...ätsch hier geht es noch nicht weiter mit Legolas. Ich würde mal sagen,
es ist Zeit für einen Ortswechsel.
@Daladrielle: Hattest du nicht gesagt, du wärest neugierig, wie viel
Phantasie so in meinem Kopf herumspukt? Hier ist schon mal ein kleiner
Vorgeschmack. Orte, Personen etc. hab ich alle selbst erfunden
*einbißchenstolzsei*
Kapitel 5
Sterne über dem Sand
Am Horizont verwandelte sich das tiefe kühlende Schwarz der Nacht langsam in das hellere, sternenverschluckende Blau des frühen Morgens. Bald würde die Sonne aufgehen und schnell den glitzernden Tau der Nacht verdunsten lassen und die Luft so sehr erhitzen, bis sie flimmerte und den Augen Streiche spielte.
Für Rhas'Valyn waren das die allerschönsten Augenblicke des Tages. Die Zeit, in der die Natur den Atem anhielt, weil der beginnende Tag die dunklen Stunden besiegte. Für wenige Sekunden herrschte über der Wüste ein atemberaubendes, farbenfrohes Zwielicht. Nachts ließ der Tau und das Licht des Mondes und der Sterne den Sand silbrig glänzen, tagsüber schimmerte der Sand wie flüssiges Gold, doch in den wenigen Augenblicken bevor die Sonne aufging schienen die Dünen durch das Spiel von Licht und Schatten ein eigenes Leben zu haben.
Oh ja, es gab sehr wohl Leben in der Wüste. Es gab Schlangen, Eidechsen, Antilopen, Wüstenfalken, Löwen und Schakale. Zumindest, wenn man die Augen hatte, sie zu sehen. Die Eruin, die, so sagten zumindest ihre ältesten Aufzeichnungen, schon immer in der Wüste gelebt hatten, waren sogar in der Lage an der Art des Sandes seine Tragfähigkeit zu erkennen. Das war überlebenswichtig, denn es gab draußen in der offenen Wüste viele Treibsandlöcher. Sie waren in der Lage 45 verschiedene Arten von Sand zu unterscheiden.
Rhas'Valyn seufzte, als die Sonne schließlich aufging und ihre ersten goldenen Sonnenstrahlen wie tastende Hände über den Sand schickte. Leider dauerte dieser wunderschöne Moment niemals allzu lange. Es lohnte sich allerdings immer wieder, so früh am Morgen dafür aufzustehen. Der junge Mann saß mit dem Rücken an den Stamm einer Palme gelehnt, die am Rand der Oase Ailanor'leth stand und hatte die Arme um die Knie geschlungen.
"Die Nächte werden kürzer, die Tage länger... bald feiern wir wieder das Baireth Calen[1]. Freust du dich Rhas'Valyn?", sagte eine männliche Stimme hinter ihm.
Rhas'Valyn brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um festzustellen, das der, der da zu ihm sprach sein älterer Bruder Ko'Ray war.
"Ja doch, sehr! Aber ich mache mir Gedanken, Múndar[2]", erwiderte er.
Ko'Ray lehnte sich mit verschränkten Armen seitlich an die selbe Palme, in deren Schatten Rhas'Valyn saß und blickte nachdenklich zum Horizont.
"Worüber machst du dir Gedanken?", fragte der Ältere.
"Über das Fest. Ich hoffe, es wird nicht gestört werden", sagte der jüngere Mann, "eigenartige Kreaturen durchstreifen in letzter Zeit die Wüste. Wir sollten Sho'Anin überzeugen, verstärkte Spähertrupps durch die Wüste zu schicken. Wir sollten auch in Kontakt mit den anderen Oasen treten, um festzustellen, ob sie diese Wesen auch im Auge behalten."
Ko'rays entspannter Gesichtsausdruck änderte sich. Rhas'Valyn wußte, dass er mit dieser Bemerkung in ein Wespennest gestochen hatte. Sein älterer Bruder war der Naim, der Hauptmann der Rhain'Tareth, der Wandernden Wächter von Ailanor'leth und als solcher in der letzten Zeit, seit diese Wesen mit der ledernen, schlammfarbenen Haut aufgetaucht waren, oft der Kritik der anderen Eruin[3] ausgesetzt. Er hatte vor dem Rat gesagt, dass er keine Notwendigkeit sehe, verstärkte Patrouillen zu reiten und er glaubte, seine Meinung sei über jeden Zweifel erhaben.
"Rhas, hör mir zu!" sagte Ko'ray und seine Stimme klang wirklich ungehalten. "Viele Fremde sind schon an unseren Oasen vorbeigezogen, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Manchen von ihnen wurde sogar gestattet, sich an unseren Quellen zu erfrischen. Keiner von ihnen ahnt etwas von Teraidh'Calain[4]. Die Rhain'Tareth erledigen seit hunderten... nein, seit tausenden von Jahren ihre Aufgabe und niemals drohte Teraidh'Calain eine Gefahr. Auch jetzt ist das nicht der Fall. Sie ziehen an den Oasen vorbei, glaube ja nicht, das wir diese Wesen nicht insgeheim überwachen. Sie meiden sowohl die Städte der Hellhäutigen am Meer, als auch unsere Oasen. Ich weiß nicht, wo sie hin wollen aber sie behelligen uns nicht. Irgendwann werden sie verschwunden sein. Und wenn dir nicht gefällt, was bei den Rhain'Tareth und im Hohen Rat entschieden wird, dann tritt ihnen doch bei."
Rhas'Valyn biss sich verlegen auf die Unterlippe. Der Stich, der in dem letzten Satz seines Bruders steckte, hatte gesessen. Er wich Ko'Rays Blick aus und sagte heiser:
"Du weißt genau, das ich das nicht kann. Ich bin 'nur' der zweite Sohn."
Ko'Ray nickte und sagte:
"Es ist gut, das du dich an deinen Platz erinnerst."
Er wandte sich um und ließ den jüngeren Mann allein mit seinen Gedanken.
Für gewöhnlich verstanden sich die Brüder sehr gut, doch Ko'Ray war sehr stolz und er mochte es nicht kritisiert zu werden, von niemandem. Er wurde dann schnell verletzen und er wußte genau, wie er Menschen verletzen konnte, die es wagten, ihn zu kritisieren.
~*~
"Und was willst du nun tun?", fragte Shar'Teyn seinen besten Freund.
Eigentlich sollten Rhas'Valyn und Shar'Teyn bei der Ausschachtung neuer Bewässerungskanäle helfen, die dazu dienen sollten, die neu angelegten, Weizenfelder mit Wasser zu versorgen, doch die Pause, die sie sich im Schatten der Dattelpalmen gönnten, dauerte nun schon länger als eine halbe Stunde. So nahe bei den kühlen Quellen, die aus den Tiefen der Erde hervorsprudelten und die Grundlage für all das Grün in der Oase bildeten, wehte ein angenehmes Lüftchen. Rhas'Valyn, der seine Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt hatte, schien seinen Freund gar nicht gehört zu haben. Wieder einmal war er in seinen Tagträumereien versunken.
Shar'Teyn war allerdings einer der wenigen Freunde Rhas'Valyns, die es nicht mehr irritierte, wenn er plötzlich mitten in einem Gespräch einen verklärten Gesichtsausdruck bekam und ins Land der Tagträume abdriftete. Er würde ebenso schnell wieder mit den Gedanken bei der Sache sein. Auch diesmal war das der Fall.
"Entschuldige, was sagtest du?", fragte er blinzelnd.
"Du erzähltest mir gerade von Ko'Rays Uneinsichtigkeit was diese eigenartigen Wesen angeht und ich fragte dich, was du tun willst", wiederholte Shar'Teyn geduldig.
Nachdenklich betrachtete Rhas'Valyn seinen Freund. Die dunkelroten Bänder, die in sein langes schwarzes Haar eingeflochten waren und die bronzenen Reifen, die seine Oberarme und seine Handgelenke umwanden, zeigten ihm, dass er in der Hierarchie seiner Familie noch weiter unten stand als er selbst. Shar'Teyn war nur der dritte Sohn Sho'Anins. Obwohl er ein Sohn des Ältesten in der Oase war, hatte sein Wort kein Gewicht. Nur die erstgeborenen Söhne eines Mannes hatten das Recht, die weißen Bänder und die goldenen Armreifen zu tragen. Diese Ehrenabzeichen waren aber auch Rhas'Valyn vorenthalten. Er durfte nur die blauen Bänder und die silbernen Reifen des Zweitgeborenen tragen. Worin genau der Ursprung dieser Tradition lag, die von den älteren Eruin vehement verteidigt wurde, wußte keiner mehr genau.
Er teilte seine Gedanken seinem Freund mit.
"Schau uns an. Was fällt dir auf? Trägt einer von uns das Gold und das Weiß? Ist einer von uns vielleicht ein Rhain'Tareth oder gar ein Mitglied des Hohen Rates? Du weißt, es ärgert mich, das Ko'Ray eine drohende Gefahr auf die leichte Schulter nimmt aber er hat nun einmal recht, wenn er sagt, dass unser Wort ohnehin nichts verändern wird."
