5. ein Muggel
Andrea schüttete lächelnd den Kopf, während sie sich zu dem Hund beugte und sanft über seinen Kopf strich.
„Du musst keine Angst vor ihm haben, er ist zwar ein bisschen groß, aber sehr lieb und sanft. Er saß schon die ganze Zeit über neben der Bank und ich dachte, dass du ihn bemerkt hast."
Noch immer schmunzelnd öffnete sie die Türen des Kleinwagens, als Harry einen Schritt auf den Hund zuging, auf die Knie sank und die Arme fest um den Hals des Tieres schlang. „Sirius", flüsterte er gegen das zottige Fell und konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen. Der Hund wich einen kurzen Moment zurück, ließ es aber trotzdem zu, dass Harry ihn fest an sich drückte und erst als seine raue Zunge über Harrys tränennasse Wangen fuhr, blickte dieser auf. Andrea hatte ihn schweigend, mit einem Ausdruck im Gesicht den er nicht deuten konnte, beobachtet und Harry war klar, dass sein Verhalten auf die Frau einen seltsamen Eindruck machen musste - dennoch war es ihm unmöglich etwas zu sagen oder zu erklären. Plötzlich kam er sich schrecklich albern vor, er wusste doch, dass Sirius tot war und wenn dieser Hund auch noch so sehr der Animagusgestalt seines Paten ähnelte, so war er dennoch nur ein ganz gewöhnlicher Hund.
„Schon gut, Harry, steig erst mal ein" sagte Andrea sanft und strich ihm über den Rücken. „Du auch Blacky!"
Mit einem Satz hatte der Hund Harry abgeschüttelt und sprang folgsam auf den Rücksitz. Noch immer benommen blieb Harry am Boden sitzen und blickte abwechselnd zwischen Andrea und ihrem Hund hin und her; als die junge Frau ihn jedoch am Arm packte, ließ er sich ohne Protest auf den Beifahrersitz schieben.
Ein dicker, undurchdringlicher Nebel schien ihn plötzlich eingehüllt zu haben, nur noch dumpf nahm er wahr, dass Andrea den Wagen startete und losfuhr. Die Tränen, die noch immer unaufhaltsam aus seinen Augen traten, verhinderten, dass er klar erkennen konnte wohin der Weg ging, doch das war ihm in diesem Moment auch egal. Der Anblick des Hundes hinter ihm, dessen leises Hecheln das einzige war, was an sein Ohr drang, löste ein zerrendes Gefühl in seinen Eingeweiden aus, von dem er nicht sagen konnte, ob es nun übergroßes Glück oder abgrundtiefer Schmerz war. Diese Erinnerung an Sirius hatte ihn härter getroffen, als jeder Faustschlag den er von Dudleys Bande einstecken musste und doch erzeugte diese vertraute Erscheinung auch etwas, das nicht unangenehm war, auch wenn er es nicht definieren konnte.
„Wir sind da!", drang von weiter Ferne Andreas Stimme an sein Ohr und er löste automatisch den Sicherheitsgurt, von dem er nicht einmal wusste, dass er ihn angelegt hatte. Erst als er langsam aus dem Wagen stieg, löste sich dieses seltsam, dumpfe Gefühl, das seinen Kopf zuvor in Watte gepackt hatte, auf und er konnte ein altes Wohnhaus erkennen, dessen Tür Andrea gerade aufsperrte.
„Na komm schon", sagte sie und hielt ihm die Tür auf.
Harry folgte ihr in einen altertümlich gefliesten, langen Hausflur, über dessen Reinlichkeitszustand seine Tante sicher die Nase gerümpft hätte. Schweigend stiegen sie die knarrenden Holzstiegen empor, bis sie im letzten Stockwerk endlich vor Andreas Wohnungstür anhielten.
