Titel: Das letzte Geheimnis?; Kapitel 14

Disclaimer: Nichts mir, auch nicht der Songtext in diesem Kapitel, der ist von Loreena McKennit.

A/N: Da ihr das letzte Mal so lange warten musstest, kriegt ihr jetzt schon das vierzehnte Kapitel. Danke an Angel, die wieder so lieb gerieviewt hat. Hab ich den Rest verloren? *sorgenvoll in die Gegend guckt*.

Ach, bevor ich's vergesse: Lux lucet in tenebris ist Latein und heißt Ein Licht leuchtet in der Dunkelheit.

Und jetzt: viel Spaß beim Lesen! (und wenn wir uns bis dahin nicht mehr lesen: 'nen guten Rutsch ins Nee Jahr!)

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Als Harry den Gemeinschaftsraum der Gryffindors betrat, schlug ihm ein fröhlicher Lärm entgegen. Er ging durch den Raum zum Kamin, wo er Ron, Hermine und Michelle sitzen sah und nahm nicht wirklich zur Kenntnis, was um ihn herum vorging.

"Hi.", grüßte er müde, als er sich auf das Sofa sinken ließ.

Ron und Hermine warfen ihm mitfühlende Blicke zu.

Nach einer Weile sah Harry Michelle fragend an. „Wo ist Ginny?"

Michelle zuckte die Schultern. „Sie hatte ihre Handschuhe bei Hagrid vergessen und ist noch mal zurückgegangen, um sie zu holen. Wahrscheinlich hat sie sich bei ihm verquatscht, oder so."

„Sie kommt bestimmt gleich.", meinte Ron.

Doch Harry überkam auf einmal ein ungutes Gefühl. „Ich bin gleich wieder da.", sagte er, stand auf und ging in den Schlafsaal der Jungen.

Er wollte die Karte des Rumtreibers zu Rate ziehen. Sie würde ihm sagen, wo Ginny war. Doch bevor er sie aus dem Schrank holen konnte, fiel sein Blick auf sein Bett. Auf dem Kopfkissen lag ein einfacher, weißer Umschlag, auf den mit sauberen Buchstaben der Name Harry Potter geschrieben stand. Langsam setzte Harry sich auf das Bett und nahm den Umschlag in die Hand. Nach einem kurzen Zögern öffnete er ihn und zum Vorschein kam ein einzelner Bogen Pergament. Er faltete ihn auseinander und las.

Du findest die Antwort unter der Weißen Birke.

Im Krieg siegt immer nur der Tod . . .

Dein Bruder

Das konnte nicht sein . . .

Harrys Hände zitterten als er ungläubig auf das Papier starrte. Das war nicht real . . .

Die Sekunden schienen sich zu Minuten und Stunden auszudehnen, in denen Harry einfach nur stumm auf die Worte vor sich blickte und den Sinn der Nachricht zu verstehen versuchte. Auch wenn etwas in ihm die Wahrheit bereits erahnte.

Plötzlich stürzte er auf und rannte nach unten in den Gemeinschaftsraum. Er hörte nicht, wie Ron ihm etwas nachrief. Seine einzigen Gedanken waren Lauf, lauf, vielleicht ist es noch nicht zu spät!

Tief in seinem Inneren wusste er, dass es zu spät war. Doch er hastete weiter durch die Gänge, blind für alles, was um ihn vorging. Er stürzte durch die Eingangstür und kämpfte sich über den verschneiten Rasen zur Weißen Birke am Rand des Verbotenen Waldes.

Wie erstarrte blieb er etwa zehn Meter von dem magischen Baum entfernt stehen. Dort saß sie, saß an den Baum gelehnt im Schnee.

Harry schüttelte den Kopf, taumelte einen Schritt zurück. Er wollte nicht begreifen, was er sah. Von dem weißen Stamm der Birke hob sich deutlich ein feuerroter Haarschopf ab. Es durfte nicht sein . . .

Langsam, stolpernd, ging er näher an den Baum heran. Jeder Schritt, den er tat, wurde zur Qual, als sich die Realität in seine Gedanken schlich. Es war Ginny, die dort saß. Seine Ginny. Sie saß an den Baumstamm gelehnt, um sie herum waren weiße und rote Blütenblätter verteilt worden. In ihrem Haar steckte eine weiße Lilie und in ihren gefalteten Händen hielt sie eine langstielige rote Rose. Ihr Gesicht war blass und als Harry sich zitternd neben ihr niederließ und ihre Hand berührte, schrak er zurück. Sie war eiskalt.

Mit einem fahrigen Blick in den Augen suchte er nach einem Lebenszeichen, nach irgendetwas, aber er fand nichts. Keine Atmung, keine Bewegung, nichts.

Doch er wollte es nicht akzeptieren, wollte die so offensichtliche Wahrheit nicht annehmen. „Ginny!", flüsterte er erstickt und strich über ihre Wange. „Bitte, wach auf!"

Sie reagierte nicht und unter der Berührung von Harrys Fingern fiel ihr Kopf in einem unnatürlichen Winkel zur Seite.

In diesem Moment brach Harry zusammen. Mit einem Schluchzen zog er Ginny an sich, verbarg sein Gesicht an ihre Schulter und fühlte, wie ihr Umhang nass von seinen Tränen wurde. Seine Schultern zitterten unkontrolliert und immer wieder strich er über ihr rotes Haar. Sie war tot . . . und er hatte es ihr nicht gesagt . . .

****

Zeit war zur Nebensache geworden. Harry war kalt, er fror erbärmlich, doch er hörte nicht auf, Ginny in seinen Armen zu halten; er wollte sie nie mehr loslassen, kümmerte sich nicht um die Kälte, die in ihm hoch kroch. Er wusste nicht, wie lange er schon dort gesessen hatte.

Bis mit einem Mal eine in schwarz gekleidete Person aus dem Wald auftauchte und wie erstarrte stehen blieb, als sie Harry und Ginny dort im Schnee sitzen sah.

Es war Snape. „Potter, Ihre Schäferstündchen können Sie auch woanders . . .", begann er, als er Harry und Ginny erkannte, doch er unterbrach sich selbst, als er Harrys tränennasses Gesicht und ihren leblosen Körper sah. „Mein Gott.", flüsterte er, als er realisierte, dass Harry eine Leiche in den Armen hielt.