Shar'Teyn nickte langsam. Er wußte, er konnte nicht einmal etwas ändern, wenn er seinen Vater darum bitten würde.
"Was ich allerdings auch nicht verstehe ist, warum dir diese eigenartigen Kreaturen, halb Mensch, halb Ochse scheinen sie zu sein, so viel Kopfzerbrechen bereiten. Sie ziehen doch nur vorbei und..."
Rhas'Valyn unterbrach seinen Freund:
"Ich kann es dir nicht sagen. Ich bekomme eine Gänsehaut wenn ich sie sehe. Es ist ein unbestimmtes Gefühl aber ich bin mir sicher, es wird Ärger geben, auch wenn ich nicht weiß wie."
Shar'Teyns Gesichtsausdruck veränderte sich und er sah nun besorgt aus.
"Denkst du, es könnte etwas mit der Prophezeiung zu tun haben? Du weißt schon die Nairanor."
Rhas'Valyn reagierte verärgert auf diese Frage. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, was eine steile Falte zwischen ihnen entstehen ließ.
"Du weißt genau, das ich nicht an diese Prophezeiung glaube. Sie ist nur ein Mittel des Hohen Rats, seine Macht zu festigen. Teraidh'Calain muß um jeden Preis geschützt werden und mit der Prophezeiung haben die Mitglieder des Hohen Rates ein gutes Argument in der Hand. Die Rahjani[5] in Teraidh'Calain sitzt zwar auf dem Kristallthron, doch die wahre Macht hat der Hohe Rat inne", sagte er.
Shar'Teyn hob abwehrend die Hände und erwiderte:
"Bitte! Ich wollte wirklich keine politische Diskussion mit dir vom Zaun brechen. Ich möchte nur gerne wissen, was du tun willst. Es gibt schließlich noch die Möglichkeit, das wir auf eigene Faust etwas unternehmen."
Bevor er jedoch seine Idee erklären konnte, wurden sie von dem Oberaufseher über die Bewässerungskanäle unterbrochen. Sie hatten zunächst seinen Schatten bemerkt, der über sie fiel. Er stand dort, breitbeinig und mit den Händen in die Hüften gestemmt. Ungeduldig wippte sein rechter Fuß auf und ab.
"Solltet ihr nicht längst an der Arbeit sein?" wollte er wissen.
Rhas'Valyn stand als erster auf und entschuldigte sich kleinlaut:
"Es tut uns leid. Wir haben wohl die Zeit vollkommen vergessen."
Melekh, der Aufseher, wollte anscheinend jedoch keine Entschuldigungen hören.
"Es ist mir egal, was - mal wieder - der Grund für eure Faulenzerei war. Ihr werdet heute eine Stunde länger arbeiten als die anderen und ab Morgen werdet ihr in verschiedenen Bereichen eingesetzt. Es ist doch auffällig, das ihr immer gemeinsam aus der Reihe tanzt. Ich sollte mit euren Vätern sprechen."
Stöhnend machten sich Rhas'Valyn und Shar'Teyn wieder an die Arbeit. Aber Rhas'Valyn ging nicht aus dem Kopf, was sein Freund gesagt hatte. Sie konnten etwas auf eigene Faust unternehmen. Ja, warum eigentlich nicht? Er konnte es kaum erwarten, dass sich der Tag seinem Ende neigte und sie unbeobachtet miteinander sprechen konnten.
~*~
Rhas'Valyn und seine Familie, zu der sein Vater Tairik, seine Mutter Sha'Vona, seine beiden Schwestern Kai'Lani und Inana sowie sein Bruder Ko'ray gehörten, lebten in einem zweistöckigen Haus aus gebrannten Lehmziegeln, das außen weiß verkalkt war, um die Hitze in den Innenräumen erträglicher zu machen. Es stand direkt am Marktplatz der Oase. Tairik hatte dieses Haus vor fast 1500 Jahren mit eigenen Händen gebaut und es Sha'Vonas Eltern als Brautpreis angeboten. Tairik war zwar ein erstgeborener Sohn und ein Rhain'Tareth, doch er stammte aus eher bescheidenen Verhältnissen und konnte Sha'Vona, die die Tochter es Ratsmitglieds war, nichts anderes bieten. Sha'Vona hatte seine Werbung jedoch mit Freuden angenommen, denn die beiden waren schon lange Zeit ineinander verliebt gewesen. Das Resultat ihrer Verbindung waren die vier Kinder, die in sehr kurzen Abständen, zumindest für die Verhältnisse der Eruin, hintereinander geboren wurden. Während Ko'ray Mitglied der Rhain'Tareth war und auch gute Aussichten auf einen Platz im Rat hatte, bereitete Rhas'Valyn seinen Eltern nichts als Kummer. Zumindest behauptete sein Vater das. Rhas'Valyn stand immer im Schatten seines älteren Bruders. Nur seine Mutter hatte ihm in seiner Kindheit so etwas wie Zuneigung entgegengebracht. Allerdings stand Rhas, wie ihn all seine Freunde nannten, dafür auch schon früh auf eigenen Beinen. Er hatte viele Freunde und obwohl dies eigentlich dem ältesten Sohn einer Familie vorbehalten war, hatte er bei Olvar, dem Schmied des Dorfes ein wenig den Umgang mit dem Skimar[6], der traditionellen Waffe der Eruin gelernt. Und er war in der Lage gewesen, sich zu den politischen Strukturen der Eruin seine eigenen Gedanken zu machen. Er hatte oft genug schweigend daneben gesessen, wenn sich Ko'Ray und sein Vater über Politik unterhielten und hätte Ko'Ray oft genug wegen seiner naiven Einstellung auslachen können. Er war der Meinung, dass das Recht des erstgeborenen Sohnes abgeschafft werden mußte, denn das jemand früher geboren wurde, war noch lange keine Garantie, dass er auch in der Politik talentierter sein mußte als ein zweit- oder gar drittgeborener Sohn. Er hatte von Haradrim- Händlern aus den Städten an den Küsten, mit denen man sich an Handelsplätzen in der Wüste traf, um die Lage der Oasen geheimzuhalten, gehört, dass es bei ihnen überhaupt keine Rolle spielte, wann ein Mann geboren wurde.
Während er an diesem Abend im Kreis seiner Familie auf dem mit feinen Teppichen ausgelegten Hauptraum des Hauses das Abendessen einnahm, grübelte er die ganze Zeit über das nach, was sein Freund Shar'Teyn am Nachmittag zu ihm gesagt hatte. 'Wir könnten doch etwas auf eigene Faust unternehmen', hatte er gesagt. Nachdenklich biss er in einen saftigen Pfirsich. Er hatte sich in die weichen, von seinen Schwestern handbestickten Kissen zurückgelehnt und die erste halbe Stunde des Abendessen vorgegeben, den politischen Diskussionen zwischen seinem Vater und seinem Bruder zu folgen.
"Was sagst du dazu, Múndar!", fragte Ko'Ray mit einem Mal und riss ihn so aus seinen Gedanken.
Der Bruder hatte sich in die weichen Seidenkissen zurückgelehnt, in der einen Hand einen saftigen Granatapfel und neben sich auf einem niedrigen Tischchen einen Pokal Wein. Erwartungsvoll blickte er Rhas über den Granatapfel hinweg an.
Minutenlang herrschte peinliches Schweigen und schließlich ruhten alle Blicke auf Rhas. Dieser blickte verstört von einem zum anderen. Er hatte keine Ahnung, worüber sein Vater und sein Bruder gesprochen hatten.
"Was immer du meinst, es wird schon richtig sein, Múndar!", sagte er schnell.
Ko'Ray und Tairik blickten sich mitleidsvoll an und fingen dann an, aus vollem Halse zu lachen.
Zwischen den Lachern brachte Tairik hervor:
"Was bist du nur für ein unverbesserlicher Träumer, Rhas'Valyn. Was soll aus dir bloß noch werden?"
Und Ko'Ray fügte noch hinzu:
"Ich habe mir ja wirklich Mühe gegeben, dir einen Platz bei den Rhain'Tareth zu verschaffen aber ich hätte wissen müssen, das man einen Träumer wie dich dort einfach nicht gebrauchen kann."
Gedemütigt und wütend sprang Rhas auf und lief zur Tür. Ko'Ray hatte, dass wußte er ganz genau, niemals versucht, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Seine Mutter hielt ihn auf. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und warf ihm einen Blick zu, der ihm sagte, dass er ihr zuliebe nichts unüberlegtes tun sollte.
Er lief zu den Ställen. Mit einem überraschten Wiehern begrüßte ihn Aithal[7], sein treuer Hengst. Er war ein sehr, sehr schnelles Pferd und an Mut mangelte es ihm auch nicht. Jedoch war er für die Rhain'Tareth nicht temperamentvoll genug und so war das schöne Tier in seinen Besitz gelangt. Er hatte glänzendes, nachtschwarzes Fell, jedoch waren sowohl seine Mähne als auch sein Schweif strahlend weiß. Rhas machte sich nicht die Mühe, den Hengst zu satteln, sondern sprang so auf seinen Rücken und lenkte ihn heraus aus dem Stall. Er wollte zu Shar'Teyn, der mit seiner Familie am anderen Ende der Oase wohnte.
