10. The Wedding
Sie hielten es durch.
Zumindest drei Monate lang. Dann wurde in dem Internat (es hieß „Colegio de Nobles", wie Leandra herausgefunden hatte) ein Ball gegeben. Das bedeutete, es gab für die Mädchen in der Waschküche noch mehr Arbeit.
Mittlerweile war auch die erste Hausdame wieder da. Sie war einmal kurz in die Waschküche gekommen, und Leandra war sofort klar gewesen, wer für diese Arbeitsbedingungen sorgte. Denn Señora Inés, so wurde die erste Hausdame genannt, kam etwa zehn Tage nach Leandras, Liz´ und Marías Einstellung in Den Waschkeller gerauscht und erklärte, dass durch ihre Abwesenheit sehr viel geschlampt geworden wäre, und sich dass ab jetzt wieder andern würde.
Was das hieß, spürte Leandra gleich an diesem Abend noch: Es gab noch weniger zu essen, im Gegensatz jedoch noch mehr zu arbeiten.
Abends konnte Leandra vor lauter Magenknurren nicht einschlafen. Ihre Hände und Füße waren rau und rissig von der Seifenlauge und sie, Liz und María quälte ein schrecklicher Husten und ein ebenso schlimmer Schnupfen. Señora Inés gab bekannt, dass ein Ball stattfinden würde und sie sich deshalb mit dem Waschen besonders anstrengen müssten. Außerdem würde die Köchin in einigen Tragen herunterkommen und sich ein paar Mädchen aussuchen, die vorübergehend in der Küche arbeiten sollten.
Leandras Gedanken schweiften bei diesen Worten ab. Inder Küche arbeiten.... Da würde man zwar wahrscheinlich die Drecksarbeit machen müssen, aber zumindest kämen man aus diesem unterirdischen Gefängnis heraus und könnte mal wieder den Himmel sehen und frische Luft schnappen. Das hatte sie zum letzten Mal am Tage ihrer Einstellung getan. Wie es wohl wäre, wieder draußen zu sein? Darüber wollte sie lieber gar nicht nachdenken. Es war schon schlimm genug, dauernd an Kyle denken zu müssen, da konnte sie sich nicht noch etwas leisten, nach dem sie Sehnsucht hatte, sonst würde sie hier unten garantiert noch durchdrehen!
Zwei Tage später kam wirklich die Köchin nach unten und erklärte, sie benötige fünf Mädchen, die ihr in der Küche helfen würden. Leandra sah sich um. Niemand wagte es, sich zu melden, weil sie zu unsicher waren, was sie jetzt tun sollte.
Leandra hob die Hand. „Ich würde gerne in der Küche arbeiten!", sagt sie klar und deutlich.
„Wir beide auch!", ertönten die Stimmen von Liz und María von hinten.
Die Köchin nickte. „Gut ihr drei! Wer noch?"
Plötzlich meldeten sich alle. Die Köchin wählte noch zwei weitere Mädchen aus und brachte sie dann nach oben in eine kleine Kammer. Dort übergab sie ihnen neue Dienstuniformen. Es waren schwarze, einfache Kleider mit weißen Schürzen. Dazu bekamen sie weiße Strümpfe und schwarze Halbschuhe. Und wieder Hauben, diesmal weiße.
Als sie sich umgezogen hatten, brachte die Köchin sie in die Küche. Sie war riesengroß und hatte hohe, schmale Fenster. Durch sie schien die Abendsonne hindurch. Die Köchin drehte sich zu den Mädchen um, die ihr ehrfürchtig folgten
„Ich brauche euch für ca. fünf Tage, da einige der Ballgäste wegen der Hochzeit von Princesa Isabelle über ein paar Tage bleiben!", erklärte sie ihnen.
Dann folgte eine lange Liste von Anweisungen. Leandra bekam die Anweisung, Gemüse zu putzen und zu schälen, zusammen mit Liz und María. Jetzt hatten sie endlich mal wieder Zeit, um sich zu unterhalten.
„Ich bin so froh, dass wir wenigsten für ein paar Tage aus dieser Hölle herausgekommen sind!", stöhnte María. „Wenn der Arbeitsmarkt besser wäre, dann würde ich sofort kündigen! Aber was wollen wir machen!"
Liz zuckte die Achseln.
„Ich bin auch froh, dass wir hier arbeiten können!", stimmte Leandra María zu.
„Ich vermisse Max so sehr!", flüsterte Liz plötzlich. Tränen traten in ihre Augen.
María strich ihr über den Rücken.
„Wir werden sie wiedersehen!", sagte Leandra bestimmt.
Liz presste die Lippen zusammen und sah auf ihre Hände.
„Aber wann?"