„Ist ein bisschen chaotisch, doch ich denke, das wird dich nicht groß stören", schmunzelte sie und dirigierte ihn durch einen langen Korridor, der eher einer Gemäldegalerie glich, in einen großen Raum, den Harry als Wohnzimmer wahrnahm. Als er sich neugierig umblickte, sah er jedoch einen altertümlichen Herd mit einem Spülbecken daneben im hinteren Teil des Raumes stehen - Einrichtungsgegenstände, die ihm verrieten, dass dies anscheinend eine überaus gemütliche Wohnküche war. Gegenüber der Tür standen ein nostalgisches Sofa mit Spitzendeckchen und ein monströser Ohrensessel, vor dem ein ovaler Jugendstieltisch stand. Nicht weit daneben erblickte Harry einen Schreibtisch im gleichen Alter, auf dem einige Bücher, Schreibblöcke und mehrere hölzerne Schatullen in unterschiedlichen Größen aufgestapelt waren.
„Setz dich erst mal", forderte ihn Andrea auf, während sie nach einem Wasserkessel griff, um Wasser für Tee aufzusetzen. „Oder möchtest du dich erst mal waschen?"
Verwirrt von der seltsamen Atmosphäre die ihn hier warm und einladend empfing, nickte Harry nur, während sein Blick über das bis zur Decke hoch reichende Regal wanderte, auf dem fast so viele faszinierende Dinge standen, wie in Dumbledores Büro.
„Da lang", unterbrach sie seine Beobachtungen und deutete auf eine schmale Tür, die Harry bisher noch nicht bemerkt hatte. Ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit ergriff ihn, als er die Badezimmertür öffnete und einen kurzen Blick zurück in den Wohnraum warf, der so ganz anders war, als das Haus der Dursleys und wohl eher mit dem Fuchsbau verglichen werden konnte. Das Badezimmer zu betreten, war allerdings nicht weniger verwirrend und bildete einen so bizarren Kontrast zur Küche, dass Harry abrupt stehen blieb. Während der Teil von Andreas Wohnung, den Harry in der Kürze gesehen hatte, einem Relikt aus alter Zeit glich, war dies hier etwas völlig anderes. Das Bad war groß und geräumig, modern ausgestattet mit einer dreieckigen Badewanne in der Ecke, einer Toilette und dicken, flauschigen Badematten. An der Wand entlang standen verschiedene Topfpflanzen, darunter auch zwei Palmen und als sein Blick zur schräghochlaufenden Decke wanderte, bemerkte er, dass diese zur Hälfte aus Glas war und dem Raum einen Hauch von Wintergarten gab.
„Hier sind Handtücher und Seife", sagte Andrea und deutete auf das Regal neben dem Waschbecken. „Ich bring dir auch gleich noch ein sauberes T-Shirt, deines wirst du wohl nicht mehr verwenden können."
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Harry begann sich vorsichtig zu waschen.
„Magst du Spagetti oder wäre dir Fleisch mit Soße lieber?", hörte er nach einer Weile ihre Stimme durch die Tür.
„Spagetti sind OK!", antwortete er überrascht und seufzte innerlich auf. Es war bisher nicht oft vorgekommen, dass jemand sich nach seinen Essenswünschen erkundigt hatte; die Dursleys sowieso nicht, manchmal Mrs. Weasley und früher einmal die alte Mrs. Figg, als er an Dudleys Geburtstag bei ihr bleiben musste. Ein seltsames Gefühl, überlegte er - doch als er sich abtrocknete und sein Spiegelbild betrachtete, verschwanden diese Gedanken. Dudleys Bande hatte ihn ganz schön zugerichtet, sein Kinn war auf der rechten Seite tief lila und seine geplatzte Unterlippe war stark angeschwollen, am Brustkorb prangten ebenfalls ein Paar blaue Flecken und seine Hände und Ellbogen waren durch den Sturz auf den Schotterboden aufgeschürft und brannten höllisch. Missmutig wandte er sich ab und hoffte innerlich, dass Dudley mindestens genauso mitgenommen aussah.
„Möchtest du eine Tasse Tee?", erkundigte sich Andrea, die dabei war, Töpfe aus dem Schrank zu holen und auf den Herd zu stellen, als Harry aus dem Bad kam.
