3. Unterschiedliche Ansichten
Albus Dumbledore hatte der hitzigen Diskussion, die seit nunmehr einer Stunde im Gange war, schweigend zugehört. Sirius Tod hatte eine unerwartete, ja schon fast seltsame Dynamik im Verhalten der Mitglieder des Ordens ausgelöst, die sich derzeit im Grimmauld Place Nr. 12 befanden. Sicherlich, er hatte Trauer und Zorn erwartet, bei Remus Lupin und auch bei Tonks - beiden stand Sirius sehr nahe. Auch Molly Weasleys Angst um die Mitglieder ihrer Familie, welche dem Orden erst vor kurzem beitraten, war ihm bekannt und dennoch hatte er mit einer derart gereizten Stimmung nicht gerechnet.
Aus dem ersten Krieg gegen Voldemort wusste er, dass dieser erste Tod, der ein Mitglied aus den Armen der Gemeinschaft riss, immer besonders starke Gefühle auslöste und die älteren Mitglieder erinnerten sich sicherlich nur zu gut daran, wie es damals war, als ein Freund und Verbündeter nach dem anderen ausgelöscht wurde. Aber war das wirklich der Grund für die unterschwellige Panik, die sich hier wie schleichendes Gift ausbreitete?
„Tonks, hör auf, dich wie ein trotziges Kind zu benehmen!", raunzte eben Molly Weasley die junge Frau gegenüber an.
„Was heißt hier trotziges Kind? Nur weil ich der Überzeugung bin, dass wir keine Möglichkeit außer Acht lassen sollten, hat das ja wohl noch lange nichts mit kindisch zu tun."
„Nein, nur dass wir hier nicht von einer reellen Möglichkeit reden, sondern von deiner strickten Weigerung Sirius Tod zu akzeptieren. Er ist tot, Tonks! Du warst dabei! Du hast gesehen, wie er durch dieses Tor fiel", sagte nun Kingsley in beschwichtigenden Ton und legte seine Hand auf Tonks Arm.
Für einen kurzen Augenblick dachte Dumbledore, dass Tonks aufspringen wollte, doch das einzige, was geschah war, dass sie mit einer fahrigen Bewegung die aufsteigenden Tränen wegwischte und resignierend den Kopf schüttelte.
„Ihr versteht nicht, was ich sagen will…..", sagte sie leise und suchte hilflos Remus Blick, doch dieser starrte nur mit unbeweglicher Miene auf die Wand gegenüber, als hätte er von dem Gesprochenen nichts mitbekommen.
„Doch Mädchen, wir verstehen sehr gut", brummte Moody und blickte sie besorgt an. „Es tut immer weh, jemanden zu verlieren, den man sehr gern hatte."
„Darum geht es doch gar nicht!", widersprach Tonks energisch. „Mir geht es doch nur darum, Klarheit zu haben. Bemerkt ihr denn nicht, dass irgendetwas mit seinem Tod nicht stimmt? Über diesem alten Haus liegen starke Schutzzauber und auch wenn einige davon schon Jahrhunderte alt sind, so müssten sie trotzdem auf den Tod des letzten Familienmitglieds reagieren. Das tun sie aber nicht und ich frage mich warum?"
„Dafür gibt es doch eine ganz offensichtliche Erklärung: diese Zauber wurden eben nicht an das Blut der Blacks geknüpft!", warf nun Mundungus aufgebracht ein und fuchtelte ungeduldigen mit den Händen in der Luft.
„Kann sein", nickte Bill Weasley nachdenklich. „Dennoch ist es seltsam, dass eine Familie wie die Blacks, die seit Ewigkeiten nach der Reinhaltung des Blutes strebten und für die Traditionen einen so hohen Stellenwert hatten…."
„Nun fang du nicht auch noch damit an!", unterbrach ihn seine Mutter zornig, doch Bill fuhr unbeeindruckt fort.
„….nicht sicherstellte, dass ihr Familienerbe unter dem Schutz des Blutes stand."
„Na wenn ich das richtig sehe, dann ist ja gerade dies unser Glück, ansonsten hätte sich dieses alte Gemäuer vor ein paar Tagen in Luft aufgelöst, oder wäre auf andere Art zerstört worden", sagte Mundungus achselzuckend.
