4.

Als Carmen am nächsten Morgen aufwachte, tat ihr alles weh. Sie fragte sich, weshalb sie wohl auf dem Fußboden übernachtet hatte. Da erinnerte sie sich wieder an die letzte Nacht. Wo war Jack jetzt? Carmen schaute sich im Zimmer um, doch er war nicht da. Zum Glück, sie wollte sich zuerst noch ein wenig mental auf das Zusammentreffen mit Jack vorbereiten. Was war gestern in sie gefahren? Hatte sie etwa vergessen, wie respektlos er sie behandelt hatte?

Da entdeckte sie einen kleinen, sorgfältig zusammengelegten Kleiderhaufen auf einem Stuhl. Dem Stil nach waren es wohl Anamarias Kleider. Carmen probierte sie an, wobei das Oberteil ein wenig zu eng war. Die Hosen hingegen passten perfekt. Nach einem letzten Blick in den Spiegel trat sie aus dem Zimmer heraus an die Reling, bereit, um herauszufinden, ob er sich noch an die letzte Nacht erinnert. Es hätte sie nicht erstaunt, wenn dem nicht so wäre, bei der Menge Alkohol, die die beiden getrunken hatten. Leider musste Carmen schon ihr ganzes Leben lang mit dem Schicksalsschlag leben, dass sie sich immer an jedes Detail ihrer durchzechten Abende erinnern konnte, wobei... Als sie noch einmal an die vorherige Nacht zurückdachte, fragte sie sich: Worüber um Himmels Willen habe ich so gelacht? Ein Lächeln huschte über ihr schönes Gesicht, doch es erlosch, als sie der Realität gegenüber trat.

Sie machte sich auf den Weg zum Steuerrad, wo sie Jack als Captain dieses Schiffes vermutete. Grossen Schrittes ging sie um eine Ecke herum, von wo aus sie freie Sicht auf das Deck und somit auf das Steuerrad hatte. Ihr blieb auf einmal der Atem stehen. War das wirklich Jack hinter dem Steuerrad? Er sah absolut umwerfend aus, sein Hemd war nicht zugeknöpft und wehte mit dem Wind, so dass sein muskulöser Oberkörper zu sehen war. Ab und zu bellte er jemandem einen Befehl zu. Er wirkte irgendwie heroisch, wie er da das ganze Schiff unter seiner Kontrolle hatte. Carmen konnte ihren Blick gar nicht mehr von ihm losreißen.

Da bemerkte Jack sie auf einmal und grinste ihr zu. Carmen entschloss sich, in die Offensive zu gehen und schritt auf Jack zu, als ob sie nur zur Orientierung so dagestanden wäre.

"Wo segeln wir eigentlich hin, Jack?" fragte Carmen.

"Nirgendwohin und überall hin, und es heißt Captain", antwortete Jack schmunzelnd.

"Und Kleine, was machst du so?" fragte er Carmen.

Diese erwiderte sarkastisch: "Ich schaue mir dieses Boot einmal an."

Danach ging sie davon, während ihr Jack verärgert nachschaute. Beleidigt schrie er ihr noch hinterher: "Du dumme Frau, die Black Pearl ist ein Schiff, kein Boot. Ein Schiff!"

"Alles klar Captain, ich wollte ihr Schiff nicht beleidigen", erwiderte sie und fügte hinzu "Ach übrigens, mein Name lautet Carmen und nicht Kleine!"

Carmen wartete seine Reaktion gar nicht erst ab, sondern ging weg, um jemanden zu suchen, mit dem sie reden konnte.

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Bald fand Carmen Anamaria und dankte ihr für ihre Kleider. Danach half sie ihr bei ihren Aufgaben, während die beiden über Gott und die Welt redeten. In Anamaria fand Carmen schnell eine gute Freundin. Plötzlich wechselte der Wind. Erst jetzt bemerkten die beiden, dass ein großes Unwetter auf sie zukam. Sie waren so sehr in ein Gespräch vertieft gewesen, dass sie es ihnen gar nicht aufgefallen ist.

"Geh in deine Kabine, dort ist es am sichersten für dich", wies Anamaria Carmen an.

Diese wendete ein: "Aber ich habe doch gar kein eigenes Zimmer."

"Dann gehe in die Kabine des Captains, er hat sicher nichts dagegen" erwiderte Anamaria und zwinkerte ihr zu.

Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, also machte sich Carmen auf den Weg. Wie hatte sie dieses schreckliche Unwetter bloß nicht bemerken können. Mittlerweile befand es sich direkt über dem Schiff. Der Wind peitschte ihr Regen ins Gesicht, sodass sie sich die Hände vor den Kopf hielt, um sich zu schützen. Da prallte sie plötzlich gegen jemanden. Ihr Gegenüber verfluchend sah sie auf und erblickte Jack. Gerade in diesem Moment ergriff eine riesige Welle das Schiff, Jack presste Carmen hart gegen die Wand, um sie zu schützen.

Diese Nähe von Jack war für Carmen fast unerträglich. Sie konnte es nicht vermeiden, Jacks Geruch nach Meer, Salz und Rum tief einzuatmen. Hinzu kam noch, dass sie spürte, wie sich seine Muskeln bewegten, während er atmete. Entgegen ihres Willens schlug ihr Herz mindestens doppelt so schnell. Sie hoffte nur, dass Jack das laute Pochen nicht hören würde. Still verfluchte sie sich selbst, dass sie ihren Körper nicht soweit kontrollieren konnte, dass er nur auf ihren ausdrücklichen Befehl erregt wurde.

Die Welle ging vorüber und die See beruhigte sich wieder ein wenig. Doch Jack bewegte sich nicht von der Stelle. Er schaute Carmen tief in die Augen und führte seinen Mund gefährlich nahe an den ihren. Der Widerstand in Carmen war schon längstens gebrochen und sie bereitete sich innerlich darauf vor, ihn zu küssen. Doch nur einige Millimeter, bevor sich ihre Lippen berührt hätten, zog sich Jack zurück. Er wandte sich um, um zurück zu seiner Mannschaft zu gehen, während er Carmen über seine Schultern ein hämisches Grinsen zuwarf.

Schwer atmend stand sie da, nicht begreifend, was genau gerade vorgefallen war. Hatte sie dieser attraktive Pirat etwa gerade zurückgewiesen?

Moment, wieso interessierte sie das überhaupt? Es war ja vollkommen egal. Nein, eigentlich war es sogar besser so, denn sonst wäre sie womöglich der Versuchung erlegen.

Scheiße, sie wusste, dass sie sich selbst belog.

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