Titel: Das letzte Geheimnis?; Kapitel 9
Disclaimer: immer noch gehört hier nichts mir
Warnung: in diesem Kapitel: Charakters Death
Und wieder ein Dankeschön an alle meine treuen Review-Schreiber!
****
Der nächste Tag war ein Samstag, was bedeutete, dass sie keinen Unterricht
hatten.
Als Harry und Ron noch ganz verschlafen in den Gemeinschaftsraum hinunter
kamen, saß Hermine bereits vor dem Kamin und blätterte in einem Buch.
„Morgen, Hermine. Was machst du denn schon so früh hier
unten?", fragte Ron gähnend.
„Das ist ein Zauberkunstbuch aus der siebten Klasse. Alicia
hat es mir geliehen. Ich wollte gucken, ob ein Aufrufezauber drin steht.
Fehlanzeige", erklärte Hermine.
„Irgendwo muss es doch drinstehen!", fluchte Harry.
„Wir könnten auch einfach zu Dumbledore gehen und ihm von
unserer Vermutung erzählen", meinte Ron.
„Nein, wir haben keine Beweise. Nur weil eine Ratte hier
auftaucht, heißt es noch lange nicht, dass es Wurmschwanz ist. Und außerdem
würde Dumbledore es sofort Sirius erzählen, und wenn es dann doch nicht Krätze
war, wäre er enttäuscht und das will ich ihm ersparen. Wir suchen einfach
weiter", widersprach Harry.
„Gehen wir frühstücken", schlug Hermine vor.
Als die Drei fast am
Bild der Fetten Dame angelangt waren, stieß auf einmal ein Schmerz durch Harrys
Narbe, der stärker nicht hätte sein können. Mit einem Schrei brach er zusammen
und presste sich die Hand auf seine schmerzende Stirn.
„Harry!", rief Hermine, kniete sich neben ihn und
schüttelte ihn an der Schulter.
Harry bemerkte es nicht, er war zu sehr darauf
konzentriert, nicht ohnmächtig zu werden. Nur schwach hörte er die magisch
verstärkte Stimme Professor McGonagalls durch den Raum hallen, die allen
Schülern hektisch befahl, sofort in die Gemeinschaftsräume zu gehen, nur die
Schüler der siebten Klassen hatten sich in der Eingangshalle einzufinden.
Als eine neue Welle des Schmerzes ihn überfiel, wurde Harry endgültig bewusstlos.
****
Als er erwachte, spürte er immer noch einen dumpf pochenden Schmerz in seinem
Kopf.
Langsam öffnete er die Augen, musste sie allerdings sofort
wieder gegen das gleißend helle Licht abschirmen. Es schmerzte ihn. Nach ein
paar Sekunden nahm er die Hände herunter und strich sich die Haare aus der
Stirn. Nun kehrte auch die Erinnerung an das, was geschehen war, in seine
Gedanken zurück. Die Stimme Professor McGonagalls und der Schmerz in seiner
Narbe. Im ersten Moment konnte er sich nicht erklären, was passiert war, doch
dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube: Voldemort hatte
Hogwarts angegriffen. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Suchend blickte er sich um und entdeckte schließlich die
verschwommen Umrisse dessen, was er gesucht hatte. Er setzte seine Brille auf
und sah sich erneut um. Er lag auf der Krankenstation. Doch er war nicht
allein. Alle Betten um ihn herum waren belegt. Es war ein furchtbarer Anblick
und obwohl Harry die Schüler nicht kannte, die in den Betten lagen, krampfte
sich sein Herz zusammen. Dann war es also wirklich wahr. Es hatte einen Angriff
gegeben.
Am letzten Bett des Raumes stand Madam Pomfrey. Als sie
zurücktrat, konnte Harry etwas sehen, das ihm fast das Herz stehen blieben
ließ. Es war Fred, Rons Bruder, der dort scheinbar bewusstlos im Bett lag. Das
konnte doch alles nicht wahr sein! Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu
Ron und Hermine. Ging es ihnen gut? Sie waren nicht hier, aber das hatte nichts
zu bedeuten. Inständig hoffte er, dass ihnen nichts passiert war, dass sie sich
wohlbehalten an einem sicheren Ort befanden. Und noch etwas schlich sich in
seinen Kopf und ließ sich nicht mehr vertreiben: wie ging es Ginny? Hatte sie
es rechtzeitig in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors geschafft?
