15. Neue Ufer
Einen kurzen Augenblick lang glaubte Harry das Gesicht seines Paten in den weißen Rauchschwaden zu erkennen, doch er bemerkte rasch, dass dies ein Trugbild war, welches ihm seine Phantasie vorgaukelte. Auch wenn die Atmosphäre um sie herum zu vibrieren schien, der Geist von Sirius Black erschien nicht. Langsam ließ das Brodeln in der Silberschüssel nach und der Rauch lichtete sich zusehends. Einige Minuten saßen sie still und unbeweglich, offensichtlich wollten weder Ron noch Hermine das Ritual beenden. Während Ron noch immer starr in die Schale blickte, hatte Hermine den Kopf gesenkt, aber Harry sah dennoch die stummen Tränen auf ihre Wangen.
„Ich denke, das war´s", sagte Harry tonlos, erhob sich und steckte den Zauberstab in seine Tasche zurück.
„Bedeutet das nun, dass es nicht funktioniert hat, oder…dass Sirius nicht dort ist?", wagte Ron nach einiger Zeit die Frage zu stellen, die bisher unausgesprochen im Raum schwebte.
„Keine Ahnung!", seufzte Hermine und wischte verstohlen die Tränen aus ihrem Gesicht. „Wir haben leider keine Vergleichsmöglichkeiten."
„Hm", brummte Ron und beobachte, wie Harry wortlos die Kerzen löschte und aufzuräumen begann. In diesem Augenblick konnte er nicht erkennen, was wirklich in Harry vorging. Seine Bewegungen wirkten ruhig, schon fast gelassen, doch gleichzeitig spiegelten seinen Augen eine seltsame Entschlossenheit wider, als wäre Harry der einzige, für den dieses Ritual aufschlussreich gewesen wäre.
* * * *
Harry hatte in dieser Nacht kaum geschlafen. Immer wieder tauchten dieselben Fragen in seinem Kopf auf, vermischt mit der Stimme von Severus Snape, der ihm sagte, dass die Welt ohne Harrys Heldentum besser dran wäre. So sehr er sich auch darum bemühte, die Vorstellung, dass diese Worte auch nur die Spur einer Wahrheit enthielten, aus seinen Gedanken zu verbannen, es gelang ihm nicht. Gleichzeitig keimte aber auch ein seltsames Gefühl von Erleichterung mit auf, wenn die Welt ihn nicht brauchte, gab es auch keinen Grund, warum Harry sich Voldemort stellen sollte. Was wäre, wenn es ihn nicht gäbe? Seine Freunde wären keine Zielscheibe mehr für Voldemort, Hogwarts wäre für die dunkle Seite weit weniger interessant und Dumbledore würde sicher eine Möglichkeit finden, Voldemort zu vernichten. Selbst Remus Lupin hätte mehr Frieden, wenn er nicht ständig James lebendes Abbild vor Augen hätte. Hatte Voldemort irgendwie von seiner Beziehung zu Cho erfahren? Musste sie deshalb sterben? War auch das seine Schuld? Was bedeutet es zu sterben? Wie fühlt es sich an tot zu sein? Ist Sirius tot? Oder ist er nur hinter diesem Tor gefangen?
Es graute längst der Morgen, als Harry endlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Demzufolge war es bereits Vormittag als er endlich aufwachte und Rons Bett neben sich leer vor fand. Andreas Amulett lag noch auf seinem Nachttisch und erinnerte ihn unwillkürlich an Sirius und an die Gedanken der Nacht, die sich nun wieder langsam vom Rande seines Bewusstseins näherten. Energisch schüttelte er den Kopf und versuchte seine Konzentration auf das Anziehen zu beschränken, wobei sich sein knurrender Magen als durchaus hilfreich erwies.