„Ja, gern", antwortete Harry und setzte sich an den kleinen Küchentisch, der unter dem Fenster stand.
„Das Essen wird noch ein bisschen dauern", erklärte Andrea und trug ein Tablett mit Teetassen, Milch und Zucker zum Tisch. „Doch ich möchte mir eh erst mal deine Schrammen ansehen."
„Sehr dekorativ", nickte sie nach einer Weile, als sie all seine Blessuren eingehend untersucht hatte. „Hast du stärkere Schmerzen im Bauch?"
„Nein, geht schon."
„Na gut. Lass noch mal dein Gesicht sehen", lächelte sie freundlich und hob vorsichtig sein Kinn an. „War ein mächtiger Schlag…" Sie brach kurz ab, als sie Harrys Haare aus der Stirn strich und ihr heiteres Gesicht wurde plötzlich ernst. „…der dich da getroffen hat", beendete sie ihren Satz und Harry wappnete sich darauf, dass sie nun sicherlich nach seiner Narbe fragen würde, doch sie tat es nicht. Stattdessen ging sie zum Schrank und holte einen kleinen Tiegel mit Salbe heraus.
„Das Zeug brennt im ersten Moment, doch nach ein paar Minuten wirst du merken, dass der Schmerz nachlässt und es dir besser geht", sagte sie zögernd und begann vorsichtig die grünliche Salbe aufzutragen.
„Das ist ein altes Familienrezept meiner Großtante, die war zwar ein bisschen verrückt, aber ihre Kräutermischungen sind einfach Spitze", erkläre sie gedankenversunken, während sie die Salbe vorsichtig auftrug.
„So das war´s!", nickte sie und reichte ihm ein schwarzes T-Shirt, das bereits über der Stuhllehne hing. Harry zog es über den Kopf und versuchte den brennenden Schmerz zu ignorieren, den die Salbe auf seiner Haut hinterließ.
„Es dauert wirklich nur ein paar Minuten, dann wird es angenehm kühl."
„Danke!"
„Schon gut", lächelte sie und wandte sich erneut ihren Kochtöpfen zu. Eine ganze Zeitlang schwiegen beide, was Harry die Möglichkeit gab, sich genauer umsehen zu können. Ihm fiel auf, wie ungewohnt doch die Einrichtung für eine Muggelwohnung war; überall auf dem Regal stapelten sich Bücher die sehr alt zu sein schienen; verschiedene, fremdartige Skulpturen und Porzellandosen, die an die Einrichtung einer Apotheke vor hundert Jahren erinnerten. Nur wenige Meter vom Regal entfernt, stand eine Kommode, mit verschiedenen Räucherschalen, kleinen Tongefäßen, und an der Wand darüber hing ein kunstvoll gearbeitetes Pentagramm. Durch dessen fünf Spitzen schlängelte sich eine Blumenranke, deren Blütenkelche eigenartige Formen hatten und Harry stark an magische Symbole erinnerte.
„Ein faszinierendes Teil, nicht wahr", schmunzelte Andrea, die offensichtlich seinem Blick gefolgt war. „Mein Großvater behauptete, dass es einige hundert Jahre alt ist und entsprechend wertvoll, aber ich mag es einfach, weil es mich an meine schrullige Großtante erinnert. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hing es bei ihr über der Haustür und sie ist jeden Tag auf einen Stuhl gestiegen, um das Teil mit einem Wolllappen abzuwischen. Ziemlich verrückt, wenn du mich fragst, doch sie hatte noch mehr so merkwürdige Eigenheiten. Trotzdem liebte ich sie sehr. In ihrer Nähe zu sein, hatte immer etwas sehr Beruhigendes und Tröstliches - fast so, als würde ihre Liebe jeden noch so kleinen Winkel des Hauses ausfüllen und alles Unheil fernhalten. Nach ihrem Tod gingen viele ihrer Sachen an mich über und manchmal hab ich fast das Gefühl, dass sie noch immer um mich herum ist und ihre Seele mich nach wie vor begleitet", erzählte Andrea verträumt, bis sie plötzlich den Kopf schüttelte und zu kichern anfing. „Oh weh, ich glaub ich kling schon genauso durchgeknallt wie meine Lieblingstante."