In diesem Moment trat Madam Pomfrey an sein Bett und sah ihn
mit prüfendem Blick an. „Du bist also wach", stellte sie fest.
Dann fuhr sie mit ihrem Zauberstab langsam über seinen
Körper und hielt Harry mit einem strengen Blick davon ab, irgendwelche Fragen
zu stellen. Doch dieser ließ sich davon nicht beirren. Er musste wissen, was
passiert war, wie es den anderen ging!
„Madam Pomfrey, was ist passiert? Wie geht es Fred und was
ist mit . . .", begann Harry hervorzusprudeln, doch die Krankenschwester
unterbrach ihn:
„Mr. Weasley geht es den Umständen entsprechend gut.
Momentan ist er bewusstlos, doch er wird wieder gesund werden. Den Rest werden
Sie zu einem geeigneten Zeitpunkt erfahren."
Harry wollte gerade erneut ansetzen, um eine Frage zu
stellen, als die Tür aufging und Professor Snape die Krankenstation betrat.
Harry warf ihm einen schnellen Blick zu und erkannte, dass er noch blasser war
als gewöhnlich. Unter seinen schwarzen Augen standen tiefe, dunkle Schatten und
er machte einen müden und erschöpften Eindruck.
„Haben Sie noch etwas von dem Wachhalte-Trank, Madam
Pomfrey? Der junge Greevy darf nicht einschlafen und wenn Sie keinen mehr
vorrätig haben, müsste ich welchen brauen gehen. Allerdings würde das fast zu
lange dauern."
Angesichts des Tonfalls in Snapes Stimme huschte ein
erstaunter Ausdruck über Harrys Gesicht. Er hatte seinen Zaubertränkelehrer
noch nie so höflich und besorgt erlebt.
„Ich habe noch eine Flasche. Warten Sie hier, Professor",
erwiderte die Krankenschwester und verschwand mit eiligen Schritten in ihrem
Büro.
Als Snape sich nun umsah und erkannte, dass Harry wach war,
verschloss sich sein Gesicht sofort wieder und es wurde so kalt und abweisend
wie eh und je. Harry hätte in diesem Moment alles gegeben um zu wissen,
was sein Lehrer dachte, doch Snapes Augen verrieten absolut nichts von dem was
in ihm vorging.
Er könnte ihn fragen. Ihn fragen, wie es Ron und Hermine
ging. Er würde es sicher wissen. Doch er kannte Snape. Im Geiste wog Harry das
Für und Wider gegeneinander ab und schließlich siegte seine Besorgnis:
„Professor, wissen Sie, wie es Ron und Hermine geht?"
Snape schwieg eine Weile, dann sagte er: „Es ist ihnen
nichts passiert, falls Sie das meinen, Potter."
Harry fiel ein ganzer Berg vom Herzen und erleichtert begann
er zu lächeln. Er sagte jedoch nichts mehr.
„Ihr Trank, Professor", ertönte da die angespannte Stimme
Madam Pomfreys und Snape wandte sich wieder ihr zu.
„Danke", erwiderte er, „vor der Tür warten Granger und
Weasley darauf, dass sie zu Potter können. Weasley will außerdem seinen Bruder
sehen. Und George Weasley ist ebenfalls da."
Madam Pomfrey warf einen erschrockenen Blick zur Tür. „Sie
können auf gar keinen Fall herein kommen. Höchstens einer von ihnen noch heute
Abend. Sagen Sie das den Dreien bitte, Severus", wehrte sie entschlossen ab.
„Aber es geht mir gut, wirklich! Ich kann ja auch aufstehen
und zurück in den Gemeinschaftsraum gehen", warf Harry ein.
Snape warf ihm einen funkelnden Blick zu. „Sie bleiben im
Bett, Potter. Dumbledore wird sich persönlich darum kümmern, wann Sie wieder
aufstehen dürfen. Schließlich sind Sie für die Zaubererwelt von unschätzbarer
Wichtigkeit", schloss er sarkastisch.
„Dann lassen Sie wenigstens einen von ihnen zu mir!", bat
Harry, der sofort erkannt hatte, dass es nichts nützen würde, Snape zu
widersprechen.
„Ich denke, Sie können den jungen Mr. Weasley herein lassen,
Professor", sagte Madam Pomfrey nach kurzem Nachdenken und Snape nickte
widerwillig.