Während Harry die Treppen zur Küche hinunterstieg, herrschte im Grimmauld Place eine gespenstische Ruhe. „Als befände sich das ganze Haus im Tiefschlaf", dachte er mit einem leichten Schauer. Zögernd öffnete er die Tür zur Küche und stellte erleichtert fest, dass Ron hier bereits auf ihn wartete.
„Morgen!", grüßte er mit vollem Mund und deutete auf den Platz gegenüber.
„Warum ist es so ruhig?", fragte Harry stirnrunzelnd, während sein Blick über den gedeckten Frühstückstisch schweifte.
„Fast alle ausgeflogen. Nur noch Silver, Tonks und wir beide sind im Haus", nuschelte Ron mit vollen Backen.
„Wo ist Hermine?"
„Sie ist mit Mum und Ginny einkaufen, meinten es könnte etwas länger dauern", erklärte Ron leichthin und hielt Harry einen Korb mit Toastbrot unter die Nase.
„Und Andrea?"
„Keine Ahnung, hab sie heute Morgen noch nicht gesehen."
Als sei dies das Stichwort gewesen, ging im selben Moment die Tür auf und Silver kam mit einer ziemlich verdrießlich schauenden Andrea herein.
„Guten Morgen, ihr Schlafmützen", sagte sie mit einem schiefen Lächeln und setzte sich zu ihnen. „Scheint so als wären wir heute die einzigen hier im Haus."
„Hermine ist mit Ginny und Mum einkaufen", nickte Ron und warf Silver einen vorsichten Blick zu, doch dieser war indessen mit Kaffee kochen beschäftigt.
„Ich weiß, hab sie heute Morgen schon getroffen", seufzte Andrea und fuhr sich müde über die Augen. „Sie geht für mich zum Postamt, damit wenigstens meine Arbeit termingerecht abgegeben wird."
„Scheint eine kurze Nacht gewesen zu sein, haben Sie so lange gearbeitet?", fragte Harry und versuchte seine Worte so unauffällig wie möglich zu wählen.
„Auch das", nickte Andrea, um Harry anzudeuten, dass sie wusste worauf er hinaus wollte. „Euer Direktor hat mich noch zu einem Gespräch gebeten."
„So spät noch?"
Andrea hielt einen Moment inne und warf Silver, der noch immer mit dem Rücken zu ihnen stand, einen abschätzenden Blick zu. „Verstoße ich gegen irgendeine besonders wichtige Direktive, wenn ich den Jungs erzähle, worum es ging?"
„Nein, sicher nicht", lächelte Silver, ihren provokanten Ton ignorierend und drehte sich zu ihnen um. „Ich denke an der Verschwiegenheit der Beiden wird niemand zweifeln."
„Vielen Dank!", erwiderte Andrea säuerlich und deutete eine leichte Verbeugung an, die selbst Harry ein leichtes Grinsen entlockte. „Nun, mein geschätzter Francesco Rasul und der nicht weniger geschätzte Professor Dumbledore sind übereingekommen, dass es für mich das Beste wäre, baldmöglichst in die Muggelwelt zurückzukehren. Man hat auch schon ein nettes Plätzchen für mich gefunden, eine helle, ruhige Zweizimmerwohnung in einem Apartmentkomplex mit 324 Einheiten, damit ich mich nicht zu einsam fühle."
„Sie reagieren, als würde man Sie in die Verbannung schicken", seufzte Silver mit einem nachsichtigen Lächeln und stellte ihr eine Kaffeetasse vor die Nase.
„Nein, ich reagiere so, als würde man mich wie einen unzurechnungsfähigen Trottel behandeln, der nicht weiß, was für ihn das Beste ist", gab Andrea gereizt zurück.
„Niemand möchte Sie hier bevormunden. Es tut mir leid, wenn Sie dies so empfinden."
„Ach, das ist mir neu", erwiderte sie zynisch. „Dann habe ich sicher überhört, als mich jemand gefragt hat, was ich persönlich möchte."