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Zur selben Zeit stand Isabelle zusammen mit dem Schneider, ihrer Mutter und
ihren zwei Freundinnen in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und bewunderte ihr
Hochzeitskleid.
„Das sieht wunderschön aus, Izzy!", sagte ihre Mutter gerührt.
Sie hatte Isabelles Kosenamen nicht mehr benutzt, seit Isabelle zehn Jahre alt geworden war.
„Sie haben ganze Arbeit geleistet!", sagte sie zu dem Schneider, der sich mit einer Verbeugung bedankte.
Auch Isabelles Freundinnen, Dorotea und Federica bewunderten das Kleid. Isabelle sah weiter in den Spiegel. Auch ihr gefiel, was sie dort sah. Das bodenlange Kleid aus cremefarbener Seide ging unten weit auseinander, während es oben eng anlag. Es war mit lauter weißen gestickten Blumen verziert, die vom Saum emporwuchsen. Der Schleier aus Tüll mit der langen Schleppe lag auf einem Diwan in der Nähe des Spiegels.
Isabelle nickte zufrieden. Ja, so würde sie Alex morgen heiraten können. Sie waren vor ungefähr drei Monaten in Barcelona angekommen und Alex war sofort zu Isabelles Vater marschiert und hatte um Isabelles Hand angehalten. Der hatte Isabelle kommen gelassen und sie unter vier Augen gefragt, ob sie denn damit einverstanden sein würde, Alexander Socksley von Glasgow heiraten wolle. Isabelle hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht zu jubeln und zu erklären, dass das die dümmste Frage sei, die ihr je gestellt worden wäre. Stattdessen hatte sie breit gelächelt und erklärt, dass sie nichts dagegen hätte.
Ihr Vater war wieder zu Alex gegangen und Isabelle hatte ungeduldig in ihrem Zimmer gewartet, bis ihre Mutter gekommen war und ihr freudestrahlend verkündet hatte, dass sie Alex heiraten würde.
Und Morgen war es also dann soweit. Nach monatelangen Vorbereitungen. Über 100 Gäste waren eingeladen, und hinzu kamen die Gäste, die wegen des Balls im Internat ihrer Mutter angereist waren. Der Ball im Internat! Miguel und Max stemmten sich starrköpfig gegen den Willen ihres Vaters, dorthin zu gehen. Die letzten Jahre waren sie dort immer erschienen, aber damals hatten sie auch María und Liz noch nicht kennen gelernt. Das war schon verrückt! Sie hatten die beiden jetzt schon seit fünf Monaten nicht mehr gesehen, aber ihr Liebeskummer war trotzdem so groß wie am ersten Tag. Aber wenn ihr das mit Alex passieren würde, ginge es ihr ohne Zweifel genauso. Die vier Wochen, die sie von Alex von Dunkerque bis Huelva getrennt gewesen war, waren ja schon die Hölle gewesen! Sie konnte es sich gar nicht ausmalen, was ihre Brüder jetzt wohl durchmachten!
Sie sah aus dem Fenster. Es war November und zwar sonnig, aber sehr kalt. So kalt, dass im ganzen Palast bereits die Öfen angemacht wurden. Ihre Mutter drehte sich zu einem der Dienstboten um, die an der Tür standen.
„Würden Sie bitte einmal nachsehen, wo mein Mann bleibt? Er hat mit versprochen, er käme noch einmal hierher!"
Als der Dienstbote verschwand, wandte sich die Mutter wieder Isabelle zu.
„Ich wette, er ist immer noch in seinem Arbeitszimmer! Er arbeitet viel zu viel. Er sagt zwar, er fände es schade, dass ich von Montag bis Freitag im Internat bin, aber wenn ich hier wäre, liefe es doch auf das gleiche hinaus. Ich sähe ihn ohnehin nur am Wochenende!"
Isabelle nickte schweigend. Sie und ihre Mutter wurden von Dorotea, Federica und dem Schneider unterbrochen, die sich verabschiedeten.
Als sie weg waren, fuhr ihre Mutter fort: „Der einzige Grund hier zu bleiben wären du, Max und Miguel gewesen. Aber du hast all die Jahre ja auch mein Internat besucht und bist nun fertig, und Max und Miguel waren auf der Militärschule."
Es klang, als wolle sie sich entschuldigen.
Isabelle umarmte ihre Mutter fest, wobei sie sich ein Stück herabbeugen musste.
„Ach, Mamaíta, du hast schon das richtige getan! Du hattest ja auch deine Träume, und die hast du jetzt verwirklicht! Was soll daran denn schlimm sein?"