Als ein beruhigendes und tröstliches Gefühl, so hatte sie die Atmosphäre im Haus ihrer Großtante bezeichnet und genau das war es auch, was Harry hier in dieser Wohnung empfand. Seit er diesen Raum das erst mal betreten hatte, erschien es, als würde ganz langsam der Druck, die Angst und auch der Schmerz von ihm weichen, nur um einer angenehmen Wärme Platz zu machen.
„So, Essen ist fertig!", riss sie ihn unvermittelt aus seinen Gedanken und stellte die Teller auf den Tisch. Der Hund, der bis dahin friedlich auf seiner Decke neben der Tür gelegen hatte, sprang plötzlich auf und war im nächsten Augenblick an ihrer Seite.
„Ja du auch, Blacky!", lachte sie und stellte den gefüllten Futternapf auf den Boden.
„Das Wort Essen muss für ihn ein Kommandowort sein, ohne das er nichts frisst, anders herum ist es aber auch so, dass er ziemlich penetrant werden kann, wenn jemand Essen sagt und er bekommt nichts ab. Ich vermute, dass seine Vorbesitzer ihn darauf dressiert haben."
„Können sie die nicht fragen?"
„Leider nicht, ich hab Blacky, vor nicht allzu langer Zeit, verletzt im Wald gefunden und bisher konnte ich seine Besitzer nicht ausfindig machen. Als du ihn am Parkplatz Sirius genannt hast, dachte ich zuerst, er sei dein Hund, ….aber in diesem Fall hätte er wahrscheinlich anders reagiert. Was ist mit deinem…."
„Bitte nicht, ich möchte nicht darüber sprechen", unterbrach Harry sie leise und versuchte krampfhaft sich auf die Spagettis auf seinem Teller zu konzentrieren.
„Schon gut, das musst du auch nicht."
Sie setzten schweigend ihr Essen fort und Harry bemerkte Andreas zufriedenes Grinsen, als er seinen zweiten Teller leergeputzt hatte. Andrea räumte den Tisch ab und als Harry ihr helfen wollte schüttelte sie lächelnd den Kopf und schob ihn energisch Richtung Sofa.
„Du ruhst dich jetzt erst mal aus und sammelst Kräfte, denn wenn ich hiermit fertig bin, müssen wir darüber reden, was weiter geschehen soll."
Mit dem unangenehmen Gefühl in die Enge getrieben worden zu sein, setzte Harry sich auf das weiche Sofa und überlegte ob es für ihn überhaupt Alternativen gäbe, außer zu den Dursleys zurückzukehren. Draußen war es bereits stockfinster und er konnte fast davon ausgehen, dass wenn nicht die Dursleys, dann aber zumindest der Orden des Phönix ihn suchte, dies war aber gleichbedeutend damit, dass sie ihn sicherlich zum Grimmauld Place bringen wollten.
„So Harry, nun erzähl mal, was hast du dir überlegt?", begann Andrea, nachdem sie sich im Sessel neben ihm niedergelassen hatte.
„Ich weiß nicht", gestand Harry zögernd und kraulte Blacky, der in diesem Moment zu ihm aufs Sofa sprang und den Kopf auf seine Beine legte. „Wäre es möglich, dass…ich heute Nacht hier schlafen könnte?"
„Ich habe hier ein Gästezimmer, doch du kannst hier nur übernachten, wenn dein Onkel auch Bescheid weiß. Das heißt im Klartext, wir müssen ihn anrufen und…"
„Nein! Auf keinen Fall", stieß Harry betroffen aus und setzte an aufzuspringen, doch Andrea hielt in energisch an der Schulter fest.
„Langsam, langsam junger Freund, vorerst werden wir erst einmal reden. Du weiß, dass deine Verwandten sich bestimmt schon große Sorgen um dich machen."
„Die Dursleys bestimmt nicht, denen ist es egal wo ich bin, solang sie mich nicht sehen müssen", behauptete Harry stur, konnte aber nicht verhindern, dass Panik in seiner Stimme mitschwang.