Kurz, nachdem Snape verschwunden war, tauchte Ron auf und
über sein Gesicht glitt ein kurzes Lächeln, als er Harry sah.
„Eine viertel Stunde!", warnte die Krankenschwester noch,
bevor sie in ihrem Büro verschwand.
„Wie geht's dir, Harry?", fragte Ron und setzte sich neben
ihn.
„Ganz gut", erwiderte Harry und musterte seinen besten
Freund. Ron war blass. Sehr blass. In seinen Augen stand ein ängstlicher und
gehetzter Ausdruck und sie waren von einem dunkleren Blau als sonst. Er wirkte
eingeschüchtert und schreckhaft, als er sich mit einer fahrigen Geste die Haare
aus den Augen strich.
„Wie geht es Fred?"
„Madam Pomfrey meint, er wird wieder gesund. Er schläft
nur."
Ron stand auf und ging zu seinem Bruder. Harry beobachtete
ihn, während Ron bewegungslos am anderen Ende des Raumes stand. Als sich sein
Freund abwandte und zu ihm zurück kam, glaubte Harry eine stille Träne in Rons
Augen gesehen zu haben, doch er war nicht sicher.
„Was ist passiert?", fragte Harry, obwohl er es schon zu
wissen glaubte.
„Du-weißt-schon-wer hat Hogwarts angegriffen", erklärte Ron
mit dumpfer Stimme, „Keiner weiß, wie die Todesser ins Schloss oder überhaupt
aufs Gelände gekommen sind. Die Lehrer und Siebtklässler haben gegen diese
Widerlinge gekämpft. Und sie haben sie auch zurückgedrängt, aber . . ."
„Was aber?"
Ron schaute Harry ernst an. „Es hat drei Tote gegeben."
Harry erstarrte. „Wer?", flüsterte er.
„Zwei Siebtklässler der Ravenclaws und ein Fünftklässler von
uns . . . von Gryffindor", Ron brach ab.
„Was?!"
Ron nickte und schluckte. „Seamus ist tot."
Harry sank geschockt in die Kissen zurück. Das konnte nicht
sein. Seamus tot? Das war ein Traum, das konnte nicht der Realität entsprechen.
„Seamus?", wiederholte er fassungslos. „Aber warum er? Ich
meine, wie konnten sie ihn . . ."
„Er ist nicht rechtzeitig in den Gemeinschaftsraum gekommen.
Er wurde in dem Gedränge unten in der Eingangshalle von Dean getrennt. Das ist
der einzige Grund, warum Dean nichts passiert ist. Diese verdammten Todesser
haben sich genau den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Alle waren unten beim
Frühstück, jeder eine perfekte Zielscheibe", sagte Ron bitter.
„Haben sie wenigstens einige von ihnen gekriegt?"
„Vier. Aber nicht die wirklich Wichtigen."
Harry schwieg. „Was habt ihr gemacht, nachdem ich ohnmächtig
geworden bin?"
„Wir sind natürlich im Gemeinschaftsraum geblieben. Hermine
und ich haben alles versucht, um dich wieder wach zu kriegen, aber nichts hat
gewirkt. Du hast geschrieen."
Harry sag ihn entgeistert an. „Ich habe was?"
„Du hast immer wieder nach deiner Mum und deinem Dad und
auch nach Sirius gerufen. Es klang, als hättest du schreckliche Alpträume. Und
dann ist etwas sehr seltsames passiert."
„Was ist passiert?"
„Die ganze Zeit waren von draußen Schreie und Gepolter zu
hören. Doch plötzlich hast du dich aufgesetzt, die Augen geöffnet und geschaut,
als wären deine schlimmsten Ängste wahr geworden: total entsetzt und
erschrocken. Dann hast du angefangen, den Kopf zu schütteln und immer wieder
„Nein, Nein!" zu schreien. Und auf einmal bist du vollkommen erstarrt
zurückgesunken, hast die Augen wieder geschlossen und der Lärm von draußen
hörte genau im selben Moment schlagartig auf. Es war unheimlich."
Harry sah Ron entsetzt an, aber dieser schaute nicht minder
unbehaglich.
„Ich kann mich absolut nicht daran erinnern. Ich habe
keinerlei Erinnerungen mehr.", sagte Harry verwirrt.