„Ich denke, das war auch nicht nötig, Sie haben laut und deutlich ihren Standpunkt vertreten", sagte Silver mit dem Anflug eines Schmunzelns, was Andreas Zorn nur noch steigerte.
„Und was ist mit dem Haus Ihrer Urgroßeltern?", bohrte nun Harry nach, wobei er die Antwort schon vermutete.
„Vorläufig nichts! Es wird so bleiben wie bisher", antworte sie zweideutig, doch Harry und Ron verstanden sehr wohl, was sie ihnen damit sagen wollte.
„Sie sollten wirklich über Dumbledores Angebot nachdenken", seufzte Silver und sah sie eindringlich an. „Er möchte Ihnen nichts wegnehmen, er möchte Ihnen helfen."
„Ja, aber nur wenn ich auf seine Bedingungen eingehe und mich von dem Haus fernhalte."
„Es ist zu gefährlich! Warum wollen Sie ein unnötiges Risiko eingehen?"
Andrea schien einen Augenblick zu überlegen, ob sie Silver nochmals ihre Gründe nennen wollte, doch dann schüttelte sie niedergeschlagen den Kopf und schwieg.
„Und wenn Sie sich weigern?", fragte Ron vorsichtig, dem klar war, dass Andrea sicher nicht so schnell auf Dumbledores Vorschlag eingehen würde.
„Dies scheint niemand ernsthaft in Erwägung zu ziehen", antwortete sie mit einem Schulterzucken. „Doch macht euch darum keine Gedanken, es ist mein Problem und ich werde damit auf meine Art zurecht kommen."
Damit war das Thema vorläufig beendet und weder Ron noch Harry hielten es für ratsam, in Silvers Anwesenheit weitere Fragen zu stellen. Das Gespräch begann sich um Belanglosigkeiten zu drehen und Harry fiel erneut in seine Grübelei zurück. Selbst als wenig später Remus Lupin und Kingsley eintrafen, nahm er dies nur am Rande wahr. Seine Gedanken kreisten so sehr um den vergangenen Abend, dass ihn erst Rons Klaps gegen die Schulter aufsehen ließ.
„Was hältst du davon, spielen wir eine Runde Zaubererschach?"
Harry nickte eher mechanisch und folgte Ron nach oben. Sie hatten gerade die erste Etage erreicht, als Andrea sie eingeholt hatte.
„Hermine hat mir von gestern erzählt", begann sie vorsichtig und warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand zuhören konnte. „Tut mir leid, dass es nicht geklappt hat."
„Ich habe damit gerechnet", nickte Harry und starrte zu Boden. „Ich komm schon klar damit."
„Früher oder später wirst du das", seufzte Andrea verstehend und drückte kurz seine Schulter.
Dankbar, dass sie ihn nicht weiter drängte, sah er ihr nach, wie sie mit eiligen Schritten in ihrem Zimmer verschwand. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er ihr folgen sollte, schließlich hatte er noch immer ihr Amulett in der Tasche, entschied sich jedoch es sein zu lassen. Andrea sah wirklich nicht so aus, als ob sie den Kopf für Gespräche frei hatte. Vielleicht war ja auch ein Schachspiel mit Ron wirklich das, was ihn auf andere Gedanken brachte,
* * * *
Am Nachmittag kehrte langsam die gewohnte Betriebsamkeit zurück. Mrs. Weasley, Ginny und Hermine, trafen mit Einkäufen beladen wieder ein und nach dem Abendessen kam Mundungus Fletcher mit Nachricht von Dumbledore. Harry begegnete ihm, als er auf dem Weg zu Andrea war und Fletcher mit eiligen Schritten Silver ins Schreibzimmer folgte. Was auch immer los war, es musste wichtig sein, wenn sogar der sonst eher gelangweilt wirkende Mann, einen derart hektischen Eindruck machte. Einen Augenblick lang sah Harry den beiden Männern nach, verkniff sich dann aber doch eine diesbezügliche Frage und steuerte Andreas Zimmer an.