„Kann es sein, dass du dich da in etwas hineinsteigerst?"
„Ich bin nicht hysterisch", brauste Harry so laut auf, dass Blacky erschrocken zusammenzuckte.
Andrea sah ihn lange nachdenklich an und Harry konnte fast sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, ehe sie mit einem tiefen Seufzer den Kopf schüttelte.
„Ich halte dich nicht für hysterisch, Harry, doch du hast Angst und ich verstehe nicht wovor. Sicherlich, dein Onkel wird wütend sein, zum einen weil du deinem Cousin auf die Nase geschlagen hast, zum anderen aber auch, weil du nicht nach Hause gekommen bist und er für dich verantwortlich ist."
„So einfach ist das nicht", seufzte Harry verzweifelt und wich ihrem Blick aus.
„Dann erklär es mir, Harry. Wovor hast du Angst?"
Harrys Hände krallten sich in die Sitzfläche des Sofas, dass seine Fingerknöchel weiß wurden und seine Arme zu zittern begannen. Er hatte keine Angst vor den Dursleys, diese konnten ihm nicht wirklich etwas antun; es war eher die Vorahnung, dass die Geschichte mit Dudley weitreichendere Konsequenzen haben würde, als einen riesigen Krach. Wenn sein Onkel beschloss ihn vor die Tür zu setzen, dann würde Dumbledore darauf bestehen, dass Harry den Rest seiner Ferien im Grimmauld Place verbrachte und genau das war der letzte Ort an dem er im Augenblick sein wollte. Die Vorstellung dieses alte, von Sirius so sehr gehasste Haus, wieder betreten zu müssen, sackte wie eine riesige Bleikugel in seinen Magen und er spürte wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Nein, er würde ganz sicher nicht dorthin zurückkehren.
„Na gut, dann eine andere Frage", unterbrach Andrea seine Gedanken. „Welchen Grund hatte der Streit mit deinem Cousin?"
„Da gibt es keinen richtigen Grund dafür, es liegt daran, dass Dudleys Bande sich einfach einen Spaß daraus macht, andere zu verprügeln und heute bin ich ihnen in die Finger geraten", antwortete Harry und fühlte die Wut, die diese Gedanken begleitete.
„Das heißt, sie machen das öfters, nur ist es dir heute nicht gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen?"
„So ungefähr", nickte Harry, während sein Blick starr an der gegenüberliegenden Wand haftete.
„Hm, ungefähr, heißt soviel wie, dass dies nur die halbe Geschichte ist."
„Ich habe erst gar nicht versucht ihnen aus dem Weg zu gehen", gestand Harry und sah verlegen zu Boden.
„Und warum nicht?"
„Das frag ich mich auch, ich war einfach wütend und….hab nicht mehr nachgedacht. Erst wollt ich ja auch weglaufen, doch…. als Dudley damit anfing…"
„Mit was anfing?"
„Ich hatte letzte Nacht einen Alptraum und er hat sich darüber lustig gemacht."
„Und da ist bei dir eine Sicherung durchgeknallt."
„So richtig erst, als Dudley sagte, dass er verstehen kann, warum er gegangen ist - mit mir will eh keiner was zu tun haben", antwortete Harry spontan, doch im nächsten Augenblick bereute er es und biss sich auf die Lippe, die dadurch erneut zu bluten begann.
„Wer ist da gestorben?", fragte Andrea behutsam und Harry konnte deutlich hören, dass nun auch ihre Stimme zitterte.
In seiner Hosentasche nach einem Taschentuch suchend, wich er ihrem Blick aus und wünschte, er könnte einfach aufspringen und weglaufen, aber genau das ging nicht, etwas hielt ihn mit aller Macht zurück. Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht wusste, wo er sonst hin sollte oder einfach auch die Wärme, die diese fremde Frau ausstrahlte und ihn wie eine sanfte Decke umgab. Er wusste, dass sie ihm nur helfen wollte, dennoch erschien es ihm unmöglich eine Antwort hervor zu bringen. Seine Kehle fühlte sich an, als stecke ein riesiger Kloß darin, der jedes Wort unmöglich machte. So beschränkte er sich darauf starr vor sich auf den Tisch zu blicken und zu hoffen, dass er die Gedanken an Sirius weit genug zurückdrängen konnte, damit er nicht erneut in Tränen ausbrach.
