Bestürzt und beschmutzt

Er schüttelte sich. Er schloss die Augen, rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger und öffnete sie wieder. Es war eindeutig: Sie hatten einen übersehen. Und dieser war, zumindest noch, am Leben. „Das ist mal wieder typisch für diese jungen Taugenichtse", dachte Belethberaid, obwohl er Humor in dieser Situation eigentlich für unangebracht hielt. „Nichts können sie ordentlich zu Ende bringen." Er betrachtete teils nachdenklich, teils angewidert die zitternde Hand auf dem Waldboden. Sie gehörte zu einem sehnigen Unterarm, der aus einem dichten Holunderstrauch hervorlugte. Dorthin hatte sich der Ork wohl mit letzter Kraft gerettet. Also war es nicht verwunderlich, dass die Jungen ihn übersehen hatten. Selbst Belethberaid hatte nicht einmal seinen Geruch wahrnehmen können, da er von dem seiner toten Kameraden überdeckt wurde. Die Neugier siegte und der Elb ließ sich auf alle Viere  nieder. Stück für Stück schob er sich um das Gewächs herum, sich selbst gut zuredend: „Er wird dir nichts tun, er ist mehr tot als lebendig. Erschreck ihn nur nicht, erschreck ihn auf keinen Fall…" Er gab sich einen Ruck und kniete nun endlich vor dem niedergestreckten Ungeheuer.

Auf den ersten Blick sah er einen unförmigen schlammfarbenen Klumpen. Doch je genauer er hinsah, desto mehr zeichneten sich Konturen und Einzelheiten ab. Belethberaid wunderte sich leicht. Er hatte ganz vergessen, dass selbst bei Orks jeder einzigartig war. Dieser schien ziemlich ausgehungert zu sein, die Rippen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab, dennoch wirkte der Körper kräftig, denn er war von Sehnen, stark wie Eisenstränge, durchzogen. Schmutzige, abgetragene Lumpen bedeckten nur das Allernötigste, die verhornten Füße steckten in kaputten Sandalen. Dünne Strähnen verfilzter pechschwarzer Haare verdeckten zum Teil das scharfkantige Gesicht. Belethberaid konnte sich nicht vorstellen, dass diese abscheuliche Fratze etwas Freundliches wie etwa ein Lächeln ausdrücken konnte. Von der rechten Wange über den schiefen Mund voller fauliger Zahnstümpfe verlief eine breite Narbe. Das rechte Ohr sah aus, als wäre ein großes Stück davon abgebissen worden. Aus den breiten Nüstern der platten Nase flossen kleine Rinnsale schwarzen Blutes. Der Elb überwand sich und strich die wirren, fettigen Strähnen aus dem Gesicht des Orks, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie waren von einem trüben Rot und starrten ins Leere.