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Am nächsten Morgen war es dann soweit: Hunderte Menschen versammelten sich vor
der großen Kirche in Barcelona. In der Kirche drängten sich die Menschen, so
dass man sich kaum noch bewegen konnte.
Beifallsrufe erklangen, als die erste Kutsche vorfuhr und ihr Max, Miguel und Kyle entstiegen. Dann fuhr die Kutsche des Hochzeitpaares vor. Die Beifallsrufe nahmen einen rauschenden Klang an, als Alex Isabelle aus der Kutsche hob und sie in die Kirche führte.
Kyle saß eng gequetscht neben Miguel und Max und sah zu, wie der Bischof den Gottesdienst begann. Früher, nachdem er mit Leandra auf dem Ball gewesen war, hatte er es sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn sie heirateten. Ehrlich gesagt stellte er es sich immer noch vor.
Er sah zu dem Jesuskreuz auf, welches das Kirchenschiff schmückte. Wenn es einen Gott gab, wieso ließ er dann so etwas zu? Wieso ließ er zu, dass Miguel, Max und er von Liz, María und Leandra getrennt worden waren? Wieso ließ er es zu, das sie sich dermaßen quälten?
Isabelle und Alex erhoben sich auf die Worte des Bischofs hin und schritten nach vorne.
Isabelles „Ja" klang ein wenig piepsig, ganz ungewohnt im Gegensatz zu ihrer sonstigen Stimme, und Alex musste sich erst räuspern bevor er antworten konnte.
Kyle musste trotz seiner düsteren Gedanken lächeln. Dann lüftete Alex Isabelles Schleier und küsste sie innig.
Das Tosen der unzähligen klatschenden Hände hallte von den Wänden der Kirche wieder, und Isabelle und Alex verließen die Kirche unter einem nicht Enden wollenden Regen aus roten Rosenblättern. Die Brautjungfern, die die Schleppe trugen lächelten stolz in die Menge. Auf dem Kirchplatz wartete bereits eine offene, weiße Kutsche mit Lipizzanern vorgespannt, die das Brautpaar zum Palast bringen sollte.
Max, Miguel und Kyle folgten der Kutsche des Príncipe de Cataluña und seiner Frau. Im Palast angekommen, gab es ein riesiges Festmahl. Die Elevinnen des „Colegio de Nobles" führten zusammen ein humorvolles kurzes Theaterstück auf, was Isabelles Schulzeit dort wiederspiegelte, und was zu vielen Lachern führte.
Am Nachmittag zogen sich die Gäste zurück, um sich für den Ball umzuziehen, der am Abend stattfinden und das krönende Ereignis der Hochzeit sein sollte. Und das wurde er auch. Nach dem Brautwalzer war die Tanzfläche nie leer und es herrschte eine ausgelassenen Stimmung.
Doña Elena und Don Carlos erhoben sich und sprachen einen Toast auf das Brautpaar aus, nach welchem sich Doña Elena wegen der Termine zur Organisation des Balles in ihrer Schule entschuldigen ließ.
Max tanzte aus Anstand mit ein paar Mädchen. Irgendwann war er es leid, denn glücklichen Bruder zu spielen und ging hinaus in einen abgelegenen Teil des Gartens, wo Miguel und er als Kinder oft gespielt hatten. Dort war auch eine kleine Gartenlaube. Max blieb kurz stehen und sah in den sternenklaren Himmel. Als er dann die Laube betrat, bemerkte er Miguel, der darin auf einer Bank saß und aus der breiten Fensterfront auf das nächtliche Barcelona starrte.
Max wollte sich gerade wieder umwenden und gehen, als Miguel sagte: „Bleib ruhig hier! Du hältst es anscheinend ja auch nicht mehr auf der Hochzeit aus!"
Max setzte sich neben seinen Bruder. „Nein. Ich möchte Izzy auch nicht den Tag verderben, also ist es besser, dass ich gehe als dass ich da herumsitze und Trübsal blase!"
Miguel sagte nichts. Max konnte durch das fahle Mondlicht, dass durch das Fenster fiel, nur Miguels Umriss erkennen.
„Glaubst du, sie denken noch an uns?", fragte Miguel heiser.
Max zuckte die Schultern. „Das hoffe ich zumindest. Was meinst du, wo sie jetzt wohl sind?", fragte er zurück.
Jetzt zuckte Miguel die Achseln. „Weiß nicht. Solange es ihnen nur gut geht..."
Max schlug mit der Faust neben sich auf die Bank
„Herrgott, ich wollte ihr noch soviel erzählen! Und jetzt ist sie einfach weg. Manchmal kommt es mir vor, als wäre es nur ein Traum......!"
Miguel gab einen zustimmenden Laut von sich und rutschte mit verschränkten Armen tiefer in die Bank.