„Ich wollte Ihnen die beiden Amulette zurückbringen", sagte Harry, nachdem ihn Andrea eingelassen hatte.
„Leg sie einfach auf den Tisch", nickte sie und rollte weiter das Computerkabel auf, das sie in der Hand hielt.
„Danke, dass wir die Anhänger benutzen durften", sagte Harry leise und legte die beiden Schmuckstücke auf den Tisch, auf dem noch immer die beiden Bücher vom Vortag lagen.
„Ich wünschte, sie wären nützlicher gewesen."
Harry nickte und beobachte Andrea, wie sie Tastatur und Maus vom Computer abstöpselte und plötzlich begriff er. Ein rascher Blick durch das Zimmer bestätigte seine Meinung; Andrea packte. Sie war im Begriff den Grimmauld Place zu verlassen.
„Wohin werden Sie gehen?", fragte er leise, konnte aber nicht verhindern, dass seine Stimme zu zittern begann.
Andrea hielt kurz in der Bewegung inne, ehe sie sich vom Schreibtisch abwandte und einen tiefen Atemzug machte.
„Nach Hause", sagte sie fest, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, das Richtige zu tun.
„Sie haben Dumbledores Vorschlag abgelehnt?"
„Das habe ich gestern Nacht schon getan, auch wenn dies offensichtlich niemand ernst nahm. Ich habe nicht vor diese Diskussion noch einmal zu führen", sagte sie entschlossen, auch wenn sich ein Ausdruck von Trauer auf ihr Gesicht legte. „Heute Nacht werde ich das durchziehen, was ich schon vor längerer Zeit hätte tun sollen."
„Das heißt, wir werden uns wohl nicht wiedersehen." Harry schluckte schwer, nicht verstehend, warum ihn dieser Gedanke plötzlich schmerzte. „Ich wünsche Ihnen viel Glück."
Harry wollte sich gerade zum Gehen abwenden, als Andrea ihn zurückhielt. „Harry, warte, da gibt es noch etwas..."
Mit einem traurigen Lächeln ging sie auf den Tisch zu und nahm die Kette mit dem Schutzamulett in die Hand. Für einen kurzen Moment strich sie mit einer beinahe zärtlichen Bewegung darüber, ehe sie entschlossen auf Harry zuging und es in seine Hand legte.
„Diese Kette hier, gehörte einst meiner Urgroßmutter und der Anhänger ist, laut ihren eigenen Aufzeichnungen, eines der stärksten Amulette, die je erschaffen wurden. Es wird kein Schild gegen den Todesfluch sein, doch soll es die Fähigkeit besitzen, seinen Träger vor schwarzer Magie jeglicher Form zu schützen." Andrea machte eine kurze Pause um tief durchzuatmen. „Ich bitte dich, es für mich zu tragen."
„Das kann ich nicht annehmen", sagte Harry entsetzt. „Es ist viel zu kostbar um es zu verschenken."
„Ich hatte nicht vor es dir zu schenken", entgegnete sie mit einem leichten Kopfschütteln. „Ich möchte, dass du es für mich verwahrst, bis wir uns eines Tages wieder sehen und du es mir zurückgibst."
„Ich soll es für Sie aufheben?", fragte Harry verständnislos. „Warum?"
„Weil man Kostbarkeiten manchmal auf ungewöhnliche Weise schützen muss", lächelte sie hintergründig. „Ich vertraue dir, Harry und weiß, dass es bei dir besser aufgehoben ist als bei mir. Bitte trag es immer am Körper und zeig es nach Möglichkeit niemanden."
Von dieser ungewöhnlichen Bitte überrumpelt, nickte Harry, legte die Kette um den Hals und ließ sie unter sein Sweatshirt gleiten. Das glatte Metall berührte seine Brust, doch es fühlte sich seltsamerweise nicht kalt an.