Ein Zittern durchlief den verunstalteten Körper. Belethberaid erwartete, dass das Scheusal in hysterisches Gekreisch ausbrechen würde. So, wie es seine Artgenossen immer beim Anblick des Elbenkriegers getan hatten. Doch dieser hier schrie nicht, er wimmerte nur noch kläglich. Jetzt erst richteten die elbischen Augen ihre Aufmerksamkeit auf den Grund, weswegen der Ork flach auf dem Bauch lag und sich kaum zu bewegen wagte. Belethberaid atmete scharf ein. „Ihr Götter!", entfuhr es ihm. Wie konnte er das nur übersehen haben? Die ledrige Haut auf dem Rücken war so gut wie weggerissen. Hautfetzen hingen lose herunter und offenbarten dunkelrotes Fleisch. Ihm stockte der Atem. Das waren mit Sicherheit keine Elben gewesen! Der Ork brachte vor Schmerz erstaunlich hohe Töne zustande, er fiepte regelrecht. Er war nur ein widerliches Geschöpf Mordors, das wusste der Elb durchaus, doch wusste er tief in seinem Inneren, dass es unrecht war, selbst ihn, der am Ende seiner Kräfte vor ihm lag, leiden zu lassen. Langsam näherten sich die zarten Hände dem breiten Orknacken, schlanke Finger umfassten den Kopf. Belethberaid war sich seiner Sache sicher. Ein kurzer Ruck und beide würden erlöst sein. Der Ork schien sich allerdings immer noch an den letzten Rest Leben, der in ihm steckte, klammern zu wollen. Seine heile Hand wanderte zum Arm des Elben und versuchte, ihn wegzureißen. Obwohl er eigentlich viel zu schwach dafür war, verfehlte die Tat nicht ihre Wirkung. Als wäre die knotige Kralle aus Feuer riss Belethberaid blitzartig seine Hand zurück und presste sie auf die Brust, als versuchte er, dort eine nicht vorhandene Blöße zu bedecken. „Wie du willst", sprach er mit ungewohnter Kühle, „dann verrecke eben qualvoll!" Als hätte er die Worte des Elben verstanden, stieß der Ork ein leises, jammervolles Seufzen aus. Belethberaid sah genauer hin, doch Tränen, die konnte er in den roten Schlitzaugen nicht entdecken. Sein Verstand drängte ihn, endlich weiterzugehen und das Monster seinem Schicksal zu überlassen, er kniete jedoch wie angewurzelt neben dem Ork. „Weißt du", sagte er sanft, „dass ich dich einfach hier liegen lassen könnte? Ich könnte einfach hier sitzen bleiben und zusehen, wie der Faden, an dem dein Leben hängt, immer dünner wird…" Das Laub unter seinen Beinen raschelte leise, als er etwas näher heranrückte. „Aber ich werde es nicht tun!", kam es plötzlich aus seinem Mund.

Vorsichtig hob er den schlaffen Körper auf, darauf bedacht, die aufgerissenen Wunden nicht zu berühren. So sanft wie möglich hievte er den Ork über seine Schulter. Der faule Gestank raubte ihm zwar den Atem, doch er biss die Zähne zusammen, stand auf und lief los. Er konnte von Glück reden, dass der Ork so abgemagert war. Das Gewicht eines wohlgenährten Orks hätte ihn vermutlich in die Knie gezwungen. Belethberaid lauschte eine Weile dem rasselnden Atem seiner Last. Schließlich verspürte er das dringende Bedürfnis, die erdrückende Stille zu unterbrechen. Er wusste, dass es absolut unsinnig war, mit dem Monstrum zu reden, trotzdem tat er es: „Weißt du, ich bringe dich in mein Haus, es ist nicht mehr weit. Du hast sicher noch nie ein elbisches Haus gesehen. Ob du dich dort wohl…" An dieser Stelle brach er ab. Diese einseitige Konversation war einfach nur stumpfsinnig. Außerdem spürte er, dass die Angst des Orks stetig wuchs. Und Belethberaid hielt es für keine gute Idee, dies durch sein Elbisch, das dem Ork vielleicht sogar in den Ohren schmerzte, noch zu  verstärken. Endlich, endlich stieß er die Tür auf und betrat den Wohnraum. Der Weg nach Hause war nicht länger gewesen als sonst, dennoch fühlte er sich, als wäre er tausende von Meilen mit seinem orkischen Gepäckstück gelaufen. Er suchte das Zimmer mit den Augen nach einem geeigneten Lager für den Verwundeten ab. Alles schien ihm zu schade, als dass er eine Kreatur des Bösen darauf hätte betten wollen. Er öffnete die Tür zum zweiten Raum seiner Behausung, seinem Schlafzimmer. Sonst gab es nur noch ein winziges Badezimmer und ein nicht viel größeres Zimmerchen, das man vielleicht als Küche bezeichnen konnte.