Er trat näher an die beiden heran und wollte Harry von Ginny losmachen. Doch Harry ließ sie nicht los. „Potter, kommen Sie, lassen Sie sie los, Sie können nichts mehr für sie tun!", forderte er erstaunlich sanft.

Harry aber blickte vollkommen apathisch vor sich hin, er schien Snape überhaupt nicht zu registrieren. Er klammerte sich an Ginny wie ein Ertrinkender.

„Potter, machen Sie es sich doch nicht noch schwerer!", seine Stimme war schon etwas dringlicher geworden.

Harry reagierte nicht.

„Harry!", sagte Snape deutlich und zwang Harry, ihn anzusehen. „Harry, komm endlich zu dir!"

Als Harry weiterhin durch ihn hindurchsah, gab Snape ihm eine Ohrfeige. Harrys Kopf fuhr durch den Schlag zur Seite, doch das schien ihn wieder zur Besinnung zur bringen.

Er sah Snape in die Augen. „Sie ist tot. Er hat sie umgebracht.", flüsterte er.

Snape sah ihn streng an. „Wer hat sie umgebracht, Harry?"

Harry aber schüttelte nur den Kopf. „Ich habe es ihr nicht gesagt."

Snape schloss für einen Moment die Augen. Er sah ein, dass aus dem völlig verstörten Jungen momentan nichts rauszubekommen war.

„Wir müssen ins Schloss, Potter, Sie erfrieren sonst hier draußen.", stellte er fest und zog Harry auf die Beine.

Dann beugte er sich zu Ginny hinunter und hob sie vorsichtig hoch.

„Kommen Sie mit."

Harry folgte ihm und mit einem Mal waren seine Gedanken wieder klar. In dem Moment, als Snape Ginny hochgehoben hatte und ihr Körper leblos in seinen Armen zusammengefallen war, hatte er wirklich registriert, dass sie tot war.

Dass er sie nie wieder sehen würde. Nie wieder ihr Lachen hören würde, nie wieder in ihre strahlenden Augen schauen würde. Sie lebte nicht mehr. Ein weiterer bitterer Gedanken schlich sich in seinen Kopf, klarer als zuvor. Sie war gestorben, ohne dass er ihr gesagt hatte, was er für sie empfand. Er hatte es ihr sagen wollen. Und hatte sich nicht getraut.

Er wusste, wer sie auf dem Gewissen hatte. Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir wichtig ist, Harry. Ihr Tod war die Strafe für sein Verhalten. Er hatte sich geweigert, auf die Dunkle Seite zu wechseln und dafür war sie gestorben. Ein unbändiges Gefühl nach Rache durchströmte seinen Körper und neben seiner unendlichen Trauer war es das, was er am stärksten spürte, als er hinter Snape in die Eingangshalle von Hogwarts trat.

****

Die nächste Stunde in Dumbledores Büro hatte er nur noch bruchstückhaft im Gedächtnis.

Snape hatte Ginny zunächst in den Krankenflügel gebracht. Harry hatte sich an den absurden Gedanken geklammert, dass Madam Pomfrey Ginny noch würde retten können, doch die Toten konnte man nicht mehr ins Leben zurückholen. Niemals.

Danach war er mit Snape zusammen zu Dumbledore gegangen. Er hatte gehört, wie Snape ihm leise davon erzählt hatte, was passiert war.

„Genickbruch.", war nur eines der Wörter, die er heraushörte.

Er hatte vollkommen teilnahmslos auf einem Sessel gesessen und hatte erst aufgeschaut, als Dumbledore seinen ernsten Blick auf Harry lenkte,

„Severus hat mir gesagt, du wüsstest, wer sie umgebracht hat. Stimmt das, Harry?"

„Es war Sorcery.", erklärte Harry mit einer Ruhe, von der er selbst nicht wusste, woher er sie nahm.

Er hörte Snape nach Luft schnappen, doch ein Blick von Dumbledore hinderte den Meister der Zaubertränke daran, etwas zu sagen.

„Warum glaubst du das?"

Harry sah dem Direktor fest in die Augen. „Kurz, bevor ich vorhin zu Ihnen kam, habe ich Sorcery im Gang getroffen. Er drohte mir damit, die Macht zu haben, mir alles zu nehmen, was mir wichtig ist. Und er hat heute damit angefangen.", bei seinem letzten Satz war Harrys Stimme voll von Verbitterung gewesen.

Dumbledores Stirn legte sich in sorgenvolle Falten. „Ich kann dir nicht mehr und nicht weniger als mein tiefstes Beileid aussprechen. Unter anderen Umständen würde Ginny vielleicht noch leben. Doch ihr Tod war schmerzlos, Harry. Sie hat nicht gelitten."

Harry schüttelte spöttisch lächelnd den Kopf. Als ob das irgendwie helfen würde . . .

„Ich werde Mrs. und Mr. Weasley eine Eule schicken und sie bitten, in die Schule zu kommen. Möchtest du Ginnys Brüdern, ihren Freunden und Hermine sagen, was geschehen ist?", fragte Dumbledore sanft.

Harry nickte und stand auf. Nur weg. Weg von diesem geschäftigem Teil, weg von diesen Menschen, die Ginny nicht einmal richtig gekannt hatten.

Er verließ das Büro des Direktors zum zweiten Mal an diesem Tag und fragte sich, was er jetzt eigentlich tun sollte. Er wollte nicht darüber reden. Nicht jetzt und auch nicht in den nächsten Stunden. Doch die anderen hatten ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen war und er hatte sich dazu bereit erklärt, es ihnen zu sagen.

Er würde es nicht über sich bringen . . .

Im Gemeinschaftsraum der Gryffindors saßen nur noch die Weasleys, Hermine und Michelle.

Als wüssten sie, was passiert ist, schoss es Harry durch den Kopf. Doch diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder. Sie konnten es nicht wissen.

„Wo warst du so lange?", fragte Hermine sorgenvoll.

„Und wo ist Ginny?", fügte Ron hinzu.

Harry setzte sich, ohne ihnen zu antworten. „Ich muss euch etwas sagen.", begann er und dachte gleichzeitig, dass er es nicht würde aussprechen können.

„Ginny ist . . . sie ist . . . ich habe . . .", sein Stimme brach und er spürte erneut, wie ihm Tränen in die Augen traten. Doch er musste es ihnen sagen. Jetzt. „Ginny ist tot.", presste er hervor.

