Kapitel 8: Schlussstrich

„Bist du sicher, dass du das wirklich willst?" erkundigte sich Arhat.

„Vollkommen sicher," bestätigte Sam und setzte sich.

„Es kann sehr schmerzhaft werden."

„Das ist mir klar."

„Also gut," nickte der Tok'ra-Arzt und schnallte Sam fest. Dann befestigte Arhat an ihren Schläfen jeweils ein kleines blinkendes Plättchen. „Je nachdem, wie viele von Jolinars Erinnerungen noch in dir sind, kann es Minuten oder auch Stunden dauern. Und du wirst jede einzelne Erinnerung noch einmal durchleben, bevor sie verschwindet. Sie werden dir später wie entfernte Träume verbleiben, die mit der Zeit verblassen."

Sam nickte und schloss die Augen. Dann startete Arhat den Vorgang. Augenblicklich schossen die ersten Erinnerungen durch Sams Kopf und sie riss die Augen wieder auf. Ihr Atem ging schneller, als all die Bilder auf sie einströmten. Sie sah das, was sie schon kannte. Erinnerungen und Gefühle für und an Martouf und Lantash, Erinnerungen aus Jolinars Zeit mit Rosha, dann die Bilder aus der Zeit auf Orenda. Es folgten noch viel frühere Erinnerungen.

Während die Bilder so in die Vergangenheit hin durch ihre Gedanken flogen, verlor Sam jegliches Zeitgefühl. Sie wusste nicht mehr, ob es gerade erst angefangen hatte oder ob sie schon stundenlang da saß. Sie spürte nur, wie sich ihre Hände um die Lehnen des Stuhls krallen und wie sie immer wieder nach Luft rang.

Schließlich schien es, als ob die Bilder abklingen würden – dann wurden sie aber wie zu einem Wirbel aus Farben, Gefühlen und Gesprächsfetzen, die auf Sam einschlugen. Sie wurden teilweise wieder klarer, dann unklarer. Erinnerungen der verschiedensten Zeiten gingen völlig durcheinander, wurden manchmal von bewussten Gedanken Sams unterbrochen. Dann konnte sie auch regelrecht spüren wie eine Erinnerung nach der anderen aus ihr verschwand und nur noch ein verblassender Schatten in ihr zurückblieb…

Was dann aber kam, versetzte Sam einen erneuten Schock. Eine bisher unbekannte Erinnerung flammte in ihr auf. Etwas, das zugleich zu ihr und Jolinar gehörte. Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Zeit vor sechs Jahren. Sam wurde dabei klar, dass sie diese bestimmt nicht so loswürde wie die anderen und ihr wurde ebenso klar, dass sie diese Erinnerungen selbst verdrängt haben musste. Sie lagen nicht so schwer zugänglich und versteckt in ihr wie die Gedanken und Gefühle aus Jolinars früheren Leben.

Fast alles von Jolinar war nun fort, nur noch dieses letzte, das eben auch zu ihr gehörte, war noch da. Sam erinnerte sich wieder ganz intensiv, an den Tag, als Jolinar von ihr Besitz ergriffen hatte. Wie sie sich erst gewehrt hatte, bevor sie erkannt hatte, dass Jolinar keine Goa'uld war. Und vor allem wie Jolinar reagiert hatte, als sie Jack wieder erkannt hatte. Das war Sam damals gar nicht bewusst gewesen. Erst jetzt begriff sie die Zusammenhänge. Nach hundert Jahren hatte Jolinar Jack wieder getroffen. Ihre Gefühle waren so anders und doch so gleich gewesen.

Und Sam, begriff es plötzlich – es stimmte, dass ein Wirt und sein Symbiont all ihre Gefühle teilten, doch es war immer mehr der Wirt, von dem Gefühle für eine andere Person ausgingen. Padme-Jolinar hatten sich in Jack verliebt, später hatte sich dann Rosha-Jolinar in Martouf verliebt. Zuvor gab es auch Beziehungen und all diese Lieben hatte Jolinar stets in sich bewahrt. Sam waren jedoch nur die Erinnerungen an die letzten beiden, an die größten ihrer Lieben, geblieben. Und nun verstand sie auch, warum sich Jolinar für sie geopfert hatte. Es war zum einen die Erkenntnis gewesen, sich selbst nicht mehr retten zu können und wenigstens dem unfreiwilligen Wirt das Leben zu schenken, zum anderen – und das wog vielleicht noch viel mehr – hatte Jolinar es für Jack getan. Ihr Besitzergreifen von Sam war reiner Selbstschutz gewesen, dem die Erkenntnis gefolgt, war, dass sie die Samantha war, von der Jack Padme einst erzählt hatte. Das und ihr Erkennen von Sams existenten Gefühlen für Jack hatte sie bewogen, sich für Sam und gleichzeitig auch für Jack zu opfern. Sie wusste, dass Sam leben musste, weil es das Kind noch nicht gab, von dem Jack erzählt hatte und sie wusste, dass Sam leben musste, weil es für sie und Jack eine Zukunft gab – anders als es bei Padme und Jack gewesen war.