„Hermine meint, es sei so etwas wie eine Vision gewesen. Nur
leider wissen wir nicht, was du gesehen hast. Und da du dich nicht mehr
erinnern kannst . . ."
Harry versuchte, sich zu konzentrieren. Und plötzlich
glaubte er, zwei funkelnde, tiefschwarze Augen, die ihm seltsam vertraut
vorkamen, vor seinem inneren Auge aufblitzen zu sehen und ein hämisches
Gelächter zu hören. Doch als er versuchte, sich stärker darauf zu konzentrieren,
verschwand das Bild und alles wurde wieder zurück in die Dunkelheit und
Verschwommenheit seines Gedächtnisses gerissen.
„Da war etwas. Zwei Augen. Aber ich habe nicht das Gesicht
dazu."
„Ich sagte fünfzehn Minuten!", erklang da plötzlich die
strenge Stimme Madam Pomfreys und die Krankenschwester erschien im Saal.
„Ich geh ja schon", murmelte Ron, erhob sich und sah besorgt
auf Harry herab.
„Keine Sorge, mir geht's gut", versuchte Harry ihn zu
beruhigen, doch ein Lächeln wollte nicht auf seinem Gesicht erscheinen.
Ron blickte noch einmal zu seinem Bruder, dann verließ er
die Krankenstation. Harry sah ihm nach und als er gegangen war, fühlte Harry
sich mit einem Mal alleine und seltsam verzweifelt. Er wollte nicht hier
bleiben. Nicht hier, wo all diese Menschen lagen, an deren Verletzungen er
seiner Meinung nicht unschuldig war. Warum wohl hatte Voldemort Hogwarts
angegriffen? Er war hier. Harry Potter, Der Junge Der Lebt. Der Gedanke, dass
Voldemort die Schule auch angegriffen hätte, wenn er nicht hier wäre,
lediglich, um seine Macht zu demonstrieren, kam ihm nicht in den Sinn.
„Madam Pomfrey?"
Die Krankenschwester, die an einem Bett neben dem seinen gestanden hatte, wandte sich ihm
zu. „Geht es Ihnen nicht gut?"
„Doch, das ist es ja gerade. Mir geht es wirklich gut. Ich
würde gerne zurück zum Gryffindorturm gehen. Ich . . . möchte nicht hier
bleiben", sagte Harry stockend.
Madam Pomfrey musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Nach
etwa einer Minute seufzte sie und sagte: „Gut, Potter, gehen Sie. Ich denke
eigentlich nicht, dass Sie noch in irgendeiner Weise gefährdet sind. Und wir
können weiß Gott jedes Bett gebrauchen."
Erleichtert stand Harry auf und während er sich seinen
Umhang überzog, rief die Krankenschwester laut einen Namen: „Dobby!"
Erstaunt blickte Harry sich um und mit einem leisen „Plopp"
erschien Dobby, der Hauself, direkt vor den Füßen Madam Pomfreys.
„Dobby ist so schnell gekommen, wie Dobby es geschafft hat,
Miss. Was wünschen Miss von treuem Dobby?", fragte Dobby und seine
tennisballgroßen Augen sahen die Krankenschwester treuherzig an.
Dann bemerkte er auf einmal die Gegenwart Harrys und nachdem
er einen Moment lang gestutzt hatte, stürzte er auf ihn zu.
„Oh, Harry
Potter! Wie gut, dass Ihnen nichts passiert ist, Harry Potter! Dobby ist
so froh, Sie gesund zu sehen!", rief er, während er seine dünnen Ärmchen um
Harrys Beine schlang.
Harry strich ihm unbeholfen über den Kopf und meinte: „Ich
bin auch froh, dich wiederzusehen, Dobby."
„Dobby, ich habe dich gerufen, damit du dich nützlich
machst!" sagte Madam Pomfrey jetzt streng und Dobby ließ Harrys Beine sofort
los. Mit beschämtem Blick drehte er sich zu der Krankenschwester um.
„Geh runter in die Große Halle und sage Professor McGonagall,
dass hier oben ein Bett frei geworden ist. Sie können jemanden nach oben
bringen."
Harry sah sie entsetzt an und fragte, während Dobby wieder
verschwand: „Es gibt noch mehr Verletzte?!"
„Ja. Das sind noch lange nicht alle. Wir haben in der Großen
Halle ein notdürftiges Lager für die nicht sehr schwer verletzten Opfer
aufgebaut."