Im Moment als er es sagte, überlief ihn ein Schauder. Ihm war, als greife eine eiskalte Hand nach seinem Herz, um es ihm aus der Brust zu reißen. Ihr Tod hatte solch eine furchtbare Endgültigkeit, war zu einer unwiderruflichen Tatsache geworden, jetzt, da er es ausgesprochen hatte.

Die anderen starrten ihn vollkommen geschockt an. Niemand sagte etwas, keiner wagte es, die Stille zu durchbrechen.

„Was?", wisperte Michelle schließlich. Ihre blauen Augen begannen, sich mit Tränen zu füllen.

„Das ist nicht wahr.", sagte auch Ron leise. Seine Hände hatten sich so stark in das Sofa gekrallt, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

„Sie ist tot. Ich habe sie gefunden. Sie lebt nicht mehr.", Harry fragte sich selbst, wie er das alles sagen konnte. So teilnahmslos und ohne darüber zusammenzubrechen. Ihm war, als würde nicht er das alles sagen, sondern als Außenstehender die ganze Szene beobachten.

In diesem Moment trat die Erkenntnis in die Augen der anderen. Sie realisierten, dass Harry die Wahrheit sagte. Dass ihre Schwester, ihre Freundin wirklich nicht mehr lebte.

Michelle schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht. Fred hatte Georges Hand ergriffen und umklammerte sie fest, während Hermine einfach nur stumm und fassungslos dasaß.

„Wie ist sie gestorben?", Freds Stimme war nur noch ein leises Krächzen als er diese Frage stellte. Die Frage, die er stellen musste.

„Man hat ihr das Genick gebrochen.", erwiderte Harry mit kaum vernehmbarer Stimme.

Er sah Ron und Hermine an, sah in ihren Augen die stumme Frage nach dem Wer und gleichzeitig das Wissen, wer es getan hatte. Er nickte hilflos und Hermine wandte mit einem tränenerstickten Schluchzen den Kopf ab.

Plötzlich stand Ron auf und stürzte aus dem Gemeinschaftsraum nach draußen.

„Ron!", schrie Hermine ihm hinterher, doch er hörte sie nicht mehr. „Ich geh ihm nach.", sagte sie mit zitternder Stimme und verließ ebenfalls den Gemeinschaftsraum.

„Wir müssen Mum und Dad Bescheid sagen.", kam es leise von George.

Fred nickte und die beiden standen auf, um ihren Eltern eine Eule zu schicken. Als sie den Raum zur Hälfte durchquert hatten, brach Fred zusammen. Er klammerte sich an seinen Bruder und weinte hemmungslos.

George legte ihm hilflos die Arme um die Schultern, auch sein Gesicht war von stummen Tränen gezeichnet. „Ich bring ihn in den Schlafsaal.", sagte er erstickt und stützte Fred, während sie die Treppe nach oben verschwanden.

Harry war nun mit Michelle allein. Die Schultern des Mädchens zuckten immer noch unkontrolliert und Harry nahm sie vorsichtig in die Arme. Michelle klammerte sich an ihn und schluchzte in seine Schulter, doch Harry wehrte sich nicht dagegen.

Sie brauchte Trost, genau wie er und alle anderen. Und im jetzigen Moment konnten sie alle nicht mehr tun, als einfach nur füreinander da zu sein.

****

 Ron rannte und rannte. Er wusste nicht, wohin er rannte, er lief einfach nur. Bildete sich ein, er könnte den Schmerz vergessen, wenn er nur lange genug rannte. Wenn er rannte, bis er keine Luft mehr bekam, bis er erstickte, bis er starb . . .

Er hörte Hermines Rufen hinter sich, doch er wollte sie nicht sehen. Nicht sie und auch keinen anderen. Einfach nur niemanden.

Erst, als er die kalten Schneeflocken auf seinem Gesicht spürte, die sich mit heißen Tränen vermischten, realisierte er, dass er draußen war.

Doch er rannte weitere. Nur nicht stehen bleiben . . . weiterrennen . . .

*Rückblick*

„Ich hab dich!", rief eine lachende Mädchenstimme..

Der etwa achtjährige Junge tauchte hinter einem Felsen auf und zog eine Grimasse. „Ich wollte, dass du mich findest!"

Das Mädchen streckte ihm die Zunge raus. Ihr Kopf war umrahmt von ihrem roten Haar, das durch die Sonnenstrahlen wirklich in Flammen zu stehen schien.

„Gar nicht, du hast dich nur nicht gut genug versteckt!", kicherte sie und rannte jauchzend davon, als ihr Bruder anfing, sie zu kitzeln.

„Ich krieg dich!", der ebenfalls rothaarige Junge fasste seine Schwester am Arm und zog sie zu sich herum. Dann hob er sie hoch und wirbelte sie einmal im Kreis durch die Luft.

Das Mädchen lachte und ihre grauen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette.

„Du bist zu leicht!", stellte der Junge fest, als er sie wieder absetzte.

„Bin ich nicht!", widersetzte der andere Rotschopf.

Der Junge begann wieder, sie zu kitzeln und die beiden fielen lachend ins weiche Gras. „Nein, du bist gut so wie du bist, kleiner Fuchs."

*Rückblick Ende*

Kleiner Fuchs . . . so hatte er sie früher immer genannt. Er und seine Schwester, die Jüngsten der Weasleys, immer ein wenig im Schatten ihrer Geschwister stehend. Sie hatten zusammen geweint, gelacht. Er hatte sie in sein Bett gelassen, wenn es mal wieder so stark gewitterte, dass sie nicht einschlafen konnte . . . das sollte jetzt alles vorbei sein? Ihre Lebenslust, der Wirbelwind, der sie war, die Freude, die sie verbreitete, alles vorbei? Ausgelöscht? Ron fühlte erneut Tränen in seine Augen treten . . . als wären die vorigen je versiegt . . .

Der Rand des Verbotenen Waldes tauchte vor seinen Augen auf. Im trüben Dämmerlicht bedrohlich und unheilverkündend.

Er beschleunigte seine Schritte noch einmal und rannte in den Wald hinein . . . Atemlosigkeit verhinderte alle anderen Gefühle . . . zumindest konnte man sich das einbilden.

Plötzlich zog ihn etwas am Arm zurück. Er fuhr herum. „Lass mich in Ruhe, Hermine!", forderte er.