Sam nahm ihre Umgebung wieder wahr. Die Erinnerungen waren fort, das Wissen um Jolinars Opfer war ihr aber geblieben. Sie registrierte nur beiläufig, dass Arhat ihr die Geräte an den Schläfen abnahm und sie vom Stuhl losmachte. Sams Gedanken kreisten immer noch um ihre letzte Erkenntnis. Jolinar hatte sich nicht nur für sie, sondern auch für Jack geopfert. Sie begriff nicht, warum sie das nicht schon früher erkannt hatte. Aber eigentlich war das gar nicht mehr so wichtig. Sam war einfach nur erleichtert – Janet, Jonas und Teal'c hatten Recht gehabt. Ihre Gefühle für Jack waren ihre eigenen, sie kamen nicht von Jolinar – allerdings hatten die Gefühlsechos von Padme-Jolinar das ein oder andere Mal mitgemischt. Damit konnte Sam aber leben. Diese Echos waren nun fort. Sie würden sie nicht mehr beeinflussen und sobald Jack zurückkehren würde, könnten sie einen neuen Anfang wagen.

Sam sah plötzlich auf und wollte kaum ihren Augen trauen. „Hey," sagte sie sanft und erleichtert. „Wie war dein Ausflug in die Vergangenheit?"

Jack kam lächelnd auf sie zu und zog sie an den Händen vom Stuhl hoch. „Hätte nicht unbedingt sein müssen. Eine Zeitreise hätte mir gereicht."

„Ja, mir auch," murmelte Sam vor sich hin und wagte es nicht recht, ihm in die Augen zu sehen.

„Was ist?" fragte er verwirrt. „Was hab ich verpasst?"

„Nur ne ziemlich bescheuerte Überreaktion meinerseits. Aber Janet, Jonas und Teal'c haben mir den Kopf gewaschen."

Jack nahm Sam an der Hand und spazierte mit ihr langsam aus dem Raum und ziellos die Kristallgänge entlang. „Was hast du denn angestellt? Und was hast du hier eben eigentlich gemacht?"

Sam lächelte. „Ich hab einen Schlussstrich gezogen."

„Schlussstrich?"

„Ja, ich habe die Sache mit Jolinar endgültig beendet."

„Oh, die hab ich übrigens getroffen."

Sam lächelte wissend. „Ich weiß."

„Du weißt das?"

„Na ja," meinte sie dann. „Ich wusste es."

„Kannst du vielleicht so mit mir reden, dass ich es auch verstehe?" bat Jack mit verwirrtem Gesichtsausdruck.

Sam lachte und es klang fröhlich, frei und erleichtert. „Entschuldige. Ich hab einfach einen furchtbaren Tag hinter mir." Sie drückte seine Hand stärker. „Nachdem du verschwunden warst, sind die verschwommenen Erinnerungen plötzlich ganz klar geworden. Es waren Erinnerungen von Padme an dich."

„Ach ja, diese Jolinar-Sache."

Sam nickte. „Ich wusste, dass sie dich wieder zurückschicken würde, aber…" Sie zögerte, es ihm zu sagen. „Na ja, zu diesem Erinnerungen gehörten auch Gefühle… ziemlich starke Gefühle… Padme hat sich in dich verliebt."

„Ich weiß."

Sam sah ihn überrascht an. „Was?"

„Sie hat nichts gesagt, aber ihr Blick war eindeutig." Er grinste plötzlich. „Du siehst mich auch so an."

Sam schrak bei dieser Aussage etwas zusammen und senkte leicht den Blick. „Genau das ist… war das Problem."