„Wäre es möglich, dass es noch einen Black gibt und wir nur nichts von der Existenz dieser Person wissen?", fragte nun Arthur Weasley zögernd, doch Moody schüttelte den Kopf.
„Nein, das haben wir bereits überprüft. Sirius war der letzte direkte Abkömmling seiner Familie."
„…und genau das ist doch der Punkt", ereiferte sich nun Tonks von neuem. „Wenn Sirius….."
„Schluss damit jetzt, Tonks!", schnitt Molly ihr energisch das Wort ab. „Keiner will hier das Andenken an Sirius schmälern, doch wir haben weitaus wichtigere Probleme, als über das merkwürdige Aufrechthalten der alten Zauber zu diskutieren."
„Molly hat Recht!", mischte sich nun erstmalig Remus Lupin in das Gespräch ein und Dumbledore war erschrocken, wie kraftlos und brüchig seine Stimme plötzlich klang. „Wir sollten darüber reden, wie wir mit Kreacher weiter verfahren, ob er nun ein Sicherheitsrisiko ist oder nicht. Und nicht zuletzt, sollten wir uns auch um Harry Gedanken machen."
„Ich hab ihn gestern im Garten seiner Verwandten gesehen, da wirkte er ziemlich normal. Etwas verdrießlich vielleicht, aber das ist er öfters bei der Gartenarbeit", sagte Mundungus gelangweilt und erntete dafür einen strafenden Blick von Molly Weasley.
„Na, sein letzter Brief war alles andere als normal", sagte sie mit einem bitteren Unterton in der Stimme.
„Was schreibt er Molly?", wandte sich nun Dumbledore mit ernstem Gesicht an die Weasleys, ohne jedoch Lupin aus den Augen zu lassen.
„Nicht viel, nur dass er es für keine gute Idee hält in den Fuchsbau zu kommen und seine Ruhe möchte."
„Keine weitere Erklärung?"
„Nein."
„Nun, den Besuch im Fuchsbau haben wir ja bereits diskutiert, es wäre zu gefährlich für Harry."
„Aber Albus, gerade jetzt sollte Harry nicht allein sein. Ich mache mir wirklich ernsthafte Sorgen um ihn. Der Junge braucht Liebe und Zuwendung, das Gefühl nicht allein zu sein und er braucht jemanden mit dem er reden kann."
„Da gebe ich dir durchaus Recht, Molly, doch ich bezweifle, dass Harry den Rest seiner Ferien hier im Grimmauld Place verbringen möchte", nickte Arthur Weasley und stieß resignierend die Luft aus.
„Aber einen anderen Ort, der nur annähernd so sicher ist, gibt es nicht", seufzte Moody und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ausgenommen vielleicht Hogwarts."
„Ich denke, Harry sollte Ende nächster Woche hierher kommen", sagte Dumbledore entschlossen. „Wir werden Miss Granger fragen, ob sie ebenfalls kommen möchte und euere Kinder sind sicherlich auch nicht abgeneigt, hier ein bisschen Radau zu machen. Harry hat bald Geburtstag und so ein kleines Fest…."
„Du tust ihm damit Gewalt an, und das weißt du", unterbrach ihn plötzlich Tonks leise. „Dieses Haus wird ihn schmerzhaft an Sirius erinnern."
„Glaubst du wirklich, dass es irgendeinen Ort auf dieser Welt gibt, der ihn nicht an Sirius erinnern würde?", antwortete ihr Dumbledore sanft und ein trauriges Lächeln huschte über seine alten Züge.
Tonks erwiderte nichts, nur ihre Augen füllten sich kurzfristig mit Tränen, ehe sie leicht den Kopf schüttelte und die Lippen zusammenkniff.
„Der Tod eines Menschen reißt immer Löcher in unsere Seele und je inniger diese Verbindung und die Liebe zu dem Verstorbenen war, desto größer der Schmerz und das Gefühl der Leere. Doch Wunden dieser Art können nur heilen, wenn man sich dem Schmerz stellt, ihm ins Auge sieht ohne zurückzuweichen. Jegliche Art der Verleugnung bewirkt nur, dass der Schmerz sich immer tiefer hineinbohrt und die daraus resultierende Pein wäre schlimmer, als die Trauer allein je sein könnte. Wie jeder andere von uns, so muss auch Harry lernen mit diesem Verlust zu leben…dies gehört zu unserem Menschsein."