„Du kannst nicht weitergehen!", erwiderte sie heftig.

Doch er riss sich los und rannte weiter.

„Ron, bitte!", flehte sie hinter ihm und er erstarrte.

Er klammerte sich an den neben ihm stehenden Baum und schlug mit einem Mal seine Faust dagegen. „Warum!", schrie er, ohne wirklich mit jemandem zu reden. „Warum sie?! Warum ausgerechnet sie . . .?", seine Stimme war immer leiser geworden bis sie schließlich brach. Er ließ sich an dem Baum hinuntersinken und lehnte die Stirn gegen den kalten Stamm.

Er fühlte, wie Hermine ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte. „Ich weiß es nicht.", ihre Stimme zitterte und sie zwang ihn, sich zu ihr umzudrehen.

Als Ron in ihr tränennasses Gesicht sah und in ihren braunen Augen Trauer, Entsetzen und Hilflosigkeit lesen konnte, schlang er seine Arme um sie und ließ sich fallen.

Und sie hielt ihn fest, strich mit sanften Bewegungen über seinen zuckenden Rücken und weinte gleichzeitig stumme Tränen.

Weinte mit ihm zusammen um den Menschen, den sie verloren hatten.

****

Sie wussten alle nicht, wie sie die Nacht überstanden hatten. Doch als sie am nächsten Morgen in den Gemeinschaftsraum hinunterkamen und all die fröhlichen Gesichter sahen, die nichts von dem ahnten, was am letzten Tag geschehen war, fragte sich Harry, ob das wirklich alles sein konnte.

Durfte die Sonne wieder aufgehen? Durfte die Welt sich normal weiterbewegen, so als sei nichts geschehen? Durfte alles so über ihren Tod hinweggehen? Hätte nicht alles erstarren müssen? Hätte nicht alles trauern müssen? Was gab dem Leben das Recht, einfach so weiterzugehen?

Harry hätte am liebsten geschrieen.

Als er mit Ron und Hermine nach unten ging, kam ihm in der Eingangshalle Sirius entgegen, der ihn wortlos in die Arme schloss. Doch Harry wusste, dass auch das ihm nicht helfen konnte.

Nichts konnte ihm helfen. Gar nichts.

Als Sirius sich wieder von ihm löste, sah Harry, dass seine ohnehin schwarzen Augen heute noch dunkler waren als sonst. „Ich bin für dich –für euch- da, wenn ihr mich braucht.", sagte er mit einem Blick auf Hermine und Ron leise.

Harry und die anderen beiden nickten. Dann begaben sie sich in die Große Halle und setzten sich an den Tisch der Gryffindors. Sirius begab sich an den Lehrertisch und Harry bemerkte in einem Moment gedanklicher Klarheit, dass jemand so weise gewesen war, ihn nicht neben Snape zu setzen.

Plötzlich ging ein Murmeln durch die Halle und Harry sah auf. Dumbledore hatte die Große Halle betreten. Ihm auf den Fuß folgte Cornelius Fudge, der Minister für Zauberei.

Harry schloss die Augen. Er wusste nicht, ob er es ertragen würde, Dumbledore gleich laut aussprechen zu hören, dass sie tot war.

Dumbledore war stehen geblieben und als die Schüler sich beruhigt hatten, setzte er zum Sprechen an. „Ich muss diesen Morgen mit etwas beginnen, das einige von euch schon wissen, den größten Teil von euch aber vollkommen unvorbereitet treffen wird. Ginny Weasley ist tot."

Ein Aufschrei ging durch die Große Halle. Harry realisierte mit versteinertem Gesicht, wie die Gryffindors noch fassungsloser wirkten als alle anderen. Sie schienen es nicht glauben zu können, waren wie vor den Kopf gestoßen und starrten sich ungläubig an.

Mit einem Blick an den Slytherin-Tisch erkannte er, dass sogar Draco Malfoy seinen sonst so kühlen Ausdruck für einen Moment verloren hatte. Er wirkte beinah ehrlich erschrocken.

Doch gleichzeitig bemerkte Harry auch, dass ein Slytherin fehlte. Der Eine, den er schon den ganzen Morgen vergeblich gesucht hatte. Sorcery war verschwunden. Sein üblicher Platz war leer.

„Sie ist ermordet worden.", fuhr Dumbledore fort. „Und ich sage euch diese Wahrheit, um nicht erneut die Angst zu verbreiten, Voldemort habe Hogwarts angegriffen.

Natürlich kann auch diese Tatsache ihren Tod nicht erträglicher machen, kann nicht den Schmerz all derjenigen mildern, die sie gekannt haben.

Ginny Weasley war ein fröhliches, lebenslustiges Mädchen und ihr Leben wurde willkürlich beendet. Ich bitte euch, ihr Andenken zu wahren, so wie ihr auch Cedric und den siebzehn Opfern gedenkt, die Voldemort von uns genommen hat.

Ich muss hinzufügen, dass ich das Wort nun an Minister Fudge weitergeben werde. Er hat euch noch etwas zu sagen.

Doch zuvor will ich euch danken für die Unterstützung, die Loyalität und die Lebendigkeit, die ihr nach Hogwarts gebracht habt. Ohne euch wäre Hogwarts nicht das, was es heute ist. Ich danke euch dafür."

Zum ersten Mal, seit Harry ihn kannte, wirkte Dumbledore gebrochen und hilflos, als er sich jetzt auf seinem Stuhl niederließ. Es schien, als habe er jeden Funken Wille verloren. Und die letzten Worte, die er gesprochen hatte, riefen ein dunkle Vorahnung in ihm hervor, die Cornelius Fudge in den nächsten Minuten bestätigen sollte.

Der Minister stand auf und begann, laut und deutlich zu sprechen. „Natürlich muss ich zunächst der gesamten Schule und besonders den Angehörigen und Freunden der Verstorbenen mein größtes Beileid aussprechen. Es betrübt mich zutiefst, unter diesen Umständen den Grund für mein Erscheinen zu nennen.

Doch es bleibt mir leider keine andere Wahl. Das Ministerium hat in den letzten Wochen darüber diskutiert, ob Hogwarts noch einen sicheren Ort in unserer Welt darstellt. Nach achtzehn toten Schülern und mehr als doppelt so vielen Verletzen war dies eine berechtigte Fragestellung.

Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Dumbledore als Schulleiter dieser Schule nicht mehr tragbar ist. Er hat gezeigt, dass er die Sicherheit der Schule und ihrer Schüler nicht mehr gewährleisten kann und der Tod von Virginia Weasley gibt unserem Bedenken Recht. Sie ist das neunzehnte Opfer, das unter Professor Dumbledores Schutz in den letzten Monaten den Tod gefunden hat.

Und deshalb sieht das Ministerium sich dazu genötigt, Professor Dumbledore von seinen Pflichten als Direktor dieser Schule zu entbinden.

Als neuer Schulleiter wird vorerst Professor McGonagall eingesetzt, bis das Ministerium einen geeigneten Nachfolger gefunden hat.", schloss Fudge.

In der Großen Halle hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

„Das können sie nicht machen.", flüsterte Dean Thomas fassungslos.

Harry dachte dasselbe. Dumbledore war das Einzige, was Voldemort daran hinderte, die Schule ganz einzunehmen oder glaubte Fudge wirklich, der Angriff vor ein paar Wochen sei schon alles gewesen?!

Das konnte nicht wirklich wahr sein . . .

„Das können Sie nicht machen!", ertönte plötzlich eine schneidende Stimme. Zu Harrys Erstaunen kam sie vom Slytherin-Tisch. Und zu seinem noch größeren Erstaunen gehörte die Stimme zu Malfoy, der aufgestanden war und dem Minister fest in die Augen sah.

„Wie bitte, Mister Malfoy?", fragte Fudge vollkommen perplex.

Malfoy schien sich auf einmal dessen bewusst zu werden, was er gesagt hatte, denn er wurde merklich unsicherer. „Sie können Professor McGonagall nicht als seinen Nachfolger einsetzen!", sagte er.

„Natürlich kann ich das! Und nun setzen Sie sich gefälligst wieder!"

Malfoy setzte sich, doch jedem außer Fudge war klar, dass Malfoy nicht wirklich das gemeint was er schlussendlich gesagt hatte. Harry fragte sie einen Moment, was er von dieser Tatsache halten sollte, doch er hatte nicht mehr die Kraft, sich darüber ernsthafte Gedanken zu machen.

„Ich wünsche Ihnen nun allen einen guten Appetit. Professor Dumbledore wird mich zum Ministerium begleiten und Ihnen, Professor McGonagall wünsche ich viel Erfolg bei Ihrer Arbeit als Direktorin.", fuhr Fudge fort.

Er schien nicht zu merken, dass er als Einziger gut gelaunt war. Er verließ mit Dumbledore die Halle, doch immer noch wagte es niemand, etwas zu sagen.

Schließlich erhob sich Professor McGonagall und räusperte sich einmal. „Ich . . . ich denke nicht, dass . . .", ihr fehlten offenbar ebenfalls die Worte, „ich denke, es wird einen Weg geben, den Direktor zurückzuholen, machen Sie sich keine Sorgen.", sie klang nicht halb so überzeugt, wie sie es wahrscheinlich gerne gehabt hätte. „Bis das Ministerium einen . . . Nachfolger schickt, wird Professor Snape mein Stellvertreter sein. Und nun werde ich . . . ich . . . entschuldigen Sie mich bitte.", Professor McGonagall wandte sich ab und verließ mit mühsam beherrschtem Schritt die Halle.

Remus Lupin folgte ihr, begleitet wurde er von Sirius.

Die Schüler starrten den Dreien hinterher. Noch immer sagte niemand etwas.

„Ich denke, wir sollten jetzt zum Alltag übergehen. Die Schulstunden beginnen in zwanzig Minuten und Sie wollen doch nicht zu spät zum Unterricht kommen.", die schneidend scharfe Stimme Professor Snapes löste sie alle aus ihrer Erstarrung.

„Zum Alltag übergehen!? Dieser Bastard ist doch . . .!", brauste Dean auf, doch die Blicke der anderen brachten ihm zum Schweigen.

Selbst Harry und die anderen hatten nicht mehr die Kraft, sich über Snape zu ärgern.

Beinah niemand am Gryffindor-Tisch aß etwas und als Harry mit Ron und Hermine zum Unterricht ging, kam ihm alles so unwirklich vor wie schon lange nicht mehr.

****

Die vier Stunden am Morgen vergingen quälend langsam. Professor Lupin war seltsam abwesend und selbst Professor Binns schaffte es, noch einschläfernder zu sein als sonst. Immer wieder machte er Pausen zwischen einzelnen Wörtern und schien dann in tiefes Nachdenken verfallen zu sein.

Beim Mittagessen verkündete Professor McGonagall, der Nachmittagsunterricht fiele an diesem Tag aus und jeder war ihr dankbar dafür. Keiner konnte sich auf den Unterreicht konzentrieren, weder Schüler, noch Lehrer.

Harry, die Weasleys und Hermine trafen schließlich auf Mrs. und Mr. Weasley, die ihre Kinder in die Arme schlossen, während Harry und Hermine sich im Hintergrund hielten.

Doch Mrs. Weasley kam auch zu ihnen und umarmte sie. Ihre Augen und Wangen waren gerötet, sie sah aus, als habe sie die ganze Nacht geweint und nur sehr wenig geschlafen.

Mr. Weasley wirkte gefasst, doch hinter dieses Fassade konnte Harry die Gebrochenheit und seine grenzenlose Trauer erkennen.

„Wir wissen, dass sie umgebracht wurde. Und wir wissen auch, wer es getan hat.", sagte Mr. Weasley mit stählerner Stimme, aus der auch sein großer Hass auf diesen Mörder herauszuhören war.

Harry fühlte sich auf einmal schrecklich schuldig. Wenn er es nur hätte verhindern können . . . irgendwie. Er schaffte es nicht mehr, Ginnys Eltern in die Augen zu sehen. Es war sein Bruder, der ihre Tochter getötet hatte. Wussten sie das auch?

„Du hast keine Schuld.", klang eine sanfte Stimme an sein Ohr. Er blickte auf und sah direkt in die warmen braunen Augen von Mrs. Weasley, woraufhin er ein halbherziges Lächeln zustanden brachte.

„Dumbledore hat uns versprochen, dass er alles tut, um diesen Malidotus Sorcery zu finden. Und die Lehrer stehen geschlossen hinter ihm.", erklärte Mr. Weasley.