Die nächtlichen Geräusche der Oase, das hypnotisierende Zirpen der Grillen und der sanfte Wind, der die Palmwedel leise rascheln ließ, wirkten beruhigend auf sein Gemüt.
Als er das Haus von Shar'Teyns Familie erreichte, welches eher einem kleinen Palast glich - immerhin war Sho'Anin ja auch das Oberhaupt in der Oase - meldete er sich bei den Wachen an, die ihn, weil sie ihn als guten Freund Shar'Teyns kannten, sofort einließen. In der Haupthalle des Hauses empfing ihn Jha'Fol, der neue Vorsteher des Haushaltes. Er hinderte Rhas am Weitergehen, indem er sich mit weit ausgestreckten Armen vor die mit Eisen beschlagene, zweiflügelige Tür stellte, die zur Haupthalle des Anwesens führte.
"Ihr solltet wissen, das sich die Familie des Sotains[8] jetzt beim Abendessen befindet.", sagte er und verdeutlichte damit seinen Standpunkt, dass es keine gute Idee war, die Familie jetzt zu stören.
Rhas machte eine wegwerfende Handbewegung und erwiderte:
"Ach kommt, Jha'Fol, ihr wisst genau, das sich der Sotain nicht darum scheren wird, wenn sein jüngster Sohn den Speisesaal vorzeitig verlässt. Tut mir den Gefallen und richtet Shar'Teyn aus, dass ich auf ihn warte."
Jha'Fol musterte den jungen Eruin, der vor ihm stand von oben bis unten. Anscheinend überlegte er, ob er Anweisungen eines zweitgeborenen Sohn ausführen mußte. Letzten Endes entschied er sich wohl, dass es sich um eine einfache Bitte handeln mußte und sagte:
"Wartet hier!"
Während Rhas auf seinen Freund wartete, dachte er über sein Vorhaben in dieser Nacht nach. Er war sich sicher, das richtige zu tun. Wenn sein Bruder schon nicht in der Lage war, zu erkennen, was notwendig war, dann mußte er die Dinge selbst in die Hand nehmen.
Als Shar'Teyn die Vorhalle betrat, bemerkte Rhas es zunächst gar nicht.
"Du läufst auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Weshalb bist du so aufgebracht?" sprach Shar'Teyn seinen Freund an.
Erst da blickte Rhas auf. Er ging auf seinen Freund zu, legte einen Arm um seine Schultern und sagte mit verschwörerisch gesenkter Stimme:
"Komm, wir reiten heute Nacht nach Hin'Aileth[9]. Was du heute Nachmittag zu mir gesagt hast, ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Wir werden mit Ya'Tiraj sprechen. Er ist ein Erstgeborener und wenn er bei der Aktion heute Nacht dabei ist, werden wir mit Sicherheit keine Probleme bekommen."
Shar'Teyn blickte Rhas fragend an und meinte dann:
"Wenn du die Güte hättest, mir zunächst einmal zu erklären, was du genau vorhast... du weißt, die Nacht gehört den Hyänen und ich möchte nur ungern draußen in der Wüste sein, wenn sie jagen."
Rhas gab seinem Freund zu verstehen, dass er nicht in der Vorhalle über seinen Plan sprechen wollte und gemeinsam gingen sie zu den Ställen. Erwartungsvoll lehnte sich Shar'Teyn an die Box seiner Fuchsstute Sashai. Erwartungsvoll stupste diese ihren Herrn an der Schulter an, so als ob sie schon ahnte, dass sie in dieser Nacht noch einmal laufen durfte.
"Eigentlich will ich gar nicht lange darüber reden, Shar. Du sagtest, wir sollten auf eigene Faust Patroullien reiten und das werden wir heute Nacht eben das erste Mal tun."
Shar'Teyn war wie vom Blitz getroffen. Schließlich blinzelte er und sein Gesicht sagte, das er nicht ganz verstanden zu haben glaubte, was sein Freund ihm da gerade gesagt hatte.
"Und du willst Ya'Tiraj einweihen?", fragte er.
"Ja! Er ist ein Erstgeborener, ein Rhain'Tareth und was noch viel wichtiger ist: er ist unser Freund. Im übrigen ist er, so wie ich, niemals Ko'Rays Meinung. Die Dinge in Hin'Aileth werden unter seinem Kommando stets anders gehandhabt als hier."
Rhas hatte recht. Ya'Tiraj war ein Erstgeborener und hatte aufgrund dieser Tatsache leicht eine gute Position bei den Rhain'Tareth erhalten. Aufgrund seiner Fähigkeiten war er schnell zum Hauptmann befördert worden. Was seine Vorgesetzten jedoch nicht wußten war, dass schon früh in seiner Jugend ein Denkprozess begonnen hatte, der ihm sagte, dass es nicht richtig sein kann, von seinen Freunden getrennt zu werden und eine andere Laufbahn als sie einzuschlagen, nur weil sie keine Erstgeborenen waren. Er hatte seine Überzeugung lange für sich behalten, doch jetzt, wo er in einer Position war, in der man ihn nicht einfach übergehen konnte, sprach er immer öfter offen über seine Überzeugungen. Seiner Beliebtheit bei den Rhain'Tareth tat dies keinen Abbruch aber der Rat der Sotains wurde immer nervöser.
Endlich nickte Shar'Teyn.
"Du könntest recht haben. Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert. Aber wir werden morgen fürchterlich erschöpft sein und ich hoffe, dass Ya'Tiraj nicht unseretwegen Probleme mit dem Sotain von Hin'Aileth bekommt." wandte er dennoch ein.
Rhas war jedoch schon damit beschäftigt, die Tür zu Sashais Box zu öffnen und das Zaumzeug von der Stallwand zu nehmen. Er hielt es Shar'Teyn entgegen und sagte:
"Nun komm schon, was das angeht wird uns auch noch etwas einfallen, wenn wir auf dem Rückweg sind."
Endlich war Shar'Teyn völlig überzeugt und sie machten sich auf den Weg zur Nachbar-Oase Hin'Aileth.
~*~
Bald hatten sie die ersten Ausläufer der Nachbar-Oase erreicht und auf den ersten Blick schien alles ruhig zu sein, doch dann sahen sie die Feuer, die auf den hohen Türmen brannten, welche in Abständen von jeweils 100 Schritt die Oase umgaben.
"Was ist da los? Die Wächterfeuer werden nur entzündet, wenn Gefahr droht." fragte Shar'Teyn.
Rhas fluchte:
"Ich habe keine Ahnung, verdammt! Wenn in Ailanor'leth anders entschieden worden wäre, würden sie die Feuer jetzt sehen aber da mein Bruder ja der Meinung war, man müßte nicht in Alarmbereitschaft versetzt werden, wird ihnen wohl keiner zur Hilfe kommen, was auch immer dort geschieht."
Die beiden schauten sich an und kamen zu einer wortlosen Übereinkunft. Sie mußten nach Hin'Aileth reiten um nach dem Rechten zu sehen.
In der Oase herrschte das totale Chaos. Viele Eruin liefen verwirrt und mit blut- und rußverschmierten Gesichtern durch die Gassen. Die Rhain'Tareth versuchten mehr oder weniger erfolgreich, wieder Ordnung herzustellen. Mit lauten Rufen forderten sie die Leute auf, ihre Häuser aufzusuchen und Türen und Fensterläden zu schließen. Einige kamen ihnen entgegen und forderten sie auf, Wasser von den Quellen zu holen um das Ratsgebäude zu löschen.
Rhas war verwirrt. Das Ratsgebäude brannte? Was war bloß geschehen. Er drehte sich im Sattel zu Shar'Teyn und sagte:
"Wir müssen Ya'Tiraj finden. Er kann uns sicherlich erklären, was geschehen ist."
Das sie zu Pferd waren, erleichterte es ihnen, durch die verwirrte Menge zu kommen. Tatsächlich entdeckten sie in der Nähe des Ratsgebäudes, bei den Ställen der Rhain'Tareth ihren Freund Ya'Tiraj. Er war gerade damit beschäftigt, eine kleine Truppe zusammenzustellen. Die Rhain'Tareth sattelten ihre Pferde und bewaffneten sich, während die Bewohner von Hin'Aileth damit beschäftigt waren, die Flammen zu löschen, die vom Ratsgebäude inzwischen auch schon auf die nebenstehenden Gebäude überzugreifen drohten. Als der Naim der Rhain'Tareth von Hin'Aileth seine beiden jungen Freunde entdeckte, sprang er von seinem Pferd und lief aus sie zu.
"Endlich! Sicher habt ihr doch Verstärkung aus Ailanor'leth mitgebracht, nicht wahr? Wo sind die Reiter deines Bruders, Rhas?" wollte er wissen.