Harry wollte etwas sagen, doch Madam Pomfrey wehrte ab:
„Sagen Sie jetzt nichts mehr, Mr. Potter. Gehen Sie zu ihren Freunden und seien
Sie dankbar, dass Ihnen nichts passiert ist."
Ihre Stimme klang so bitter und resigniert, wie Harrys es
noch nie gehört hatte.
Langsam verließ er die Station und ging durch die Gänge von
Hogwarts. Eine unheimliche und lauernde Stille hatte sich über das Schloss
gelegt. In jeder Ecke schienen dunkle Schatten zu flüstern und Harry hatte sich
selten so unwohl gefühlt. An jedem anderem Tag hatte stets Gelächter und das
Geplapper der Schüler durch Hogwarts getönt, doch nun schien das Schloss wie
ausgestorben zu sein. Noch nicht einmal die Menschen in den Bildern bewegten
sich, sie waren wie erstarrt und nur ihre Augen weiteten sich erschrocken und
ängstlich, sobald sie Harry erblickten. Ein fernes Donnergrollen, strömender
Regen, der gegen die Fenster peitschte und das Brausen des Windes, der sich
ächzend durch die Ritzen schlich und um die Zinnen und Türme heulte, waren die
einzigen Geräusche, die man hörte. Kein Tageslicht erhellte die Flure, tiefe
Nacht schien über Hogwarts ausgebrochen zu sein und Harry fragte sich
plötzlich, wie lange er bewusstlos gewesen war.
Doch wirklich erschrocken war er erst, als er die
Eingangshalle betrat, von der er zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors kam. Sie
war nahezu vollkommen zerstört. Statuen lagen auf dem Boden, die Wände waren
teilweise durchbrochen und gaben den Blick auf Räume frei, die Harry noch nie
gesehen hatte. Die Große Treppe, die nach oben führte, wies in der Mitte einen
Riss auf und alle Gemälde waren zerrissen, lagen auf dem Boden oder waren ganz
einfach ausgebrannt.
Stolpernd taumelte Harry durch die Halle und konnte nicht
fassen, was er sah. Er hatte Hogwarts immer für sicher gehalten, er hatte sich
hier immer beschützt gefühlt. Hier hatte er nie Angst davor haben müssen,
Voldemort in die Hände zu fallen. Die Erkenntnis, dass auch Hogwarts und mit
ihm Dumbledore nicht völlig unantastbar waren, lies ihn in ein tiefes Loch
voller Schock und Zweifel fallen.
Langsam setzte er sich auf die Treppe und betrachtete den
Boden der Halle, der an einigen Stellen aufgesprungen und zerstört war. Nach
einigen Minuten, in denen er sich wieder gefasst hatte, stand er auf und ging
vorsichtig nach oben, immer darauf achtend, nicht auf irgendeine angebrochene
oder zerstörte Treppenstufe zu treten. Als er vor dem Bild der Fetten Dame
stand, blickte ihn diese ebenso verstört und verunsichert an, wie jeder andere
Bewohner eines Gemäldes.
„Passwort?", fragte sie und zum ersten Mal seit Harry sie
kannte, stellte sie diese Frage nicht gelangweilt, sondern alarmiert und
misstrauisch.
„Polarnacht", entgegnete Harry und trat durch das Gemälde in
den Gemeinschaftsraum.
Im Inneren herrschte eine Grabesstille. Alle Schüler
Gryffindors waren hier versammelt, doch keiner von ihnen sprach auch nur ein
Wort. Als sie Harry eintreten sahen, sahen sie ihn nur kurz an, aber niemand
zeigte eine Reaktion. Als er seinen Blick über die Schüler schweifen lies,
bemerkte er, dass nicht nur Fred, Colin und Seamus fehlten. Es waren ein ganze
Menge mehr Schüler, die Harry vermisste, darunter auch Neville und Parvati.
Leise ging Harry in eine Ecke, in die sich Hermine, Ron,
George, Lee Jordan, Ginny und deren Freundin Michelle zurückgezogen hatten.
„Hi", flüsterte er kaum hörbar und Hermine stand auf und
drückte ihn kurz an sich.
Harry setzte sich neben Ginny und als diese den Kopf auf
Michelles Schulter lehnte und stille Tränen über ihre Wange liefen, nahm er
kurz ihre Hand, worauf Ginny ihm ein kurzes und dankbares Lächeln schenkte.