„Wann ist die Beerdigung?", erklang auf einmal Rons Stimme. Er wirkte seltsam gefasst, als er das sagte.

Seine Eltern starrten ihn an. „Darüber haben wir noch nicht . . .", begann Mrs. Weasley hilflos und wieder stiegen Tränen in ihre Augen. George legte tröstend den Arm um ihre Schultern.

„In drei Tagen.", verkündete Mr. Weasley. Er sah aus, als habe er das in genau diesem Moment entschieden. „Das ist ihr Namenstag."

Harry schluckte schwer.

„Ihr werdet natürlich alle von der Schule befreit. Es ist . . . einfach . . .", Mrs. Weasleys Stimme brach und sie senkte ihren Kopf auf die Schulter ihres einen Zwillingssohnes.

Harry wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel begann wieder, sich aufzuklären. Was erlaubte sich die Sonne eigentlich, so fröhlich und vorlaut durch die Wolken zu lugen?

So, wie Ginny es manchmal getan hatte, wenn sie hinter einem ihrer Bücher hervorsah . . .

Er schloss die Augen und klammerte sich an das Fensterbrett.

„Wir werden jetzt . . . zu Ginny gehen.", nun zitterte auch die Stimme von Mr. Weasley.

Ron und die Zwillinge nickten und Harry hörte, wie Hermine sich leise von den Weasleys verabschiedete. Er drehte sich nicht um. Er würde es nicht ertragen, noch einmal in ihre verlorenen Augen zu schauen.

****

Die Tage schleppten sich dahin, einer wie der andere. Essen, Unterricht, Essen, Unterricht, Essen, Schlafen und am nächsten Tag dasselbe von Neuem.

Eine apathische Stille hatte sich über das gesamte Schloss gelegt. Es schien, als würde jeder auf etwas warten. Warten, dass etwas passiert.

Es musste etwas geschehen. Alles hing in der Luft.

Doch es geschah nichts. Alles ging weiter wie zuvor. Wenn man nicht genau hinsah, erkannte man kaum, dass ein Schulleiter fehlte und ein vierzehnjähriges Mädchen einen gewaltsamen Tod gefunden hatte.

Wenn man nicht genau hinsah.

Schaute man genau hin, erkannte man die Angst in den Augen der Schüler, die Unsicherheit bei allem was sie taten, dieses verschreckte Warten auf ein scheinbar unabänderbares Ereignis.

Harry verbrachte die meiste Zeit entweder allein mit Ron und Hermine oder allein mit Sirius, mit dem er über alles redete, was ihm auf dem Herzen lag.

Nicht selten wurden sie dabei von einigen Schülern neugierig betrachtet, die es noch immer seltsam zu finden schienen, dass Sirius wirklich unschuldig war. Doch da Harry und Sirius meist am See auf einer Bank saßen und dort nur selten Schüler vorbeikamen, bemerkten sie die Blicke kaum.

Harry erfuhr in diesen Tagen mehr über seine Eltern als in den vorigen fünfzehn Jahren. Er bekam so viele Einblicke in ihr und auch in das Leben von Sirius, dass er es sich gestattete, wenigstens ein paar Stunden am Tag abgelenkt zu sein.

Und Sirius war für ihn da, als die Trauer um Ginny ihn zu erdrücken drohte. Er hörte ihm zu, sprach mit ihm darüber – er war einfach nur da und dafür dankte Harry ihm im Stillen. Er wusste nicht, wie er die Tage bis zu ihrer Beerdigung und auch die Tage danach ohne Sirius überstanden hätte.

Als Harry, Ron, Hermine und die Zwillinge drei Tage nach der Entlassung Dumbledores in Ottery St. Catchpole ankamen, schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel.

„Ginny hat die Sonne geliebt.", sagte Fred auf einmal.

Keiner antwortete ihm, doch er wusste, dass ihn jeder verstanden hatte.

Die Trauerfeier fand in einer kleiner Kirche statt, die auf einem Friedhof etwas abseits des Dorfes auf einem Hügel stand.

Die Kirche war weiß, ihr vordere Fassade war mit Efeu und Rosen überwuchert und durch die bemalten Fenster an den Seiten fiel ein sanftes Licht in den Innenraum.

Harry blickte sich um und sah, dass bei Mrs. und Mr. Weasley auch Charlie, Bill und Percy standen. Alle drei waren blass im Gesicht, doch sie wirkten auch entschlossen darin, für ihre Eltern und jüngeren Geschwister da zu sein.

Auch Ron und die Zwillinge gingen nun zu ihren Eltern und Hermine zog Harry ebenfalls hinter sich her.

Harry sträubte sich dagegen. Wie konnte er den beiden in die Augen sehen, wenn doch seine Familie Schuld am Tod Ginnys war?

Als Mrs. Weasley ihn jedoch in ihre Arme zog, spürte er, dass sie ihm keine Schuld gab. Niemand gab ihm die Schuld und er war ihnen dankbar dafür.

Etwas aber blieb zurück, ein kleiner bittere Zweifel: hätten sie ihm auch keine Schuld gegeben, wenn sie die ganze Wahrheit wüssten?

Nach und nach kamen auch die anderen Trauergäste. Harry erkannte viele bekannte Gesichter. Es erschienen Sirius und Remus, begleitet von einer mühsam um Selbstbeherrschung kämpfenden Professor McGonagall.

Auch Michelle war mit ihren Eltern gekommen. Sie zitterte an der Hand ihrer Mutter und wieder rannen stumme Tränen über ihr Gesicht.

Familienmitglieder der Weasleys, die Harry nicht kannte, tauchten auf und sogar Arabella Figg, von der Harry mittlerweile wusste, dass sie eine Hexe war, war unter den Gästen.

Schließlich erschien ein in hellem beige gekleideter Pfarrer, dem sie in die Kirche folgten.

Mrs. und Mr. Weasley setzten sich mit ihren Kindern in die erste Reihe der Kirche, Harry und Hermine ließen sich hinter ihnen nieder.

Der Pfarrer war hinter einen blumengeschmückten Altar getreten. Außerdem standen auf dem Alter eine aufgeschlagene Bibel, ein Kerzenständer und auf einem grünen Banner, der vor dem Alter hing stand in goldenen Buchstaben Lux lucet in tenebris geschrieben.