„Andrea, ich versteh nicht…"
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Harry und als Andrea öffnete, stand Remus Lupin mit einem Tablett in der Hand davor.
„Stör ich?", fragte er zögernd als er Harry erblickte, doch Andrea schüttelte den Kopf.
„Nein, kommen Sie ruhig rein."
„Nachdem Sie nicht beim Abendessen waren, dachte ich….eine kleine Stärkung würde Ihnen gut tun." Mit einem Schmunzeln stellte er eine Kanne Tee und eine Platte mit belegten Broten auf dem Tisch ab.
„Das ist sehr nett...", nickte Andrea mit einem verlegenen Lächeln und griff zögernd nach einem Brot, während Remus ihr Tee einschenkte.
Harry wollte sich gerade verabschieden, als Remus nach dem alten Buch mit den handschriftlichen Aufzeichnungen von Andreas Urgroßmutter griff. Er schlug es nicht auf, aber das schien auch nicht nötig zu sein, denn als sein Blick das zweite Buch und das Schlangenschild musterte, flackerte Erkenntnis in seinen Augen auf. Sein Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske, als er es behutsam auf den Tisch zurücklegte und sich kurz in dem Gästezimmer umsah.
„Harry, würdest du mich bitte mit Andrea alleine lassen?", sagte er ruhig, aber Harry konnte die Anspannung in seiner Stimme trotzdem wahrnehmen.
„Natürlich." Mit einem unsicheren Blick auf Andrea, die ihm beruhigend zunickte, verließ er eilig das Zimmer. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, das Remus mehr erkannt hatte, als Andrea lieb war.
„Sie haben also einen Portschlüssel, der Sie in dieses alte Haus bringt", sagte Lupin ohne Umschweife, nachdem Harry die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Andrea schnappte unwillkürlich nach Luft; sie hatte erwartete, dass Remus Lupin ihr wegen des Buches Fragen stellen würde, doch diese Aussage stieß sie unvermittelt vor den Kopf.
„Wie kommen Sie darauf?", fragte sie daher nach Fassung ringend und ließ sich in den Sessel fallen, als würden sie ihre Beine nicht länger tragen.
„Ich kann eins und eins zusammenzählen", antwortete er knapp und nahm neben ihr Platz.
„Wie meinen Sie das?" Die Hand, in der sie immer noch das belegte Brot hielt begann zu zittern und Andrea legte es hastig auf die Platte zurück.
„Dieses Buch hier", seufzte Remus und tippte mit dem Finger kurz auf den Ledereinband. „Es ist ein sehr außergewöhnliches Stück und es befand sich nicht in Ihrer Wohnung, als wir Ihre Sachen verkleinert und in die Kiste getan haben."
Andrea antwortete ihm nicht darauf, auch wenn sie für einen kurzen Augenblick versucht war, es einfach zu leugnen, so gab es doch etwas an Lupins Art, das sie davon abhielt. Seine Augen waren unverwandt auf sie gerichtet und es schien unmöglich ihnen etwas zu verheimlichen. Als sie beharrlich schwieg, atmete er tief ein und zog die Stirn in Falten.
„Nachdem Sie den Grimmauld Place nicht auf herkömmliche Art verlassen haben und Sie nicht apparieren können, liegt der Schluss nahe, dass Sie einen Portschlüssel benutzt haben. Allerdings muss dieser von besonderer Art sein, einer, der nicht mit einem gewöhnlichen Zauber aktiviert wird, sondern eine sehr alte Macht nutzt. Ich weiß nicht was Sie wirklich vorhaben, Andrea, und sicherlich geht es mich auch nichts an. Dennoch möchte ich Sie warnen, Sie benutzen hier uralte Magie und ich bezweifle, dass Sie wissen worauf Sie sich da einlassen."
„Das sind Spekulationen, Mr. Lupin", sagte sie leise, wich jedoch seinem Blick aus.