Plötzlich hörte er ein Schluchzen, das aus der Richtung des
Kamins kam und als Harry dorthin sah, erkannte er ein Mädchen der ersten Klasse
mit feuerroten Haaren, die ihren Kopf auf die Knie gelegt hatte und deren
Freundin ihr beruhigend und doch unglaublich hilflos über den vom Weinen
zitternden Rücken strich. Seamus' Schwester. Sie war erst in diesem Jahr nach
Hogwarts gekommen und Seamus war immer furchtbar stolz auf sie gewesen.
Mit gequältem Blick wandte sich Harry wieder seinen Freunden
zu und als ob Hermine wüsste, was er dachte, warf sie ihm einen ihrer
„Du-bist-nicht-Schuld-daran"-Blicke zu. Doch er reagierte nicht darauf.
„Warum bist du schon da?", fragte Ron auf einmal und alle im
Gemeinschaftsraum zuckten zusammen, als seien sie nicht mehr an gesprochene
Worte gewöhnt.
„Madam Pomfrey hat mich gehen lassen, Sie meinte, sie könne
jedes Bett gebrauchen, das frei wird."
Und erneut legte sich Stille über den kleinen runden Raum.
„Wie viel Uhr haben wir?", fragte Harry.
„Ein Uhr Nachts. Du warst den ganzen Tag bewusstlos",
antwortete Lee.
„Ich denke, es würde uns allen gut tun, wenn wir jetzt
schlafen würden", erhob nun Hermine ihre Stimme und als Vertrauensschülerin
bekam sie sofortige Aufmerksamkeit geschenkt, „vor allem die ersten, zweiten,
dritten und vierten Klassen sollten jetzt in ihre Schlafräume gehen. Es gibt
nichts, was wir in dieser Nacht noch für die Schüler auf der Krankenstation und
in der Großen Halle tun könnten und ich glaube nicht, dass Professor McGonagall
noch einmal zu uns kommen wird. Morgen früh werdet ihr sicherlich erfahren, was
genau passiert ist. Und bis dahin sollten wir alle einen klaren Kopf haben. Ich
weiß, dass ihr euch Sorgen macht und viele von euch noch nicht glauben können,
was heute hier passiert ist, doch ihr müsst schlafen. Ich kann nicht sagen,
dass die Welt morgen wieder besser ausschauen wird, denn dann würde ich lügen.
Allerdings weiß ich, dass sich vieles vielleicht nicht leichter, aber besser
verkraften lässt, wenn man sich etwas ausgeruht hat. Und deshalb bitte ich
jetzt alle, nach oben zu gehen."
Nach und nach gehorchten die meisten der Schüler Hermines
Aufforderung und verließen den Gemeinschaftsraum.
Am Schluss waren nur noch die Sechst- und Siebtklässler,
Harry, Ron, Hermine, George, Lee und Ginny im Raum.
„Du solltest auch ins Bett gehen, Gin", forderte George.
„Ich kann nicht schlafen wenn ich nicht weiß, wie es Fred
geht", antwortete sie.
„Du weißt, dass du ihm nicht helfen kannst. Du brauchst
deinen Schlaf", entgegnete auch Ron.
„Komm, Ginny, wir gehen nach oben", sagte schließlich Hermine
und nach einigem Zögern stand Ginny auf und folgte Hermine in die Schlafsäle.
„Ihre Rede war gut", bemerkte Lee.
Die anderen nickten abwesend.
„Angelina und Katie sind auch . . . ich meine . . .
verletzt, oder?", fragte Harry zögernd.
Jetzt war es an George und Lee, zu nicken. „Sie sind in der
Großen Halle. Man hat uns gesagt, es würde ihnen den Umständen entsprechend
gehen. Was auch immer des heißt", antwortet George verbittert.
„Und Alicia?"
„Sie ist auch unten. Aber sie ist als Helferin eingeteilt
worden. Alle Schüler, die gut in Kräuterkunde sind, sind in der Großen Halle
und gehen den Lehrern zur Hand. Deshalb ist auch Neville nicht da", sagte Ron.
Lange Zeit schwiegen sie und saßen einfach nur schweigend
zusammen. Und auf einmal geschah etwas, was beängstigender war als irgendetwas
sonst an diesem grauenvollen Tag: das Feuer im Kamin erlosch und im
Gemeinschaftsraum breitete sich eine bedrückende Dunkelheit aus. Und plötzlich
war die Stille, welche den Raum ausgefüllt hatte, nicht mehr wohltuend und
beruhigend, sondern bedrohlich und furchteinflößend.