Rechts neben dem Altar war ein Meer aus Blumen aufgebaut. Kränze und Strauße wechselten sich ab mit Gestecken und einzelnen Blüten. Es waren farbenfrohe Blumen in Gelb, Orange und Rot, nur eine einzelne Lilie war darunter. Inmitten dieser Blumen stand auf einem Wagen, gebettet auf ein Tuch aus rotem Samt, ein weißer Sarg, dessen Deckel bereits geschlossen war.

Harry ergriff Hermines Hand, als sie neben ihm begann, lautlos aufzuschluchzen.

Eine Weile war es still, bis der Pfarrer sein Wort erhob:

„Der Tod von Virginia Weasley hat uns getroffen, denn er hat uns etwas Liebes und Vertrautes genommen. Und ihr frühes Sterben scheint umso sinnloser, als dass sie einen gewaltsamen und unfreiwilligen Tod gefunden hat.

Doch immer sind da Spuren des Lebens. Bilder, Augenblicke und Gefühle, die uns erinnern. Ginny war ein Mensch, an den wir uns in vielen Situationen unseres Lebens erinnern werden.

Etwa, wenn wir uns Bilder von ihr anschauen, wenn wir in jedem Feuer ihren roten Haarschopf erkennen, wenn wir in jedem Sonnenstrahl ihr Lachen wiederfinden. Oder wenn wir lieben und hoffen.

Vielleicht erscheint es uns jetzt, als seien wir nicht mehr fähig, einen Menschen je wieder so zu lieben, wie wir Ginny geliebt haben. Doch wir dürfen nicht aufgeben, dürfen nicht beginnen, uns in unserer Trauer zu verstecken. Hoffnung ist ein Licht, das auch in tiefster Dunkelheit nie seinen Schein verliert, wenn wir es nicht zulassen. Ginny war ein Mensch, der Hoffnung gegeben hat. Sie war lebenslustig, fröhlich und liebenswert. Mit ihrem Lebenswillen hat sie uns etwas hinterlassen, das wir in unseren Herzen tragen können.

Man sagt oft, die Zeit heile alle Wunden. Doch man sagt auch, dass immer Narben zurückbleiben. Niemand kann uns den tiefen Schmerz, den wir jetzt empfinden, abnehmen. Aber es gibt etwas, das uns beistehen kann.

Und das ist unser Glaube. Er hilft uns zu überstehen und weiterzuleben. Er gibt uns Halt wenn wir glauben, keinen Halt mehr zu haben.

Die Narben verheilen nie. Sie zeichnen unserer Seele bis in alle Ewigkeit. Doch wir können versuchen, mit ihnen zu leben, vielleicht auch aus ihnen Kraft zu schöpfen und zu lernen.

Ginnys Familie hat mich gebeten, eine Freundin ihrer Tochter ihre Gefühle in einem Lied ausdrücken zu lassen. Und ich bitte sie nun, das zu tun.", der Pfarrer nickte kurz und Hermine erhob sich.

Sie ging nach vorne und stellte sich vor den Altar. Harry konnte erkennen, dass ihr Gesicht erneut von Tränen gezeichnet war.

„Ginny war meine Freundin.", begann Hermine. „Sie war jünger als ich und vielleicht war es auch nicht immer so deutlich, doch ich habe mich mit ihr so gut verstanden wie mit keinem anderen Mädchen. Ihr Tod ist . . . ich habe noch immer das Gefühl, als müsse sie gleich durch die Tür kommen und sagen ‚Sagt mal, was macht ihr denn hier?'. So etwas hätte sie gesagt. Sie war so lebensfroh, dass man sich nicht richtig vorstellen kann, dass sie nie wieder aufwacht. Und doch ist es so. Sie ist tot.

Ich habe lange nach einem Lied gesucht, dass meine und auch die Gefühle meiner Freunde ausdrücken kann. Und ich habe eines gefunden.", schloss sie.

Musik erklang scheinbar aus dem Nichts. Das Stück begann mit dem dunklen Gesang eines Chores, bis schließlich die melancholische und zugleich hoffnungsvolle Melodie eines Klaviers erklang, untermalt durch die traurigen Töne eines Cellos.

Und dann begann Hermine zu singen.

When the dark wood fell before me

And all the paths were overgrown

When the priests of pride say there is no other way

I tilled the sorrows of stone

I did not believe because I could not see

Though you came to me in the night

When the dawn seemed forever lost

You showed me the love in the light of the stars

Cast your eyes on the ocean

Cast your soul to the sea

When the dark night seems endless

Please remember me

Then the mountain rose before me

By the deep well of desire

From the fountain of forgiveness

Beyond the ice and the fire

Cast your eyes on the ocean

Cast your soul to the sea

When the dark night seems endless

Please remember me

Though we share this humble path, alone

How frahile is the heart

Oh give these clay feet wings to fly

To touch the face of the stars

Breathe life into this feeble heart

Lift this mortal veil of fear

Take these crumbled hopes, etches with tears

We'll rise about the earthly cares

Cast your eyes on the ocean

Cast your soul to the sea

When the dark night seems endless

Please remember me

Please remember me

Please remember me . . .

Die Musik wurde leiser und leiser, bis am Schluss nur noch der Chor zu hören war, dessen Stimmen schließlich auch verklangen.

Hermine sah zu Boden. Als sie wieder aufblickte und zu ihrem Platz zurück ging, waren ihre Augen von Tränen verschleiert, obwohl ihre Stimme klar und deutlich zu verstehen gewesen war. Als sie wieder saß, nahm Harry sie kurz in die Arme. Auch er hatte erneut die Tränen nicht zurückhalten können.

Der Pfarrer beendete die traurige Stille, die Hermines Gesang ausgelöst hatte:

„Ich möchte einige Zitate aus dem Lied herausgreifen: Gib diesen bleiernen Füßen Flügel um zu fliegen und das Gesicht der Sterne zu berühren; Nimm die zerbrochenen, durch Tränen verätzte Hoffnungen, wir werden uns über diese irdischen Sorgen erheben.

Ginny hat unsere Welt verlassen. Doch wir wissen nicht, wie die Welt ist, in der sie nun lebt. Vielleicht berührt sie wirklich das Gesicht der Sterne. Vielleicht hat sie ihre Hoffnungen, die mit dem Tod scheinbar zu Ende gingen, wirklich ergriffen und hat sie über alles irdische hinweggesetzt. Wir wissen nicht, ob sie ihre Hoffnungen vielleicht nicht dort erfüllt, wo sie jetzt ist.