Sekundenlang blickte er den jüngeren Eruin erwartungsvoll an. Als dieser langsam den Kopf schüttelte, verspannten sich seine Kieferknochen. Rhas wußte, dass dies ein Zeichen dafür war, dass sein Freund vor Wut innerlich kochte. Ya'Tiraj zog sich hastig seine ledernen Reithandschuhe aus und warf sie mit einem wütenden Aufschrei zu Boden.
"Wo bei allen guten Geistern hat Ko'Ray nur seine Augen. Wir hatten die Wächterfeuer schon entzündet, als diese Kreaturen begannen, die Oase zu beobachten. Wieso ist dein Bruder nur zu nichts zu gebrauchen. Er dreht sich wie eine Fahne im Wind, versucht mal dem einen, mal dem anderen zu Gefallen zu sein und vergißt darüber hinaus, dass er Aufgaben zu erfüllen hat. Manchmal denke ich, dass die Erbfolge bei euch verdreht ist. Du solltest der Erstgeborene sein, immerhin bist 'du' hier!"
Rhas wußte, es hatte keinen Zweck Ya'Tiraj beruhigen zu wollen. Er und sein Bruder, die ungefähr gleich alt waren, lagen schon seit ihrer Kindheit aus einem ihm unbekannten Grund im Streit miteinander, und brachten sich bei offiziellen Anlaessen, die sie hin und wieder im Zuge ihrer Pflichten beiwohnen mussten, nur die vorgeschriebene Hoeflichkeit entgegen.
Shar'Teyn, der sich aufmerksam umgeschaut hatte, vermutete schon, was geschehen war. Er fragte den Naim:
"Was ist hier eigentlich geschehen? Waren das diese eigenartigen Gestalten?"
Ya'Tiraj nickte und antwortete dann mit unterdrückter Wut in der Stimme:
"Ja, natürlich! Sie ziehen plündernd zwischen den Küstenstädten der Hellhäutigen und unseren Oasen hin und her. Ich habe keine Ahnung, wo sie hinwollen. Wir konnten auch ihre grunzende Sprache kaum verstehen. Anscheinend haben sie aber alle das selbe Ziel. Es war die Rede davon, das noch mehr von ihnen kommen würden. So viel habe ich verstanden. Sie haben Wasser gebraucht und als sie keine Nahrung fanden, die sie zufriedengestellt hätte, haben sie angefangen, die Häuser zu zerstören. Das Ratsgebäude haben sie angesteckt... schaut euch doch nur an, wie es hier aussieht."
Bei diesen Worten drehte er sich um und ließ seinen Blick über den Ratsplatz und die angrenzenden Gebäude wandern. Auch den zwei Freunden blieb nicht lange verborgen dass die Bewohner dieser Siedlung nicht nur einige Häuser verloren hatten, sondern auch viele von ihnen auf grausame Art das Leben gelassen hatten. Nun, nachdem es so schien, als wäre der Angriff vorüber wurde erst das ganze Ausmaß der Verwüstung sichtbar, die nicht nur an den Gebäuden stattgefunden hatte, sondern auch in den Köpfen der Eruin, die sich bisher in ihren geheimen Oasen sicher und unantastbar gefühlt hatten. Diese Sicherheit war ihnen nun auf grausame Art und Weise genommen worden und die Verzweiflung spiegelte sich in ihrer Augen wieder über das, was nun werden sollte, und wie es nun mit ihnen weitergehen würde.
"Und was wollt ihr jetzt tun?", fragte Rhas.
"Ich stelle eine Truppe zusammen. Wir wollen sie verfolgen. Sie haben einige unserer Frauen entführt...", Ya'Tiraj blickte zum Himmel und holte tief Luft, bevor er mit tränenfeuchten Augen fortfuhr, "... sie haben Shi'Jana entführt. Versteht ihr? Ich muß ihnen folgen."
Rhas sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. Bei Airo, dem Wächter über die Wüste, sie hatten Ya'Tirajs schwangere Gemahlin entführt. Er wußte, das Ya'Tiraj nicht eher ruhen würde, bis sie wieder bei ihm war.
"Wir kommen mit!", entschloß er sich sofort.
"Nein, bitte! Bleibt hier, helft den Leuten. Viele suchen ihre Angehörigen, viele sind verletzt. Wir haben uns nach Kräften gewehrt. Vielleicht findet ihr gar einen dieser stinkenden Hunde, der noch lebt und uns sagen kann, wohin sie die Entführten bringen. Wir brauchen hier Leute wie euch, die einen kühlen Kopf behalten", bat Ya'Tiraj.
Dann sprang er auf sein Pferd und gab seiner Truppe das Kommando zum Abreiten.
Während sie dem Naim und seiner Truppe nachblickten, fluchte Rhas abermals:
"Ich wünschte, man würde mir ein Skimar geben, dann würde diese Bestien von den Hoden bis zum Kinn aufschlitzen."
Shar'Teyn zog ihm am Arm und meinte:
"Komm, tun wir, was Ya'Tiraj uns aufgetragen hat. Finden wir erst einmal ein Gebäude, wo wir die Verwundeten unterbringen können."
Sie machten sich auf den Weg zur Kaserne der Rhain'Tareth. Dort war genügend Platz. Sie fragten sich nur beide insgeheim, wie es ihnen gelingen sollte, die zurückgebliebenen Rhain'Tareth, die auch in Hin'Aileth einigermaßen hochnäsig waren, davon zu überzeugen, dass der Befehl, eine Unterkunft für die Verwundeten zu finden, direkt von Ya'Tiraj kam.
Plötzlich entdeckte Shar'Teyn am Rande eines Quellbaches im hohen Riedgras etwas sehr helles.
"Schau, das ist eines dieser Monster... wir sollten..."
Er machte einen Schritt in die Richtung, doch Rhas hielt ihn fest und sagte:
"Nein warte, sie sind nicht so hell. Sie haben dunkle Haut...", sie gingen näher an die Gestalt, die da am Ufer des Quellbaches lag und waren überrascht, eine Frau zu finden, "...und sie sind nicht so... bezaubernd. Bei allen guten... ich weiß nicht wer sie ist aber schau, ihre Ohren."
Verblüfft blickten sich die beiden Freunde an.
"Sie ist eine von uns? Sie ist eine Eruin?", vermutete Shar'Teyn.
Rhas strich der Frau Haare aus dem zerschundenen Gesicht, die so golden wie der Sonnenaufgang waren. Sie sah arg mitgenommen aus. Ihre Lippen waren aufgesprungen, ihre Augen mit Wüstensand verklebt und als er sie aufhob, stellte er fest, das sie leicht wie eine Feder war. Dennoch konnte erkennen, von welcher Schönheit diese ungewöhnliche Frau unter all dem Schmutz war.
"Wahrscheinlich ist sie eine von den Bemitleidenswerten, die zuvor von den Kreaturen entführt wurde.", sagte er.
Shar'Teyn blickte immer noch vollkommen verblüfft drein.
"Aber wer ist sie? Wo kommt sie her? Warum haben sie sie hier zurückgelassen? Wenn sie keine Eruin ist, was ist sie dann. Eine solche helle Haut habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Die Sonne muß sie fürchterlich verbrannt haben."
Rhas erwiderte:
"Das werden wir erfahren, wenn es ihr besser geht. Wir müssen ihr helfen. Shar, gib mir deinen Wasserschlauch."
Shar'Teyn tat, wie ihm geheißen. Rhas, hielt der Frau den Schlauch an den Mund. Als das frische, kühle Nass ihre Lippen befeuchtete, schlug sie für eine Sekunde die Augen auf. Rhas war überrascht, in Augen zu blicken, die von strahlenderem Blau als das Himmelszelt waren. Diese Frau war wirklich wunderschön. Sie mußte um jeden Preis überleben oder er würde sich das niemals verzeihen.
"Jhewaná ná'in[10], ich weiß euren Namen nicht aber ihr seid jetzt in Sicherheit. Wir werden für euch sorgen", sagte Rhas zu ihr, obwohl er sich nicht sicher war, ob sie ihn hören konnte.
Rhas bat seinen Freund, die Zügel der beiden Pferde zu nehmen und mit der geheimnisvollen Frau machten sie sich auf den Weg zur Kaserne der Rhain'Tareth.
Fertig! Seid gnädig mit mir. In diesem Kapitel ist vieles, was ich selbst erfunden habe. Es ist das erste Mal, dass ich so viele selbsterfundene Sachen in eine Fanfiction aufnehme. Wahrscheinlich, weil ich gerade dabei bin, mich von der reinen Fanfiction zu lösen, damit ich mein Projekt "Original" bald in Angriff nehmen kann.