„Wirklich?" Mit einer raschen Bewegung griff er nach ihren Händen und drehte die Handflächen nach oben. Andrea war so überrascht davon, dass sie sich nicht dagegen wehrte und ihn nur verdutzt ansah.
„Genau wie ich vermutet habe", nickte er und deutete auf die zwei kleinen unbedeutende Schnitte an ihrer linken Handinnenfläche. „Ein Portschlüssel, der sich dadurch aktiviert, dass er mit dem Blut einer bestimmten Person in Kontakt kommt. Vermutlich wurde er erschaffen, um in Extremsituationen jemanden in Sicherheit zu bringen. Da dieser Portschlüssel Sie zum Haus ihrer Urgroßeltern bringt, denke ich weiter, dass er nur von Familienmitgliedern benutzt werden kann."
Andreas Magen sackte ein Stück tiefer, während sie unschlüssig von ihrer Hand, die Remus noch immer festhielt, zu seinen Augen aufsah.
„Sie sind beängstigend logisch", seufzte sie und wollte ihm die Hand entziehen, doch er hielt sie unnachgiebig fest.
„Werden Sie mir erzählen, was Sie wirklich vorhaben?", fragte er leise, während seine sanfte Stimme im starken Kontrast zu seinem festen Griff stand.
„Werden Sie mich verraten?", antwortete sie mit einer Gegenfragen und biss sich auf die Unterlippe.
„Ich weiß nicht", gestand er zögernd und gab ihre Hand frei. „Sie sind eine erwachsene Frau, Andrea und ich habe nicht das Recht Ihnen Vorschriften zu machen. Gleichzeitig werde ich aber nicht zulassen, dass Sie durch unüberlegtes Handeln jemanden in Gefahr bringen, indem Sie Kräfte heraufbeschwören, die Sie selbst nicht kontrollieren können."
„Sie trauen mir viel zu", stöhnte sie auf und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich bin ein Muggel, selbst wenn ich wollte, könnte ich diese alten Kräfte nicht benutzen."
„Sie haben bereits damit begonnen, Sie nutzen diesen Portschlüssel."
„Er bewirkt nichts weiter, als dass er mich von jedem beliebigen Ort aus nach Hause transportiert und im Bedarfsfall genau an den Ausgangspunkt wieder zurück bringt."
„Und die Bücher hier? Wollen Sie mir erzählen, dass diese nur eine Lektüre für Sie darstellen", sagte Remus und sah sie schon fast amüsiert an.
„Ich suche nach Antworten", gestand sie. „Antworten die mir sonst keiner geben kann oder will."
„Wäre es dann nicht naheliegend mit Rasul zu reden?"
„Sie scherzen! Vermutlich ist er der letzte Mensch, der mir diesbezügliche Antworten geben würde. Sie haben ihn gestern Nacht selbst gehört, er hat nur ein wirkliches Ziel, nämlich mich in die Muggelwelt zurückzubringen."
„Er liebt Sie sehr und möchte Sie in Sicherheit wissen."
„Das weiß ich, doch jemanden zu lieben beinhaltet auch, ihm die Freiheit von Entscheidungen zu lassen", sagte Andrea mit belegter Stimme. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war Francesco immer wie ein Vater zu mir, manchmal liebevoller und führsorglicher als mein eigener Vater." Andrea seufzte tief, und sah ihn unschlüssig an, als könnte sie sich nicht entschließen, wie viel sie ihm erzählen wollte oder konnte.
„Als ich noch klein war, erzählte er mir Gute-Nacht-Geschichten, er spielte mit mir im Wald Verstecken und er war es auch, der mich das erste Mal auf seinem Besen mitfliegen ließ. Ich erinnere mich an viele Situationen, in denen er mich vor meinen Eltern in Schutz nahm, wenn ich mal wieder etwas angestellt hatte. Er war für mich immer mehr, als nur mein Patenonkel, er war mein Freund und Verbündeter. Ich konnte ihm alles anvertrauen, selbst Geheimnisse, die heranwachsende Mädchen für gewöhnlich nur mit ihrer besten Freundin teilen.