Doch wohin auch immer ihr Glaube sie gebracht hat, sie ist dort sicher und geborgen. Sie hat das Reich des Weltlichen verlassen. Doch in ihrem neuen Leben, vielmehr dem neuen Abschnitt ihres Lebens, ist sie nicht allein. Sie wird dort gehalten.

Und damit möchte ich noch etwas aus dem Lied aufgreifen: Wenn die Nacht endlos scheint, dann erinnere dich bitte an mich.

Ich denke, genau das war ihr Wunsch. Wir sollen sie nicht als toten, leblosen Körper in Erinnerung behalten, sondern als das lebensfrohe Mädchen, das sie war. Wenn wir uns an sie erinnern, dann hat Ginny nicht umsonst gelebt. Wenn sie uns ein Licht in der Dunkelheit sein kann, wenn die Erinnerung an sie für uns etwas ist, das uns in Zeiten tiefster Schwärze hilft, weiterzugehen, dann hat ihr Leben einen Sinn gehabt.

Nur wenn wir sie vergessen, ist sie wirklich tot. Ginny lebt in uns. In jedem, dem sie ein Lächeln geschenkt hat, in jedem, den sie geliebt hat. In jedem, der ihre Erinnerung und ihr Dasein würdigt, liegt ein Stück von ihr.

Und daran können wir uns festhalten. An die Sicherheit, dass ein Stück von ihr uns begleitet, was auch immer wir tun."

Der Pfarrer ging um den Altar herum und aus einem angrenzenden Raum traten vier Männer. Als der Pfarrer begann, durch den Mittelgang der Kirche zu gehen, hoben sie den weißen Sarg vorsichtig hoch, setzten ihn sich auf die Schultern und trugen ihn, während sie dem Pfarrer nach draußen folgten. Daran schlossen sich Mrs. und Mr. Weasley, die ihre Hände verzweifelt gegenseitig umklammerten, Ron mit seinen Brüdern, Harry und Hermine und schließlich die restliche Trauergemeinde.

Die Prozession wanderte über den Friedhof, bis sie an einem hohen Ahornbaum ankamen, unter dem bereits ein Grab ausgeschaufelt war.

Hier also soll Ginny ihre letzte Ruhe finden, dachte Harry.

Die vier Männer ließen den Sarg in die Erde sinken und hätte Harry nicht genau gewusst, dass Ginny in diesem Sarg lag, hätte er es abgestritten. Es wirkte alles so irreal, so falsch. Waren sie wirklich hier, um sie zu beerdigen? Sie, seine Ginny?

Der Pfarrer trat vor das Grab. "Virginia Weasley ist tot. Wir übergeben ihren Leib in den Schoß der Erde, die Gott geschaffen hat. Ihre Seele aber vertrauen wir der Obhut seiner Gnade und Barmherzigkeit und der Geborgenheit seiner ewig währenden Liebe an."

Er ergriff die Schaufel, die neben dem Grab im aufgehäuften Sand steckte und warf unter den Worten „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube" dreimal ein wenig von der feuchten Erde auf den Sarg.

Schließlich hob er die Hände. „Der Herr spricht: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch über den Tod hinaus. Und wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben.' "

Dann wandte er sich zu den Trauergästen um und reichte Ginnys Eltern die Hand. „Ich weiß, dass es im Moment nichts gibt, das Ihren Schmerz lindern kann. Doch wenn Sie an Ihrem Glauben festhalten, wird er Ihnen beistehen und mögen Sie noch so sehr zweifeln. Ich wünsche und bete für Sie, dass Ihnen das helfen kann, neue Hoffnung zu schöpfen."

Er zog sich zurück und ließ Ginnys Eltern vor das Grab ihrer Tochter treten. Mrs. Weasley wurde von ihrem Mann gestützt, sie hatte keine Kraft mehr. Nach ihnen folgten Bill, Charlie, Percy und die Zwillinge. Jeder von ihnen blieb einen Moment stehen, bis sie sich schließlich mit erstarrten Gesichtern ihren Eltern zuwanden.

Ron wollte nicht allein gehen. Er ergriff Hermines Hand und die beiden traten gemeinsam vor das Loch in der Ende, in dem Ginny ihre letzte Ruhe finden sollte.

Nach wenigen Sekunden flüchtete Hermine sich in Rons Arme und nun war er es, der ihr Trost zusprach, während auch ihm neue Tränen über die Wangen rannen.

Als die beiden zurücktraten, war es Harry, der mit zögernden Schritten vor ihr Grab trat. Er schaute hinab und sah ihren weißen Sarg, stellte sich ihren Körper vor; ihr lachendes Gesicht, ihre strahlenden Augen.

Er ertrug es nicht. Ertrug nicht den Gedanken daran, sie nie wiederzusehen, sie nie wieder berühren zu können. Er richtete seinen Blick auf das einfache Holzkreuz, das ihr Grab zierte und auf dem in einfachen Buchstaben geschrieben stand:

Ginny Weasley

1981-1995

Du hast Liebe gegeben

Harry griff in die Tasche und zog eine rote Rose heraus, die er schon in Hogwarts eingesteckt hatte.

Er starrte ein letztes Mal in das Loch hinunter.

Der Sarg immer noch weiß, die Farbe der Unschuld. Sie war unschuldig gestorben.

Seine grünen Augen waren von Tränen verschleiert, als er die Rose in das Grab fallen ließ.

Rot, die Farbe der Liebe und der Leidenschaft.

Die Farbe ihrer Haare, ihrer Lippen, ihrer Wangen . . . er meinte beinah, ihr Lachen noch hören zu können.

Es war vorbei. Vorbei, bevor es noch richtig begonnen hatte. Und mit gebrochener Stimme sagte er das, was er nicht über die Lippen gebracht hatte, als sie ihm mit funkelnden Augen in der Eingangshalle gegenüberstand. Das, was er ihr nicht hatte sagen können, als er sie das letzte Mal lebend gesehen hatte.

"Ich liebe dich.", flüsterte er.

Und ihm war, als wäre das plötzlich aufkommende Rauschen des Windes in den Blättern des Ahornbaumes ihre liebevolle Antwort.


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tbc . . .

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