----------------------- [1] Baireth Calen = das Fest des Wassers [2] Múndar = in der Sprache der Wüstenbewohner bedeutet das Bruder [3] Eruin = die Kinder der Wüste [4] Teraidh'Calain = Das grüne Königreich [5] Rahjani = Königin [6] das Skimar ist eine Stangenwaffe an deren beiden Enden jeweils eine in entgegensetzte Richtung weisende Klinge angebracht ist. [7] In der Sprache der Eruin bedeutet "Aithal" Mond [8] Sotain ist der Titel des Oasenoberhauptes [9] Hin'Aileth = Sandwirbel [10] Jhewaná ná'in = meine Schöne
Kapitel 5
Sterne über dem Sand
Am Horizont verwandelte sich das tiefe kühlende Schwarz der Nacht langsam in das hellere, sternenverschluckende Blau des frühen Morgens. Bald würde die Sonne aufgehen und schnell den glitzernden Tau der Nacht verdunsten lassen und die Luft so sehr erhitzen, bis sie flimmerte und den Augen Streiche spielte.
Für Rhas'Valyn waren das die allerschönsten Augenblicke des Tages. Die Zeit, in der die Natur den Atem anhielt, weil der beginnende Tag die dunklen Stunden besiegte. Für wenige Sekunden herrschte über der Wüste ein atemberaubendes, farbenfrohes Zwielicht. Nachts ließ der Tau und das Licht des Mondes und der Sterne den Sand silbrig glänzen, tagsüber schimmerte der Sand wie flüssiges Gold, doch in den wenigen Augenblicken bevor die Sonne aufging schienen die Dünen durch das Spiel von Licht und Schatten ein eigenes Leben zu haben.
Oh ja, es gab sehr wohl Leben in der Wüste. Es gab Schlangen, Eidechsen, Antilopen, Wüstenfalken, Löwen und Schakale. Zumindest, wenn man die Augen hatte, sie zu sehen. Die Eruin, die, so sagten zumindest ihre ältesten Aufzeichnungen, schon immer in der Wüste gelebt hatten, waren sogar in der Lage an der Art des Sandes seine Tragfähigkeit zu erkennen. Das war überlebenswichtig, denn es gab draußen in der offenen Wüste viele Treibsandlöcher. Sie waren in der Lage 45 verschiedene Arten von Sand zu unterscheiden.
Rhas'Valyn seufzte, als die Sonne schließlich aufging und ihre ersten goldenen Sonnenstrahlen wie tastende Hände über den Sand schickte. Leider dauerte dieser wunderschöne Moment niemals allzu lange. Es lohnte sich allerdings immer wieder, so früh am Morgen dafür aufzustehen. Der junge Mann saß mit dem Rücken an den Stamm einer Palme gelehnt, die am Rand der Oase Ailanor'leth stand und hatte die Arme um die Knie geschlungen.
"Die Nächte werden kürzer, die Tage länger... bald feiern wir wieder das Baireth Calen[1]. Freust du dich Rhas'Valyn?", sagte eine männliche Stimme hinter ihm.
Rhas'Valyn brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um festzustellen, das der, der da zu ihm sprach sein älterer Bruder Ko'Ray war.
"Ja doch, sehr! Aber ich mache mir Gedanken, Múndar[2]", erwiderte er.
Ko'Ray lehnte sich mit verschränkten Armen seitlich an die selbe Palme, in deren Schatten Rhas'Valyn saß und blickte nachdenklich zum Horizont.
"Worüber machst du dir Gedanken?", fragte der Ältere.
"Über das Fest. Ich hoffe, es wird nicht gestört werden", sagte der jüngere Mann, "eigenartige Kreaturen durchstreifen in letzter Zeit die Wüste. Wir sollten Sho'Anin überzeugen, verstärkte Spähertrupps durch die Wüste zu schicken. Wir sollten auch in Kontakt mit den anderen Oasen treten, um festzustellen, ob sie diese Wesen auch im Auge behalten."
Ko'rays entspannter Gesichtsausdruck änderte sich. Rhas'Valyn wußte, dass er mit dieser Bemerkung in ein Wespennest gestochen hatte. Sein älterer Bruder war der Naim, der Hauptmann der Rhain'Tareth, der Wandernden Wächter von Ailanor'leth und als solcher in der letzten Zeit, seit diese Wesen mit der ledernen, schlammfarbenen Haut aufgetaucht waren, oft der Kritik der anderen Eruin[3] ausgesetzt. Er hatte vor dem Rat gesagt, dass er keine Notwendigkeit sehe, verstärkte Patrouillen zu reiten und er glaubte, seine Meinung sei über jeden Zweifel erhaben.
"Rhas, hör mir zu!" sagte Ko'ray und seine Stimme klang wirklich ungehalten. "Viele Fremde sind schon an unseren Oasen vorbeigezogen, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Manchen von ihnen wurde sogar gestattet, sich an unseren Quellen zu erfrischen. Keiner von ihnen ahnt etwas von Teraidh'Calain[4]. Die Rhain'Tareth erledigen seit hunderten... nein, seit tausenden von Jahren ihre Aufgabe und niemals drohte Teraidh'Calain eine Gefahr. Auch jetzt ist das nicht der Fall. Sie ziehen an den Oasen vorbei, glaube ja nicht, das wir diese Wesen nicht insgeheim überwachen. Sie meiden sowohl die Städte der Hellhäutigen am Meer, als auch unsere Oasen. Ich weiß nicht, wo sie hin wollen aber sie behelligen uns nicht. Irgendwann werden sie verschwunden sein. Und wenn dir nicht gefällt, was bei den Rhain'Tareth und im Hohen Rat entschieden wird, dann tritt ihnen doch bei."
Rhas'Valyn biss sich verlegen auf die Unterlippe. Der Stich, der in dem letzten Satz seines Bruders steckte, hatte gesessen. Er wich Ko'Rays Blick aus und sagte heiser:
"Du weißt genau, das ich das nicht kann. Ich bin 'nur' der zweite Sohn."
Ko'Ray nickte und sagte:
"Es ist gut, das du dich an deinen Platz erinnerst."
Er wandte sich um und ließ den jüngeren Mann allein mit seinen Gedanken.
Für gewöhnlich verstanden sich die Brüder sehr gut, doch Ko'Ray war sehr stolz und er mochte es nicht kritisiert zu werden, von niemandem. Er wurde dann schnell verletzen und er wußte genau, wie er Menschen verletzen konnte, die es wagten, ihn zu kritisieren.
~*~
"Und was willst du nun tun?", fragte Shar'Teyn seinen besten Freund.
Eigentlich sollten Rhas'Valyn und Shar'Teyn bei der Ausschachtung neuer Bewässerungskanäle helfen, die dazu dienen sollten, die neu angelegten, Weizenfelder mit Wasser zu versorgen, doch die Pause, die sie sich im Schatten der Dattelpalmen gönnten, dauerte nun schon länger als eine halbe Stunde. So nahe bei den kühlen Quellen, die aus den Tiefen der Erde hervorsprudelten und die Grundlage für all das Grün in der Oase bildeten, wehte ein angenehmes Lüftchen. Rhas'Valyn, der seine Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt hatte, schien seinen Freund gar nicht gehört zu haben. Wieder einmal war er in seinen Tagträumereien versunken.
Shar'Teyn war allerdings einer der wenigen Freunde Rhas'Valyns, die es nicht mehr irritierte, wenn er plötzlich mitten in einem Gespräch einen verklärten Gesichtsausdruck bekam und ins Land der Tagträume abdriftete. Er würde ebenso schnell wieder mit den Gedanken bei der Sache sein. Auch diesmal war das der Fall.
"Entschuldige, was sagtest du?", fragte er blinzelnd.
"Du erzähltest mir gerade von Ko'Rays Uneinsichtigkeit was diese eigenartigen Wesen angeht und ich fragte dich, was du tun willst", wiederholte Shar'Teyn geduldig.
Nachdenklich betrachtete Rhas'Valyn seinen Freund. Die dunkelroten Bänder, die in sein langes schwarzes Haar eingeflochten waren und die bronzenen Reifen, die seine Oberarme und seine Handgelenke umwanden, zeigten ihm, dass er in der Hierarchie seiner Familie noch weiter unten stand als er selbst. Shar'Teyn war nur der dritte Sohn Sho'Anins. Obwohl er ein Sohn des Ältesten in der Oase war, hatte sein Wort kein Gewicht. Nur die erstgeborenen Söhne eines Mannes hatten das Recht, die weißen Bänder und die goldenen Armreifen zu tragen. Diese Ehrenabzeichen waren aber auch Rhas'Valyn vorenthalten. Er durfte nur die blauen Bänder und die silbernen Reifen des Zweitgeborenen tragen. Worin genau der Ursprung dieser Tradition lag, die von den älteren Eruin vehement verteidigt wurde, wußte keiner mehr genau.
Er teilte seine Gedanken seinem Freund mit.
"Schau uns an. Was fällt dir auf? Trägt einer von uns das Gold und das Weiß? Ist einer von uns vielleicht ein Rhain'Tareth oder gar ein Mitglied des Hohen Rates? Du weißt, es ärgert mich, das Ko'Ray eine drohende Gefahr auf die leichte Schulter nimmt aber er hat nun einmal recht, wenn er sagt, dass unser Wort ohnehin nichts verändern wird."
Shar'Teyn nickte langsam. Er wußte, er konnte nicht einmal etwas ändern, wenn er seinen Vater darum bitten würde.
