26. Hermiones Gewissen

Einen Moment über sprach keiner von ihnen. Nur Hermiones heiseres Schluchzen war zu hören.

Auch Draco war nach Heulen zu Mute. Aus Wut. Und aus Furcht davor, was sein Vater tun würde. Aber er hatte noch nie in seinem Leben geheult - nicht, wenn Zeugen dabei waren. Und er tat es auch heute nicht.

Er spürte, dass sie ihn verstohlen mit verweinten Augen beobachtete. Angeekelt wich er ihrem Blick aus. Plötzlich erhob sie sich und machte ein paar Schritte aus seiner Reichweite.

Er fuhr herum und musterte sie erschrocken.

Entsetzt bemerkte er, dass sie zur Tür zurückwich.

"Draco," flüsterte sie ein letztes Mal eindringlich seinen Namen, "wenn du nicht mitkommen willst, werde ich allein zu Lupin und Snape gehen. Ich bleibe keine Minute länger in einem Raum mit dieser teuflischen Blume da."

Sie sah ihn aus traurigen Augen an. "Wenn du schlau bist, versuchst du nicht, mich aufzuhalten."

Sie machte zögerlich wieder einen Schritt auf ihn zu. Ihr Blick wurde weich. "Und wenn du sehr schlau bist," meinte sie erstickt, "Kommst du mit mir. Bitte, sei schlau."

Er erwiderte ihren flehenden Blick ungläubig. Nein! Niemals! Sie durfte ihm nicht entwischen!

Er riß seinen Zauberstab aus der Tasche. Aber Hermione hatte anscheinend damit gerechnet. Im Bruchteil eines Augenblicks hielt auch sie ihren Zauberstab in der Hand.

Gleichzeitig setzten sie zum Petrificus-Fluch an. Aber Hermione war eine Sekunde schneller. Wie immer. Sie wisperte den Fluch mehr, als dass sie ihn sprach.

"Petrificus semifex."

Draco fühlte, wie sein Körper seine Bewegungen einfror, ihn lähmte, zum Gefängnis wurde. Er blieb stehen, mit erhobenem Zauberstab, unfähig, sich zu rühren.

Keine schlechte Pose für ne Statue, eigentlich, ging es ihm durch den Kopf.

Vergisss es Draco, dachte er dann. Du wirst NIEMALS Ruhm ernten. Wie du siehst.

Hermione liess ihren Zauberstab sinken und trat auf ihn zu. Sie stellte sich vor ihm auf die Zehenspitzen und pflückte den Zauberstab aus seiner versteinerten Hand.

Warum musste sie auch in allem so verdammt DURCHDACHT sein?!

Sie steckte seinen Zauberstab ein und musterte ihn.

Sie stand nur einige Milimeter von ihm entfernt. Er konnte ihren Duft riechen. Sie roch frisch und rein, ein bißchen nach Zitrone, und nach frischem Tau. Ihre Lippen flatterten.

Dann stellte sie sich noch einmal auf ihre Zehenspitzen. Legte ihren Arm um seinen Hals und küßte seine erkalteten Lippen.

Wie verrückt dieses Mädchen doch ist, dachte er.

Sie löste sich von ihm und lächelte schief. "Verzeih mir," meinte sie. "Aber wenn dieser Fluch nachläßt, werde ich wohl nie wieder so nah an dich rankommen, schätze ich."

Sie wandte sich ab. Mit gesenktem Kopf, als warte draußen auf sie der Block des Henkers, drückte sie die schwere Eisentür auf. Dann blieb sie noch einmal stehen und blickte sich zu ihm um.

Draco sah Zärtlichkeit in ihren Augen, und Trauer.

"Ich habe die mildere Form des Petrificus-Fluches benutzt," erklärte sie seiner versteinerten Gestalt sanft. "Sie lähmt deinen Körper, aber dein Verstand arbeitet weiter. Und in einer halben Stunde wird er aufhören, zu wirken. Wenn alles gutgeht, bin ich schon vorher wieder da, mit Lupin und Snape. Dann werden wir uns um dich kümmern. Dann wirst du alles erfahren, was ich dir jetzt nicht sagen kann. Du wirst sehen, es ist besser so. Und wenn ich länger brauche als eine halbe Stunde - "

Sie verstummte kurz. Dann wandte sie den Blick wieder von ihm ab und machte den ersten Schritt aus der Tür.

"Wenn ich länger brauche, steht es dir frei, zu fliehen. Wohin immer du willst," murmelte sie kaum hörbar. Dann war sie verschwunden.

Schwer fiel die Eisentür hinter ihr ins Schloß.