"
Thranduil entgegnete der Wut seines Sohnes mit Hilflosigkeit.
"Sie hat mich gebeten. Sie hat fünf Monate hier auf dich gewartet und wir haben sie nicht einmal Yst Tewair verlassen lassen. Sie hat nicht nur dich vermißt, sondern auch ihre Freiheit und sie erschien mir wie eine verwelkende Rose. Man konnte ihr nicht so einfach ihre Freiheit nehmen. Sie war wie Naneth[4]. Du weißt genau, wie leicht es Arinwë immer fiel, ihren Willen durchzusetzen, wenn sie... einen auf... diese Art und Weise anblickte. Gerade du solltest ihre Augen kennen.", erwiderte er.
Legolas fiel es schwer, sich unter Kontrolle zu halten, ein Kribbeln unter seiner Haut verriet ihm, wie aufgewühlt er innerlich war. Er wußte instinktiv, dass er etwas sagen würde, was ihm vielleicht in späterer Zeit leid tun würde. Aber er wollte den Schmerz, den er jetzt ertragen mußte, weitergeben. Er wollte, dass auch andere spürten, was er spürte. Dieses Gefühl war ihm unbekannt. Das Gefühl, dass er mit voller Absicht jemanden mit Worten verletzen wollte und es war ihm unheimlich und dennoch sprach er laut aus, was er dachte.
"Ja, Edair! Ich kenne ihre Augen und ich weiß nun auch, wessen Schuld es ist, dass sie für immer geschlossen sind. Du... hättest... sie niemals... niemals gehen lassen dürfen!"
"Han naethon, ion nîn[5]", flüsterte Thranduil und auch seine Stimme schwankte nun.
Er breitete in einer verzweifelten Geste seine Arme aus; es war seine Art, um Verzeihung zu bitten. Er war viel zu stolz, um direkt darum zu bitten.
Legolas schüttelte den Kopf und schob seinen Vater von sich fort. Ohne sich umzublicken lief er schnellen Schrittes zur Treppe und verließ die Gruft. Nachdem Legolas den königlichen Palast verlassen hatte, bemühte er sich, möglichst unauffällig die Stadt im Wald zu verlassen. Arghalad, ein enger Freund und Hauptmann der königlichen Garde, der offensichtlich mit der Absicht zu ihm kam, tröstende Worte an ihn zu richten, stieß er rücksichtslos beiseite. Was er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, waren abgedroschene Phrasen, wie leid es ihnen doch allen tat. Sie meinten es sicherlich ernst, doch in seinen Ohren klangen die Worte im Moment einfach bedeutungslos. Er wollte mit niemandem darüber sprechen... vielleicht später. Er wollte jetzt einfach nur allein sein... allein mit dem Schmerz... allein mit den Erinnerungen, denn das war letztendlich alles, was ihm von Arinwë geblieben war. Die Erinnerung und ein bewegungsloses Antlitz aus kaltem Stein. Selbst als er die Stadt verlassen hatte, lief er immer noch weiter, als wolle er dem Schmerz, der sich tief in sein Herz gegraben hatte, davonlaufen. Er wußte, dass das unmöglich war.
Es war schon lange dunkel, als er den kleinen Teich mit der Trauerweide erreichte. Dies war der Ort, an dem er und Arinwë das letzte Mal allein gewesen waren und hier fühlte er sich ihr wieder ganz nah, auch wenn sie damals wütend auf ihn gewesen war. Das Schwanenpärchen schlief, die Köpfe unter die Flügel gesteckt, am anderen Ufer. Ein Schatten, der von einem schlanken und biegsamen jungen Baum geworfen wurde, erschien ihm wie die Vision seiner geliebten Gemahlin. Es war ihm, als käme sie aus Mandos' Hallen in dieser Nacht noch ein einziges Mal zu ihm, um ihm Lebewohl zu sagen... oder um ihm vielleicht zu sagen, dass sie nicht lange getrennt bleiben würden.
Er konnte ihr ebenmäßiges Gesicht sehen, ihre elfenbeinfarbene Haut, ihr weiches, goldenes Haar, das ihre rosigen Wangen umschmeichelte. Sie lächelte ihm sanft und - Legolas konnte den Ausdruck nicht anders deuten - vielleicht auch versöhnlich zu. Welch wunderschöne Einbildung! Legolas streckte die Hand aus, als wolle er sie für immer festhalten. Er glaubte wirklich einen Moment lang, dass er sie berühren könnte. Doch genau in diesem Augenblick schob sich unbarmherzig der Vollmond durch die Wolken und erhellte den Ort. Sein Licht schärfte die Umrisse des Schattens und löste die Vision auf. Es war nichts weiter als der Schatten eines jungen Baumes. Seine Hand griff ins Leere und er strauchelte. Dann blickte er zitternd zum Mond auf und verfluchte dessen silbriges Licht, das ihm in dieser Nacht eisig und grausam erschien. Er hätte damals darauf bestehen sollen, dass Vater einen anderen an seiner statt nach Imladris schickte. Er hätte bei Arinwë bleiben sollen, so wie sie es gewollt hatte.
Nichts... gar nichts war mehr so, wie es sein sollte. Alles fühlte sich falsch an. Er verfluchte den Mond, den Teich, an dem er sich früher so gerne mit ihr getroffen hatte, er verfluchte die Glühwürmchen, die wild unter den tiefhängenden Ästen der Trauerweide tanzten, ja, er verfluchte sogar das Schwanenpärchen. Wer gab ihnen das Recht, glücklich zu sein? Mit einem Mal stellte er alles in Frage, was er in den letzten sechs Monaten erlebt hatte. Wäre es nicht besser gewesen, Sauron hätte den Krieg gewonnen? Hätte er nicht schon vor langer Zeit nach Valinor segeln sollen? Das alles wäre dann nie geschehen. ----------------------- [1] Kehre ich also endlich heim, heim zu meiner Geliebten, heim in den Wald unter dem Nachtschatten [2] Mae govannen, ion nîn = Willkommen, mein Sohn [3] Edair = Vater [4] Naneth = Mutter [5] Han naethon, ion nîn = Es tut mir leid, mein Sohn