„Gehen wir nach oben", meinte Lee unbehaglich und als Harry schließlich in seinem Bett lag, fühlte er sich leer, ausgebrannt und verloren. Und auf eine seltsame Art und Weise war das erloschene Feuer das, was in ihm die größte Angst verursacht hatte und was ihm in späteren Jahren von diesem Tag noch am genauesten im Gedächtnis geblieben war.
****
Als Harry, Ron und Hermine am nächsten Morgen den Gemeinschaftsraum betraten,
waren schon so gut wie alle anderen Schüler da. Die Erstklässler hatten sich
mit noch immer währender Angst in den Augen in eine Ecke neben dem Kamin
zurückgezogen und Hermine ging zu ihnen hinüber.
„Irgendwie glaube ich das alles noch nicht so richtig", sagte
Ron und setzte sich auf das Sofa.
Harry nickte. „Ich weiß, was du meinst."
Plötzlich erschienen auf den Tischen und Regalen Körbe mit
Brötchen, Teller, Tassen, Kakao, Marmelade und Honig und Professor McGonagalls
Stimme tönte durch den Raum: „Die Mahlzeiten werden in den folgenden Tagen
nicht in der Großen Halle stattfinden, da wir diese für die Verletzten
benötigen. Nach dem Frühstück werde ich Sie abholen und zu einem Raum bringen,
in dem der Schulleiter zu Ihnen sprechen wird."
Die Schüler warteten noch einen Augenblick, als es aber
ruhig blieb, fingen sie an, sich etwas zum Essen zu nehmen.
„Ich frage mich, was das Zaubereiministerium dazu sagt. Sie
können die Rückkehr von Du-weißt-schon-wem jetzt nicht länger verleugnen",
sagte plötzlich Hermine, die sich wieder zu ihren beiden Freunden gesellt
hatte.
„Die können alles", erwiderte Ron verächtlich.
Doch Harry schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht mehr. Das
können sie einfach nicht mehr machen. Ich meine, Hogwarts wurde angegriffen!"
„Meint ihr, sie schließen Hogwarts?", fragte Ron
unbehaglich.
Jetzt schüttelte Hermine den Kopf. „Dumbledore wird das
nicht zulassen."
Harry allerdings war sich dessen nicht so sicher. In seinem
zweiten Schuljahr, als die Kammer des Schreckens wieder geöffnet worden war,
hatte schon einmal die Schließung der Schule gedroht. Und jetzt waren Schüler
gestorben noch viele mehr verletzt.
„Warten wir einfach, was Dumbledore sagt", sagte Harry und
in diesem Moment schwang das Portrait der Fetten Dame zur Seite und Professor
McGonagall trat in den Raum.
Sie sah sehr schlecht aus und es schien so, als habe sie die
ganze Nacht nicht geschlafen. In ihrem Gesicht standen große Sorge und
Anspannung geschrieben.
„Kommen Sie, ich werde Sie begleiten."
Langsam standen die Schüler auf und folgten der
Verwandlungslehrerin nach draußen. Es war eine traurige Prozession, die durch
das Schloss wanderte. Still und eingeschüchtert waren sie alle und keiner wagte
es, auch nur ein Wort zu sagen. Erst, als sie die Eingangshalle betraten, ging
ein erstauntes Raunen durch die Gryffindors. Sie war wieder vollkommen in
Ordnung. Nichts zeugte noch von dem furchtbaren Angriff der Todesser. Nur an
einer Wand, an der bisher weder ein Bild gehangen, noch vor der eine Statue gestanden
hatte, hing jetzt eine einfache, große Platte aus weißem Marmor und auf ihr
stand geschrieben:
In Gedenken an alle Opfer des siebzehnten Oktobers 1995
Mehr nicht. Keine Namen, keine Verzierungen. Doch selten hatte Harry etwas so sehr beeindruckt wie dieser eine Satz auf einer einfachen, unverschnörkelten Marmorplatte.
****
So . . . das war jetzt schon ein bisschen weniger harmlos als die letzten Kapitel. Ich hoffe,
es gefällt trotzdem *gaaaaanz unauffällig auf den Review-Button links unten zeigt*.