Jack runzelte die Stirn.

„Padme – und damit auch Jolinar – hat dich geliebt. Und ich war, wenn auch nur ganz kurz, Wirtin für Jolinar."

Sam schwieg nun und Jack musterte sie ganz genau. Es beschlich ihn eine ziemlich sichere Ahnung, was sie gedacht haben musste. Und eigentlich hätte es ihm schon in Padmes Gegenwart klar werden müssen. Immerhin hatte er in dieser Beziehung durch die Sache mit Khanan auch etwas Erfahrung. Ihm wurde nun klar, wie sehr Sam unter diesen Erinnerungen gelitten haben musste. Sehr viel mehr als er, denn trotz der ungleich längeren Zeit, die er im Gegensatz zu Sam und Jolinar als Khanans Wirt verbracht hatte, war seine Verbindung zu Khanan nicht so intensiv gewesen, wie die von Sam zu Jolinar. Der Tok'ra Khanan war mit Jacks moralischen Ansichten konfrontiert worden, Jack im Gegenzug mit Khanans Gefühlen für die Sklavin von Ba'al. Das hatte aber bei Jack nicht zu Gefühlen für das Mädchen geführt, sondern lediglich dazu, dass beide sich entschlossen hatten, sie zu befreien… Er beschloss, später mit Sam über seine Erfahrungen zu sprechen und damit seinerseits den Schlussstrich zu ziehen. „Du hast geglaubt, deine Gefühle für mich gehen auf Jolinar zurück?"

„Ja," hauchte Sam. „Bei Martouf wusste ich die Grenze zwischen meinen und Jolinars Gefühlen zu ziehen, aber was dich anging, wusste ich plötzlich gar nichts mehr. Ich war so unsicher und dachte, dass alles allein von Jolinar kommt. Darum habe ich… Ich war drauf und dran, meine Sachen zu packen und mit Maddy zu gehen. Da tauchten Janet, Jonas und Teal'c auf."

Jack lächelte. „Und sie haben dich wieder zur Vernunft gebracht?"

„Im Gespräch mit ihnen ist mir klar geworden, dass ich Jolinars Erinnerungen loswerden muss, um herauszufinden, ob das nun meine oder ihre Gefühle sind."

„Ach, das war das hier eben?" gestikulierte er.

„Ja. Ich habe Jolinars Erinnerungen jetzt nicht länger in mir."

Jack blieb stehen und wandte sich Sam zu. Er ergriff nun auch ihre zweite Hand. „Und? Was ist das Ergebnis?" fragte er mit einem schelmischen Grinsen, das zeigte, dass er die Antwort bereits kannte.

Sam lächelte. „Dass ich nicht Padme bin. Ich bin Sam. Und Sam hat sich ganz unabhängig und lange vor der Begegnung mit Jolinar in Jack verliebt."

„Hey," grinste Jack weiter, „halluziniere ich gerade oder hast du gesagt, dass du mich liebst?"

Sams Blick und der Kuss, der ihm folgte, waren Antwort genug. Und sie zog in diesem Augenblick noch einen weiteren Schlussstrich – sie entband Jack mit diesem Kuss von seinem Versprechen, ihr Zeit zu lassen, sie nicht zu drängen und keine Beziehung entstehen zu lassen. Jedwede Zweifel, die sie in den letzten Monaten begleitet hatten, waren nun verschwunden. Sam glaubte nicht länger, dass Jack sich nur wegen Maddy um sie bemühte – vielleicht hatte sie das auch nie wirklich getan – und sie glaubte nicht länger, dass eine Beziehung nicht funktionieren könnte. Das mochte zum einen an der jüngsten Erkenntnis über ihre Gefühle liegen, zu anderen aber auch daran, dass sie in den vergangenen Monaten tatsächlich schon so etwas wie eine Beziehung mit Jack geführt hatte. Und dabei waren ihre Ängste eigentlich alles gewesen, was zwischen ihnen gestanden hatte. Die Regeln der Airforce waren schon lange kein Argument mehr, da Sam offiziell im Mutterschutz und derzeit kein Major war. Ihnen stand der Weg schon lange offen. Sie mussten ihn nur gehen.

So verabschiedete Samantha Carter mit diesem Kuss nun also ihre Ängste und Zweifel und begrüßte eine Sicherheit in sich, die sie nie für möglich gehalten hätte.

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