Andrea beobachtete ihn einige Zeit nachdenklich, bis sie schließlich tief seufzte und leise nickte: „Du bleibst heute Nacht hier, doch wir werden deinen Onkel anrufen und ihm Bescheid sagen müssen." Harry wollte ihr bereits widersprechen, als sie in beschwichtigenden Ton fortfuhr. „Allerdings verspreche ich dir, ihm nicht die Adresse zu geben. Bist du damit einverstanden?"
Harry nickte erleichtert. Er teilte ihr die Telefonnummer mit und kurz darauf hörte er sie im Nebenraum sprechen.
„Mein Name ist Andrea, ich bin eine Freundin ihres Neffen Harry…..", sagte sie freundlich, brach aber plötzlich ab, um kurz darauf wieder von neuem zu beginnen, diesmal allerdings bedeutend kühler.
„Ich wollte ihnen nur mitteilen, dass Harry hier…….lassen sie mich bitte erst mal ausreden!"
Harry konnte sich bildhaft die Reaktion seines Onkels vorstellen, gerade deshalb, weil Andrea sich als Freundin Harrys bezeichnet hatte. „Vielleicht hätte ich sie vorwarnen sollen", überlegte er, als ihm der Klang eines wütend auf die Gabel geknallten Telefonhörers, das Ende des Telefonats verriet.
„WAS FÜR EIN RIESENGROSSER IDIOT IST DAS DENN?", hörte er Andrea im Korridor fluchen und kurz darauf stand sie wutschnaubend in der Küche.
„Ich hätte nicht übel Lust, jetzt sofort auf der Stelle zu diesem aufgeblasenen, ignoranten Arsch zu fahren und ihm ordentlich die Meinung zu sagen! Der hat mich nicht mal ausreden lassen! Der bezeichnete mich als Abschaum; was bildet der sich eigentlich ein was er ist? Der Kaiser von China vielleicht? Was maßt sich dieser Widerling eigentlich an, hat der noch nie was von einem gewissen Maß an Benehmen gehört? Und was heißt hier überhaupt, dass es ihm scheißegal ist, wo du bist? Du lebst in seinem Haus, er ist für dein Wohlergehen verantwortlich. Er kann nicht einfach jeden niederbrüllen und als Pack bezeichnen, nur weil …."
Andrea verstummte, als sie das schwache Grinsen auf Harrys Gesicht bemerkte und schüttelte resignierend den Kopf.
„Na zumindest müssen wir uns keine Gedanken machen, dass er uns die Polizei auf den Hals hetzt, wenn du hier übernachtest."
„Wohl kaum", sagte Harry und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, gleichzeitig durchflutete ihn aber auch eine Welle unendlicher Erleichterung. Wenn es seinem Onkel egal war wo er sich aufhielt, dann bestand immer noch die Möglichkeit, dass auch die Mitglieder des Ordens nichts von seinem Verschwinden wussten. Demzufolge würden sie ihn auch nicht suchen und er hatte hier vorläufig seine Ruhe. „Es tut mir leid, dass mein Onkel…"
„Dir hat da gar nichts Leid zu tun Harry! Es ist das Benehmen deines Onkels über das ich mich aufrege, nicht über deines."
„Ich hätte Sie vorwarnen müssen. Sich als einen meiner Freunde zu bezeichnen, hat auf meinen Onkel ungefähr die Wirkung, als würden sie einem wütenden Stier ein rotes Tuch vor die Nase halten."
„Wieso dass denn?", fragte sie verwirrt und ließ sich mit einem noch immer grimmigen Gesichtsausdruck in den Sessel zurück fallen.