"Was ich allerdings auch nicht verstehe ist, warum dir diese eigenartigen Kreaturen, halb Mensch, halb Ochse scheinen sie zu sein, so viel Kopfzerbrechen bereiten. Sie ziehen doch nur vorbei und..."
Rhas'Valyn unterbrach seinen Freund:
"Ich kann es dir nicht sagen. Ich bekomme eine Gänsehaut wenn ich sie sehe. Es ist ein unbestimmtes Gefühl aber ich bin mir sicher, es wird Ärger geben, auch wenn ich nicht weiß wie."
Shar'Teyns Gesichtsausdruck veränderte sich und er sah nun besorgt aus.
"Denkst du, es könnte etwas mit der Prophezeiung zu tun haben? Du weißt schon die Nairanor."
Rhas'Valyn reagierte verärgert auf diese Frage. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, was eine steile Falte zwischen ihnen entstehen ließ.
"Du weißt genau, das ich nicht an diese Prophezeiung glaube. Sie ist nur ein Mittel des Hohen Rats, seine Macht zu festigen. Teraidh'Calain muß um jeden Preis geschützt werden und mit der Prophezeiung haben die Mitglieder des Hohen Rates ein gutes Argument in der Hand. Die Rahjani[5] in Teraidh'Calain sitzt zwar auf dem Kristallthron, doch die wahre Macht hat der Hohe Rat inne", sagte er.
Shar'Teyn hob abwehrend die Hände und erwiderte:
"Bitte! Ich wollte wirklich keine politische Diskussion mit dir vom Zaun brechen. Ich möchte nur gerne wissen, was du tun willst. Es gibt schließlich noch die Möglichkeit, das wir auf eigene Faust etwas unternehmen."
Bevor er jedoch seine Idee erklären konnte, wurden sie von dem Oberaufseher über die Bewässerungskanäle unterbrochen. Sie hatten zunächst seinen Schatten bemerkt, der über sie fiel. Er stand dort, breitbeinig und mit den Händen in die Hüften gestemmt. Ungeduldig wippte sein rechter Fuß auf und ab.
"Solltet ihr nicht längst an der Arbeit sein?" wollte er wissen.
Rhas'Valyn stand als erster auf und entschuldigte sich kleinlaut:
"Es tut uns leid. Wir haben wohl die Zeit vollkommen vergessen."
Melekh, der Aufseher, wollte anscheinend jedoch keine Entschuldigungen hören.
"Es ist mir egal, was - mal wieder - der Grund für eure Faulenzerei war. Ihr werdet heute eine Stunde länger arbeiten als die anderen und ab Morgen werdet ihr in verschiedenen Bereichen eingesetzt. Es ist doch auffällig, das ihr immer gemeinsam aus der Reihe tanzt. Ich sollte mit euren Vätern sprechen."
Stöhnend machten sich Rhas'Valyn und Shar'Teyn wieder an die Arbeit. Aber Rhas'Valyn ging nicht aus dem Kopf, was sein Freund gesagt hatte. Sie konnten etwas auf eigene Faust unternehmen. Ja, warum eigentlich nicht? Er konnte es kaum erwarten, dass sich der Tag seinem Ende neigte und sie unbeobachtet miteinander sprechen konnten.
~*~
Rhas'Valyn und seine Familie, zu der sein Vater Tairik, seine Mutter Sha'Vona, seine beiden Schwestern Kai'Lani und Inana sowie sein Bruder Ko'ray gehörten, lebten in einem zweistöckigen Haus aus gebrannten Lehmziegeln, das außen weiß verkalkt war, um die Hitze in den Innenräumen erträglicher zu machen. Es stand direkt am Marktplatz der Oase. Tairik hatte dieses Haus vor fast 1500 Jahren mit eigenen Händen gebaut und es Sha'Vonas Eltern als Brautpreis angeboten. Tairik war zwar ein erstgeborener Sohn und ein Rhain'Tareth, doch er stammte aus eher bescheidenen Verhältnissen und konnte Sha'Vona, die die Tochter es Ratsmitglieds war, nichts anderes bieten. Sha'Vona hatte seine Werbung jedoch mit Freuden angenommen, denn die beiden waren schon lange Zeit ineinander verliebt gewesen. Das Resultat ihrer Verbindung waren die vier Kinder, die in sehr kurzen Abständen, zumindest für die Verhältnisse der Eruin, hintereinander geboren wurden. Während Ko'ray Mitglied der Rhain'Tareth war und auch gute Aussichten auf einen Platz im Rat hatte, bereitete Rhas'Valyn seinen Eltern nichts als Kummer. Zumindest behauptete sein Vater das. Rhas'Valyn stand immer im Schatten seines älteren Bruders. Nur seine Mutter hatte ihm in seiner Kindheit so etwas wie Zuneigung entgegengebracht. Allerdings stand Rhas, wie ihn all seine Freunde nannten, dafür auch schon früh auf eigenen Beinen. Er hatte viele Freunde und obwohl dies eigentlich dem ältesten Sohn einer Familie vorbehalten war, hatte er bei Olvar, dem Schmied des Dorfes ein wenig den Umgang mit dem Skimar[6], der traditionellen Waffe der Eruin gelernt. Und er war in der Lage gewesen, sich zu den politischen Strukturen der Eruin seine eigenen Gedanken zu machen. Er hatte oft genug schweigend daneben gesessen, wenn sich Ko'Ray und sein Vater über Politik unterhielten und hätte Ko'Ray oft genug wegen seiner naiven Einstellung auslachen können. Er war der Meinung, dass das Recht des erstgeborenen Sohnes abgeschafft werden mußte, denn das jemand früher geboren wurde, war noch lange keine Garantie, dass er auch in der Politik talentierter sein mußte als ein zweit- oder gar drittgeborener Sohn. Er hatte von Haradrim- Händlern aus den Städten an den Küsten, mit denen man sich an Handelsplätzen in der Wüste traf, um die Lage der Oasen geheimzuhalten, gehört, dass es bei ihnen überhaupt keine Rolle spielte, wann ein Mann geboren wurde.
Während er an diesem Abend im Kreis seiner Familie auf dem mit feinen Teppichen ausgelegten Hauptraum des Hauses das Abendessen einnahm, grübelte er die ganze Zeit über das nach, was sein Freund Shar'Teyn am Nachmittag zu ihm gesagt hatte. 'Wir könnten doch etwas auf eigene Faust unternehmen', hatte er gesagt. Nachdenklich biss er in einen saftigen Pfirsich. Er hatte sich in die weichen, von seinen Schwestern handbestickten Kissen zurückgelehnt und die erste halbe Stunde des Abendessen vorgegeben, den politischen Diskussionen zwischen seinem Vater und seinem Bruder zu folgen.
"Was sagst du dazu, Múndar!", fragte Ko'Ray mit einem Mal und riss ihn so aus seinen Gedanken.
Der Bruder hatte sich in die weichen Seidenkissen zurückgelehnt, in der einen Hand einen saftigen Granatapfel und neben sich auf einem niedrigen Tischchen einen Pokal Wein. Erwartungsvoll blickte er Rhas über den Granatapfel hinweg an.
Minutenlang herrschte peinliches Schweigen und schließlich ruhten alle Blicke auf Rhas. Dieser blickte verstört von einem zum anderen. Er hatte keine Ahnung, worüber sein Vater und sein Bruder gesprochen hatten.
"Was immer du meinst, es wird schon richtig sein, Múndar!", sagte er schnell.
Ko'Ray und Tairik blickten sich mitleidsvoll an und fingen dann an, aus vollem Halse zu lachen.
Zwischen den Lachern brachte Tairik hervor:
"Was bist du nur für ein unverbesserlicher Träumer, Rhas'Valyn. Was soll aus dir bloß noch werden?"
Und Ko'Ray fügte noch hinzu:
"Ich habe mir ja wirklich Mühe gegeben, dir einen Platz bei den Rhain'Tareth zu verschaffen aber ich hätte wissen müssen, das man einen Träumer wie dich dort einfach nicht gebrauchen kann."
Gedemütigt und wütend sprang Rhas auf und lief zur Tür. Ko'Ray hatte, dass wußte er ganz genau, niemals versucht, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Seine Mutter hielt ihn auf. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und warf ihm einen Blick zu, der ihm sagte, dass er ihr zuliebe nichts unüberlegtes tun sollte.
Er lief zu den Ställen. Mit einem überraschten Wiehern begrüßte ihn Aithal[7], sein treuer Hengst. Er war ein sehr, sehr schnelles Pferd und an Mut mangelte es ihm auch nicht. Jedoch war er für die Rhain'Tareth nicht temperamentvoll genug und so war das schöne Tier in seinen Besitz gelangt. Er hatte glänzendes, nachtschwarzes Fell, jedoch waren sowohl seine Mähne als auch sein Schweif strahlend weiß. Rhas machte sich nicht die Mühe, den Hengst zu satteln, sondern sprang so auf seinen Rücken und lenkte ihn heraus aus dem Stall. Er wollte zu Shar'Teyn, der mit seiner Familie am anderen Ende der Oase wohnte.