Obwohl Belethberaid sich durchaus bewusst war, wie winzig sie im Vergleich zu den mehrstöckigen, eindrucksvollen Gebäuden der anderen, war er äußerst stolz darauf. Böse Zungen behaupteten sogar, dass die Bauweise fast schon zwergisch anmutete. Die Wände, aus reinstem Marmor, zierten Darstellung von Szenen elbischer Geschichte. Sie waren mit viel Liebe zum Detail eingearbeitet worden, ebenso wie die Borte aus goldenen Blättern, die oben an den Wänden entlanglief. Doch am schönsten war für ihn immer noch das Mosaik an der Schlafzimmerdecke, das Lothlórien in seiner ganzen Pracht zeigte und hier und da mit feinsten Edelsteinsplittern verschönert worden war. Ja, dies war ein Kunstwerk von Meisterhand gefertigt. Und der Gedanke daran, welche liebreizende, doch starke Hand daran gearbeitet hatte, machte es für den Elben noch viel einzigartiger und wunderbarer. Behutsam legte er den Ork auf dem Boden ab. Er zitterte sogleich, als die kalten Steinfließen seine Haut berührten. Ungerührt öffnete Belethberaid seinen Schrank und warf wahllos ein paar Decken und Laken heraus. Daraufhin breitete er einige davon auf dem Boden aus und schob sie zusammen, bis schließlich eine Art Lager oder Nest entstand. Er schleifte den Ork so zärtlich es seine Kräfte und seine elbische Abstammung erlaubten dorthin. Bevor er ihn niederlegte, erhaschte er einen kurzen Blick auf die Brust des Wesens. Sie war übersät mit Blutergüssen und blutverkrusteten Schürfwunden. „Grausam", urteilte er. Dann eilte er zurück in den Wohnraum, suchte und fand schließlich eine Tonschüssel, Billigware, die er vor mehreren Zyklen bei einem Ausritt durch Rohan mehr aus Mitleid als aus Notwendigkeit einem fahrenden Händler abgekauft hatte. „Ich bin einfach viel zu weichherzig", seufzte er. Belethberaid klemmte sich das Gefäß unter den Arm und lief hinaus zum Brunnen.

Wenig später kehrte er mit einer Schüssel voll frischem Wasser, mehreren Tüchern und einer Schale, deren Inhalt wundersam duftete, zum Krankenlager des Orks zurück. Der protestierte quiekend, als der Elb seine Wunden säuberte und ihm anschließend einen mit einer Heilsalbe behandelten Verband anlegte. Doch nachdem er in eine weitere weiche Decke gewickelt worden war, fügte er sich seinem Schicksal und schloss erschöpft die Augen. Auch Belethberaid sank ermattet in einen Stuhl. Lange betrachtete er den schlafenden Ork und wusste nicht, ob er nun lachen oder vielleicht doch lieber weinen sollte. „Schließlich sind Orks hier gänzlich unerwünscht", hörte er sich selbst sagen und auch das drauffolgende Gelächter der Jungen ließ ihm keine Ruhe. Und erst der Geruch! Sein Haus, seine Kleider, sein Körper, alles stank nach den Ausdünstungen des Orks. Belethberaid fühlte sich schmutzig und das Bewusstsein, diesen Dreck nicht abwaschen zu können, machte das Ganze nur noch schlimmer. Sein Verstand schalt ihn einen Narren, sein Herz aber versuchte ihm das Gefühl zu vermitteln, dass hinter seinem Tun ein tieferer Sinn läge, der sich nur noch nicht offenbart hatte. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Der Ork brummte etwas Unverständliches und drehte den Kopf auf die andere Seite. Belethberaid stand auf, nahm Pergament, Feder und malachitfarbene Tinte zur Hand und setzte sich ans Fenster. Durch die Baumwipfel sah er vereinzelt die ersten Sterne aufblinken, doch die vertraute Nachtluft umspielte diesmal nicht sein Gesicht. Die Luft war erfüllt von verbranntem Fleisch, Blut und Orkdreck. Selbst die Grillen schienen verstummt. Das einzige Geräusch war das Kratzen der Feder, während er Imbéorn seine endgültige Antwort mitteilte: „Teurer Freund, ich bedaure es, dich enttäuschen zu müssen, doch habe ich mich entschlossen, an deinem Unterfangen nicht teilzuhaben…" Er zögerte und warf dem unheimlichen Monster, das im fahlen Licht noch bedrohlicher wirkte einen raschen Blick zu. Dann schrieb er: „… aus Gründen, die ich dir jetzt noch nicht zu nennen vermag…"

In der Nacht bekam der Ork Fieber.