Jeder der Anwesenden wusste, dass die Worte des alten Zauberers mehr waren, als eine Begründung warum Harry in Sirius Haus zurückkehren sollte. Einige Minuten lang sagte niemand etwas. Tonks hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und ihr Gesicht in den Händen vergraben, Lupins Gesicht war starr und ausdruckslos, als wäre er nur rein körperlich vorhanden und vielleicht war er das auch. Mad Eye Moody nickte traurig und klopfte Bill Weasley auf die Schulter, der aussah, als hätte man ihm soeben einen Schlag in den Magen verpasst. Molly und Arthur Weasley tauschten sorgenvolle Blicke und selbst die Maske aus Gleichgültigkeit, die Mundungus Fletcher die letzten Tage zur Schau gestellt hatte zerbröckelte und er blickte deprimiert zu Boden.
„Ich werde Harry einen Brief schreiben und ihm mitteilen, wann wir ihn abholen werden", durchbrach Dumbledore schließlich die drückende Stille. „Bis dahin haben wir noch einiges zu tun……….."
* * * * *
Zur selben Zeit im Ligusterweg.
Nach einer längeren Strafpredigt, die er während des Frühstücks kommentarlos über sich hatte ergehen lassen, stand Harry nun mit einem Besen in der Hand vor der Garage. „Möglicherweise sollten wir dich in eine Irrenanstalt einweisen…", klangen noch immer die Worte seines Onkels in ihm nach, während er unschlüssig den Unrat in der Garage betrachtete. Sein Onkel hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er für hysterisches Gebrüll in der Nacht, wie er es nannte, kein Verständnis hatte. Harry hatte nicht einmal versucht ihm zu erklären, dass dies durch einen Alptraum ausgelöst wurde, Vernon hätte es eh nicht verstanden.
„Ah hallo Harry!", erklang plötzlich die Stimme der alten Mrs. Figg hinter ihm. „Na bist du schon wieder fleißig?"
„Hallo Mrs. Figg", grüßte Harry und bemühte sich dabei ein möglichst freundliches und unbefangenes Gesicht zu zeigen. „Wie geht es ihnen?"
„Ja, ja ganz gut so. Du weißt ja wie das ist, wenn man alt wird." Dies hatte sie laut und fröhlich gesprochen, doch nun trat sie näher an ihn heran und sagte bedeutend leiser: „Und wie geht es dir, mein Junge?"
„Danke, es geht mir gut!", nickte Harry und versuchte den besorgten Blick der alten Nachbarin zu ignorieren.
„Offengestanden, siehst du aber nicht so aus", sagte sie leise, während sie unauffällig nach den Dursleys Ausschau hielt.
„Hab heute Nacht nur schlecht geschlafen, das ist alles", antwortete Harry und begann die unbenutzten Fahrräder der Dursleys vor das Garagentor zu schieben.
„Dumbledore hat mir erzählt was geschehen ist….", fuhr sie unbeirrt fort und als Harry ihr einen heimlichen Blick zuwarf, sah er dass in ihren Augen Tränen glitzerten.
„Es geht mir wirklich gut, sie müssen sich keine Sorgen machen!", sagte Harry vielleicht eine Spur zu hastig, als dass ihm die alte Frau dies geglaubt hätte. Doch noch ehe sie etwas erwidern konnten, wurde sie von Harrys Tante unterbrochen, die in diesen Moment aus dem Garten kam und mit einem süßlichen Lächeln auf die alte Nachbarin zuschritt.
„Oh, Hallo Mrs. Figg, ist ein schöner Tag heute, nicht wahr?"
„Na ein bisschen zu heiß für meinen Geschmack", nickte Mrs. Figg und Harry beeilte sich in der Garage zu verschwinden.
„Da haben sie Recht", hörte Harry noch Petunias säuselnde Stimmen, aber schon bald war sie mit der alten Frau aus seiner Hörweite verschwunden.
Eine halbe Stunde später kam Petunia Dursley zurück.