Die nächtlichen Geräusche der Oase, das hypnotisierende Zirpen der Grillen und der sanfte Wind, der die Palmwedel leise rascheln ließ, wirkten beruhigend auf sein Gemüt.
Als er das Haus von Shar'Teyns Familie erreichte, welches eher einem kleinen Palast glich - immerhin war Sho'Anin ja auch das Oberhaupt in der Oase - meldete er sich bei den Wachen an, die ihn, weil sie ihn als guten Freund Shar'Teyns kannten, sofort einließen. In der Haupthalle des Hauses empfing ihn Jha'Fol, der neue Vorsteher des Haushaltes. Er hinderte Rhas am Weitergehen, indem er sich mit weit ausgestreckten Armen vor die mit Eisen beschlagene, zweiflügelige Tür stellte, die zur Haupthalle des Anwesens führte.
"Ihr solltet wissen, das sich die Familie des Sotains[8] jetzt beim Abendessen befindet.", sagte er und verdeutlichte damit seinen Standpunkt, dass es keine gute Idee war, die Familie jetzt zu stören.
Rhas machte eine wegwerfende Handbewegung und erwiderte:
"Ach kommt, Jha'Fol, ihr wisst genau, das sich der Sotain nicht darum scheren wird, wenn sein jüngster Sohn den Speisesaal vorzeitig verlässt. Tut mir den Gefallen und richtet Shar'Teyn aus, dass ich auf ihn warte."
Jha'Fol musterte den jungen Eruin, der vor ihm stand von oben bis unten. Anscheinend überlegte er, ob er Anweisungen eines zweitgeborenen Sohn ausführen mußte. Letzten Endes entschied er sich wohl, dass es sich um eine einfache Bitte handeln mußte und sagte:
"Wartet hier!"
Während Rhas auf seinen Freund wartete, dachte er über sein Vorhaben in dieser Nacht nach. Er war sich sicher, das richtige zu tun. Wenn sein Bruder schon nicht in der Lage war, zu erkennen, was notwendig war, dann mußte er die Dinge selbst in die Hand nehmen.
Als Shar'Teyn die Vorhalle betrat, bemerkte Rhas es zunächst gar nicht.
"Du läufst auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Weshalb bist du so aufgebracht?" sprach Shar'Teyn seinen Freund an.
Erst da blickte Rhas auf. Er ging auf seinen Freund zu, legte einen Arm um seine Schultern und sagte mit verschwörerisch gesenkter Stimme:
"Komm, wir reiten heute Nacht nach Hin'Aileth[9]. Was du heute Nachmittag zu mir gesagt hast, ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Wir werden mit Ya'Tiraj sprechen. Er ist ein Erstgeborener und wenn er bei der Aktion heute Nacht dabei ist, werden wir mit Sicherheit keine Probleme bekommen."
Shar'Teyn blickte Rhas fragend an und meinte dann:
"Wenn du die Güte hättest, mir zunächst einmal zu erklären, was du genau vorhast... du weißt, die Nacht gehört den Hyänen und ich möchte nur ungern draußen in der Wüste sein, wenn sie jagen."
Rhas gab seinem Freund zu verstehen, dass er nicht in der Vorhalle über seinen Plan sprechen wollte und gemeinsam gingen sie zu den Ställen. Erwartungsvoll lehnte sich Shar'Teyn an die Box seiner Fuchsstute Sashai. Erwartungsvoll stupste diese ihren Herrn an der Schulter an, so als ob sie schon ahnte, dass sie in dieser Nacht noch einmal laufen durfte.
"Eigentlich will ich gar nicht lange darüber reden, Shar. Du sagtest, wir sollten auf eigene Faust Patroullien reiten und das werden wir heute Nacht eben das erste Mal tun."
Shar'Teyn war wie vom Blitz getroffen. Schließlich blinzelte er und sein Gesicht sagte, das er nicht ganz verstanden zu haben glaubte, was sein Freund ihm da gerade gesagt hatte.
"Und du willst Ya'Tiraj einweihen?", fragte er.
"Ja! Er ist ein Erstgeborener, ein Rhain'Tareth und was noch viel wichtiger ist: er ist unser Freund. Im übrigen ist er, so wie ich, niemals Ko'Rays Meinung. Die Dinge in Hin'Aileth werden unter seinem Kommando stets anders gehandhabt als hier."
Rhas hatte recht. Ya'Tiraj war ein Erstgeborener und hatte aufgrund dieser Tatsache leicht eine gute Position bei den Rhain'Tareth erhalten. Aufgrund seiner Fähigkeiten war er schnell zum Hauptmann befördert worden. Was seine Vorgesetzten jedoch nicht wußten war, dass schon früh in seiner Jugend ein Denkprozess begonnen hatte, der ihm sagte, dass es nicht richtig sein kann, von seinen Freunden getrennt zu werden und eine andere Laufbahn als sie einzuschlagen, nur weil sie keine Erstgeborenen waren. Er hatte seine Überzeugung lange für sich behalten, doch jetzt, wo er in einer Position war, in der man ihn nicht einfach übergehen konnte, sprach er immer öfter offen über seine Überzeugungen. Seiner Beliebtheit bei den Rhain'Tareth tat dies keinen Abbruch aber der Rat der Sotains wurde immer nervöser.
Endlich nickte Shar'Teyn.
"Du könntest recht haben. Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert. Aber wir werden morgen fürchterlich erschöpft sein und ich hoffe, dass Ya'Tiraj nicht unseretwegen Probleme mit dem Sotain von Hin'Aileth bekommt." wandte er dennoch ein.
Rhas war jedoch schon damit beschäftigt, die Tür zu Sashais Box zu öffnen und das Zaumzeug von der Stallwand zu nehmen. Er hielt es Shar'Teyn entgegen und sagte:
"Nun komm schon, was das angeht wird uns auch noch etwas einfallen, wenn wir auf dem Rückweg sind."
Endlich war Shar'Teyn völlig überzeugt und sie machten sich auf den Weg zur Nachbar-Oase Hin'Aileth.
~*~
Bald hatten sie die ersten Ausläufer der Nachbar-Oase erreicht und auf den ersten Blick schien alles ruhig zu sein, doch dann sahen sie die Feuer, die auf den hohen Türmen brannten, welche in Abständen von jeweils 100 Schritt die Oase umgaben.
"Was ist da los? Die Wächterfeuer werden nur entzündet, wenn Gefahr droht." fragte Shar'Teyn.
Rhas fluchte:
"Ich habe keine Ahnung, verdammt! Wenn in Ailanor'leth anders entschieden worden wäre, würden sie die Feuer jetzt sehen aber da mein Bruder ja der Meinung war, man müßte nicht in Alarmbereitschaft versetzt werden, wird ihnen wohl keiner zur Hilfe kommen, was auch immer dort geschieht."
Die beiden schauten sich an und kamen zu einer wortlosen Übereinkunft. Sie mußten nach Hin'Aileth reiten um nach dem Rechten zu sehen.
In der Oase herrschte das totale Chaos. Viele Eruin liefen verwirrt und mit blut- und rußverschmierten Gesichtern durch die Gassen. Die Rhain'Tareth versuchten mehr oder weniger erfolgreich, wieder Ordnung herzustellen. Mit lauten Rufen forderten sie die Leute auf, ihre Häuser aufzusuchen und Türen und Fensterläden zu schließen. Einige kamen ihnen entgegen und forderten sie auf, Wasser von den Quellen zu holen um das Ratsgebäude zu löschen.
Rhas war verwirrt. Das Ratsgebäude brannte? Was war bloß geschehen. Er drehte sich im Sattel zu Shar'Teyn und sagte:
"Wir müssen Ya'Tiraj finden. Er kann uns sicherlich erklären, was geschehen ist."
Das sie zu Pferd waren, erleichterte es ihnen, durch die verwirrte Menge zu kommen. Tatsächlich entdeckten sie in der Nähe des Ratsgebäudes, bei den Ställen der Rhain'Tareth ihren Freund Ya'Tiraj. Er war gerade damit beschäftigt, eine kleine Truppe zusammenzustellen. Die Rhain'Tareth sattelten ihre Pferde und bewaffneten sich, während die Bewohner von Hin'Aileth damit beschäftigt waren, die Flammen zu löschen, die vom Ratsgebäude inzwischen auch schon auf die nebenstehenden Gebäude überzugreifen drohten. Als der Naim der Rhain'Tareth von Hin'Aileth seine beiden jungen Freunde entdeckte, sprang er von seinem Pferd und lief aus sie zu.
"Endlich! Sicher habt ihr doch Verstärkung aus Ailanor'leth mitgebracht, nicht wahr? Wo sind die Reiter deines Bruders, Rhas?" wollte er wissen.
Sekundenlang blickte er den jüngeren Eruin erwartungsvoll an. Als dieser langsam den Kopf schüttelte, verspannten sich seine Kieferknochen. Rhas wußte, dass dies ein Zeichen dafür war, dass sein Freund vor Wut innerlich kochte. Ya'Tiraj zog sich hastig seine ledernen Reithandschuhe aus und warf sie mit einem wütenden Aufschrei zu Boden.