„Meine Tante und mein Onkel hassen alles, was nicht der herkömmlichen Norm entspricht und jede noch so kleine Abweichung ist ihnen zuwider."
„Und deine Freunde sind für sie abnormal, warum?"
„Weil sie…" Harry brach ab und überlegte krampfhaft, wie er dies beschreiben konnte, ohne ihr sagen zu müssen, dass seine Freunde der Zauberergemeinschaft angehörten. „Sie leben und denken einfach anders", versuchte es Harry, doch ein Blick in Andreas Gesicht zeigte deutlich, dass sie sich mit dieser Aussage nicht zufrieden gab.
„Gehören deine Freunde einer besonderen religiösen Gemeinschaft an?", sagte sie nach kurzem Zögern langsam, ihn dabei schärfer denn je beobachtend.
„So was Ähnliches!", antwortete Harry ausweichend, doch sie ließ nicht locker.
„Ist das was sie tun…illegal?"
„Nein! Das ist es nicht, auch wenn mein Onkel sie gern als Kriminelle bezeichnet. Sie tun nichts Verbotenes."
„Na gut", seufzte sie und rieb sich nachdenklich über die Stirn. „Sie gehören also keiner Sekte an, sind nicht in kriminelle Angelegenheiten verwickelt und trotzdem kannst du mir nichts über sie sagen. Hm, können wir mit ihnen Kontakt aufnehmen? Gibt es jemanden der…"
„Nein, das geht nicht…..zumindest nicht gleich. Bitte, ich muss mir selbst erst….noch über ein paar Sachen klar werden. Ich möchte jetzt nicht darüber reden."
Andrea sah ihn einige Sekunden unschlüssig an, bis sie schließlich schwer die Luft ausstieß und aufstand um frisches Teewasser aufzusetzen.
„Ich weiß nicht, in was du da verstrickt bist, Harry….aber bist du dir sicher, dass es deine Freunde gut mit dir meinen?"
„Ja natürlich, manchmal vielleicht sogar zu gut", seufzte er tief und als sie ihn mit einem forschenden Blick, der Dumbledore alle Ehre gemacht hätte, fixierte, wich er diesem aus und starrte seinerseits aus dem offenen Fenster, an dem soeben eine schwarzbraune Eule landete. Im ersten Moment hielt er sie für eine Posteule, doch sie trappelte nur am Fensterbrett entlang und schien keinen Brief bei sich zu tragen. Innerlich aufatmend folgte er der Eule mit den Augen, wenn auch nur um zu verhindern, dass er versehentlich in Andreas Richtung blickte und dabei Gefahr lief, sie zu weiteren Fragen zu animieren. Offensichtlich schien dies zu klappen, denn während er weiter das Auf- und abgehen des Vogels beobachtete, stellte sie schweigend Teetassen auf den Tisch und füllte das kochende Wasser in die Kanne.
„Manchmal tut es gut sich den Kummer von der Seele zu reden; doch das setzt natürlich voraus, dass man dem Anderen vertraut", begann sie nach einiger Zeit von neuem.
Harry stöhnte innerlich auf, doch noch ehe er ihr erklären konnte, dass er dieses Thema nun wirklich nicht weiter verfolgen wollte, klingelte es an der Wohnungstür und Harry zuckte fast so zusammen wie die Eule, die sich nun mit einem lauten Schrei in die Lüfte erhob.
„Wer kommt denn jetzt noch?", sagte Andrea ratlos und setzte die Kanne ab. „Blacky du bleibst bei Harry", befahl sie kurz, als der Hund ebenfalls aufsprang, sich aber auf ihre Aufforderung hin sofort wieder neben Harry setzte.
Mit einem kurzen Blick auf die Uhr trat Andrea in den Korridor und er hörte, wie sie kurz darauf die Wohnungstür öffnete. Harry schwante bereits Übles!!!!!
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Autornote: An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich für die vielen Rewievs bedanken, freut mich, dass euch meine Story gefällt!
Soviel positive Rückmeldungen sind ein ungeheuerer Ansporn schnell weiter zu schreiben!!! *ggg*