„Hier das ist eine Liste mit Dingen, die du der alten Mrs. Figg besorgen wirst!", sagte sie knapp und hielt Harry ein zusammengefaltetes Papier entgegen. „Ich habe ihr gesagt, dass du dies heute Nachmittag für sie einkaufen wirst."
„Muss das sein?", fragte Harry brummig, obwohl er die Antwort bereits kannte. Es war nicht der Einkauf an sich der ihn störte, aber er wusste, dass dies mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer der Nachbarin enden würde und genau darauf hatte er wirklich keine Lust.
„Ja muss es!", sagte Petunia bestimmt um jeden weiteren Widerspruch im Keim zu ersticken. „Sie ist alt und verdient eine gewisse Unterstützung, aber in deinen Kreisen ist dies wohl nicht üblich", fügte sie etwas leiser, dafür aber umso spitzer hinzu, ehe sie kehrt machte und im Haus verschwand.
Einen kurzen Augenblick flammte Zorn in Harry hoch und er musste sich sehr beherrschen, ihr nicht eine entsprechende Antwort hinterher zurufen, aber dieser innere Aufruhr währte nicht lange. Als hätte jemand einen Schalter in seinem Inneren umgelegt, schlug dieses Gefühl der Rebellion in Resignation um und eine lähmende Trauer ergriff Besitz von ihm.
„Könnt ihr mich nicht einfach alle in Frieden lassen?", flüsterte er und schloss für einige Sekunden die Augen. „Ich will doch nur meine Ruhe, warum ist das so schwer?"
* * * *
Am späten Nachmittag klingelte er, bestückt mit zwei vollen Einkaufstaschen, am Haus der alten Mrs. Figg. Allerdings war es nicht die alte Nachbarin die öffnete, sondern Mundungus Fletcher.
„Hi Harry, komm nur rein, die alte Figgy wird gleich zurück sein", sagte er und zog Harry mit einem breiten Grinsen ins Haus. „Sie wollte nur noch rasch Kuchen holen, der Tee ist schon fertig. Setz dich! Setz dich!"
Harry stellte die Taschen in der Küche ab und folgte ihm ins Wohnzimmer.
„Ich habe aber nicht viel Zeit", wollte Harry abwehren, doch noch ehe er sich versah hatte Mundungus ihn bereits auf das Sofa gedrückt.
„Ach Papperlapapp, für eine Tasse Tee ist immer Zeit. Nun erzähl mal, wie geht es dir denn? Behandeln dich deine Verwandten gut?"
„Danke es geht mir gut und auch die Dursleys sind zum aushalten", lächelte Harry matt und nahm die Teetasse, die der Zauberer ihm entgegenhielt.
„Na das ist ja schon mal was und die letzten paar Tage wirst du es sicher auch noch aushalten", nickte Mundungus und schaufelte sich genüsslich Zucker in seine Tasse, bis ihm der verwirrte Blick des Jungen auffiel und er verlegen die Schultern zuckte.
„Jetzt war ich wohl etwas voreilig…."
„Was heißt hier ein paar Tage?"
„Dumbledore will dir noch schreiben, wir holen dich Ende nächster Woche ab."
„Wohin?", fragte Harry panisch, der bereits vermutete welchen Aufenthaltsort sein Schulleiter bestimmt hatte.
„Grimmauld Place Nr. 12 würde ich sagen", erwiderte Fletcher vorsichtig und versuchte ein Lächeln, was ihm aber kläglich misslang.
„NEIN!"
Mit einem Satz war Harry auf den Beinen und wollte aus dem Wohnzimmer stürmen, als der Zauberer ihn am Arm festhielt.
„Harry, beruhige dich! Sieh mal……"
„Nein, ich werde ganz bestimmt nicht in dieses Haus gehen."
„Dumbledore meint….."
„Das ist mir egal was er meint! Ich gehe nicht dahin! NIEMALS!"
„Aber Harry….."
Mit einem gewaltigen Ruck riss Harry sich los, stürmte aus dem Haus, und sprang über die kleine Gartentür, ohne sich die Mühe zu machen diese zu öffnen. Am ganzen Körper bebend und mit wild klopfenden Herzen rannte er die Straße entlang und war wenige Augenblicke später aus dem Ligusterweg verschwunden………..
Fortsetzung folgt……..