"Wo bei allen guten Geistern hat Ko'Ray nur seine Augen. Wir hatten die Wächterfeuer schon entzündet, als diese Kreaturen begannen, die Oase zu beobachten. Wieso ist dein Bruder nur zu nichts zu gebrauchen. Er dreht sich wie eine Fahne im Wind, versucht mal dem einen, mal dem anderen zu Gefallen zu sein und vergißt darüber hinaus, dass er Aufgaben zu erfüllen hat. Manchmal denke ich, dass die Erbfolge bei euch verdreht ist. Du solltest der Erstgeborene sein, immerhin bist 'du' hier!"
Rhas wußte, es hatte keinen Zweck Ya'Tiraj beruhigen zu wollen. Er und sein Bruder, die ungefähr gleich alt waren, lagen schon seit ihrer Kindheit aus einem ihm unbekannten Grund im Streit miteinander, und brachten sich bei offiziellen Anlaessen, die sie hin und wieder im Zuge ihrer Pflichten beiwohnen mussten, nur die vorgeschriebene Hoeflichkeit entgegen.
Shar'Teyn, der sich aufmerksam umgeschaut hatte, vermutete schon, was geschehen war. Er fragte den Naim:
"Was ist hier eigentlich geschehen? Waren das diese eigenartigen Gestalten?"
Ya'Tiraj nickte und antwortete dann mit unterdrückter Wut in der Stimme:
"Ja, natürlich! Sie ziehen plündernd zwischen den Küstenstädten der Hellhäutigen und unseren Oasen hin und her. Ich habe keine Ahnung, wo sie hinwollen. Wir konnten auch ihre grunzende Sprache kaum verstehen. Anscheinend haben sie aber alle das selbe Ziel. Es war die Rede davon, das noch mehr von ihnen kommen würden. So viel habe ich verstanden. Sie haben Wasser gebraucht und als sie keine Nahrung fanden, die sie zufriedengestellt hätte, haben sie angefangen, die Häuser zu zerstören. Das Ratsgebäude haben sie angesteckt... schaut euch doch nur an, wie es hier aussieht."
Bei diesen Worten drehte er sich um und ließ seinen Blick über den Ratsplatz und die angrenzenden Gebäude wandern. Auch den zwei Freunden blieb nicht lange verborgen dass die Bewohner dieser Siedlung nicht nur einige Häuser verloren hatten, sondern auch viele von ihnen auf grausame Art das Leben gelassen hatten. Nun, nachdem es so schien, als wäre der Angriff vorüber wurde erst das ganze Ausmaß der Verwüstung sichtbar, die nicht nur an den Gebäuden stattgefunden hatte, sondern auch in den Köpfen der Eruin, die sich bisher in ihren geheimen Oasen sicher und unantastbar gefühlt hatten. Diese Sicherheit war ihnen nun auf grausame Art und Weise genommen worden und die Verzweiflung spiegelte sich in ihrer Augen wieder über das, was nun werden sollte, und wie es nun mit ihnen weitergehen würde.
"Und was wollt ihr jetzt tun?", fragte Rhas.
"Ich stelle eine Truppe zusammen. Wir wollen sie verfolgen. Sie haben einige unserer Frauen entführt...", Ya'Tiraj blickte zum Himmel und holte tief Luft, bevor er mit tränenfeuchten Augen fortfuhr, "... sie haben Shi'Jana entführt. Versteht ihr? Ich muß ihnen folgen."
Rhas sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. Bei Airo, dem Wächter über die Wüste, sie hatten Ya'Tirajs schwangere Gemahlin entführt. Er wußte, das Ya'Tiraj nicht eher ruhen würde, bis sie wieder bei ihm war.
"Wir kommen mit!", entschloß er sich sofort.
"Nein, bitte! Bleibt hier, helft den Leuten. Viele suchen ihre Angehörigen, viele sind verletzt. Wir haben uns nach Kräften gewehrt. Vielleicht findet ihr gar einen dieser stinkenden Hunde, der noch lebt und uns sagen kann, wohin sie die Entführten bringen. Wir brauchen hier Leute wie euch, die einen kühlen Kopf behalten", bat Ya'Tiraj.
Dann sprang er auf sein Pferd und gab seiner Truppe das Kommando zum Abreiten.
Während sie dem Naim und seiner Truppe nachblickten, fluchte Rhas abermals:
"Ich wünschte, man würde mir ein Skimar geben, dann würde diese Bestien von den Hoden bis zum Kinn aufschlitzen."
Shar'Teyn zog ihm am Arm und meinte:
"Komm, tun wir, was Ya'Tiraj uns aufgetragen hat. Finden wir erst einmal ein Gebäude, wo wir die Verwundeten unterbringen können."
Sie machten sich auf den Weg zur Kaserne der Rhain'Tareth. Dort war genügend Platz. Sie fragten sich nur beide insgeheim, wie es ihnen gelingen sollte, die zurückgebliebenen Rhain'Tareth, die auch in Hin'Aileth einigermaßen hochnäsig waren, davon zu überzeugen, dass der Befehl, eine Unterkunft für die Verwundeten zu finden, direkt von Ya'Tiraj kam.
Plötzlich entdeckte Shar'Teyn am Rande eines Quellbaches im hohen Riedgras etwas sehr helles.
"Schau, das ist eines dieser Monster... wir sollten..."
Er machte einen Schritt in die Richtung, doch Rhas hielt ihn fest und sagte:
"Nein warte, sie sind nicht so hell. Sie haben dunkle Haut...", sie gingen näher an die Gestalt, die da am Ufer des Quellbaches lag und waren überrascht, eine Frau zu finden, "...und sie sind nicht so... bezaubernd. Bei allen guten... ich weiß nicht wer sie ist aber schau, ihre Ohren."
Verblüfft blickten sich die beiden Freunde an.
"Sie ist eine von uns? Sie ist eine Eruin?", vermutete Shar'Teyn.
Rhas strich der Frau Haare aus dem zerschundenen Gesicht, die so golden wie der Sonnenaufgang waren. Sie sah arg mitgenommen aus. Ihre Lippen waren aufgesprungen, ihre Augen mit Wüstensand verklebt und als er sie aufhob, stellte er fest, das sie leicht wie eine Feder war. Dennoch konnte erkennen, von welcher Schönheit diese ungewöhnliche Frau unter all dem Schmutz war.
"Wahrscheinlich ist sie eine von den Bemitleidenswerten, die zuvor von den Kreaturen entführt wurde.", sagte er.
Shar'Teyn blickte immer noch vollkommen verblüfft drein.
"Aber wer ist sie? Wo kommt sie her? Warum haben sie sie hier zurückgelassen? Wenn sie keine Eruin ist, was ist sie dann. Eine solche helle Haut habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Die Sonne muß sie fürchterlich verbrannt haben."
Rhas erwiderte:
"Das werden wir erfahren, wenn es ihr besser geht. Wir müssen ihr helfen. Shar, gib mir deinen Wasserschlauch."
Shar'Teyn tat, wie ihm geheißen. Rhas, hielt der Frau den Schlauch an den Mund. Als das frische, kühle Nass ihre Lippen befeuchtete, schlug sie für eine Sekunde die Augen auf. Rhas war überrascht, in Augen zu blicken, die von strahlenderem Blau als das Himmelszelt waren. Diese Frau war wirklich wunderschön. Sie mußte um jeden Preis überleben oder er würde sich das niemals verzeihen.
"Jhewaná ná'in[10], ich weiß euren Namen nicht aber ihr seid jetzt in Sicherheit. Wir werden für euch sorgen", sagte Rhas zu ihr, obwohl er sich nicht sicher war, ob sie ihn hören konnte.
Rhas bat seinen Freund, die Zügel der beiden Pferde zu nehmen und mit der geheimnisvollen Frau machten sie sich auf den Weg zur Kaserne der Rhain'Tareth.
Fertig! Seid gnädig mit mir. In diesem Kapitel ist vieles, was ich selbst erfunden habe. Es ist das erste Mal, dass ich so viele selbsterfundene Sachen in eine Fanfiction aufnehme. Wahrscheinlich, weil ich gerade dabei bin, mich von der reinen Fanfiction zu lösen, damit ich mein Projekt "Original" bald in Angriff nehmen kann.
----------------------- [1] Baireth Calen = das Fest des Wassers [2] Múndar = in der Sprache der Wüstenbewohner bedeutet das Bruder [3] Eruin = die Kinder der Wüste [4] Teraidh'Calain = Das grüne Königreich [5] Rahjani = Königin [6] das Skimar ist eine Stangenwaffe an deren beiden Enden jeweils eine in entgegensetzte Richtung weisende Klinge angebracht ist. [7] In der Sprache der Eruin bedeutet "Aithal" Mond [8] Sotain ist der Titel des Oasenoberhauptes [9] Hin'Aileth = Sandwirbel [10] Jhewaná ná'in = meine Schöne