Dann wurden meine Eltern ermordet und alles änderte sich. Francesco wich die ersten Wochen kaum von meiner Seite, doch die spielerische Leichtigkeit war verschwunden. Sein Denken war nur noch darauf ausgerichtet, mein Leben zu schützen, unabhängig von dem, was ich selber wollte. Er brachte mich in eine fremde Stadt, in der ich niemanden kannte. Meine Identität wurde so weit verändert, dass ich manchmal selbst nicht mehr wusste wer ich war. Alles nur um mich zu schützen, doch manchmal fragte ich mich, wer mich vor dieser Fürsorge schützen konnte.
In meiner Kindheit gab es keine Grenze zwischen der Zaubererwelt und der Welt der Muggel; die Magie war immer allgegenwärtig und für Muggel und Zauberer gleichermaßen real vorhanden. Doch in dieser neuen Welt war plötzlich alles anders. Nicht nur, dass es hier keine Magie mehr gab, sondern sie wurde auch verleugnet. Wenn ich darüber sprach, hat man mich belächelt oder als verrückt abgestempelt. Plötzlich fiel es mir schwer Freunde zu finden und wenn, dann musste ich sehr darauf bedacht sein, nichts von meiner Vergangenheit zu erzählen. Francesco brachte mich in eine Welt, in die ich nicht gehörte und die der wirklichen Andrea feindlich gegenüberstand. Ich lernte mich anzupassen, doch ich vermisste meine Freunde und meine Familie, auch als Francesco einige Monate später in meine Nähe zog, änderte sich das nicht.
Mein einziger Kontakt zur Zaubererwelt, bestand in der Verbindung zu meiner Großtante, die mich trotz Francescos Widerspruch regelmäßig besuchte. Eine ganze Zeit lang war es meine Hoffnung, mit Erreichung meiner Volljährigkeit zu ihr ziehen zu können, doch dann starb auch sie und das einzige was mir blieb, waren einige Möbelstücke und mehrere Kisten mit seltsamen Inhalt, die sie mir vererbt hatte."
Andrea kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück, als sie an die liebenswerte, alte Frau dachte, die jeden Sonntagnachmittag zur selben Zeit, wie aus dem Nichts, an ihrem gedeckten Kaffeetisch erschien.
„Die ersten Jahre, rührte ich diesen Nachlass nicht an. Ich hatte damals das Gefühl, mit meiner Tante auch den letzten Rest meiner Vergangenheit verloren zu haben und wollte diese schmerzlichen Erinnerungen soweit wie möglich verdrängen. Die Kisten und Möbel standen jahrelang unberührt in einer Kammer, bis eines Tages meine Waschmaschine auslief und das Wasser auch den Boden jener Kammer überflutete. Die am Boden stehenden Kisten wurden nass und so sah ich mich genötigt, die durchweichten Kartons auszuräumen. Tja, und damit begann es eigentlich. In den Kisten befanden sich alte Zauberbücher, viele von Hand geschriebene Notizen und mehrere magische Amulette. Ich fand auch eine Kassette mit alten Briefen und als ich sie durchlas, stellte ich fest, dass dies der Briefwechsel zwischen meiner Tante und meiner Urgroßmutter war. Diese Korrespondenz war mehr als nur aufschlussreich, sie ermöglichten mir endlich den Einblick in meine Familiengeschichte, welchen Francesco mir immer verwehrt hatte.
Nun damit war meine Neugier geweckt und ich begann Nachforschungen zu betreiben. Anfänglich schien es ein fast aussichtsloses Unterfangen zu sein, doch irgendwann ist es dann geschehen; ich kratzte mich versehentlich an einem Amulett und aktivierte damit den Portschlüssel, der mich direkt in das alte Haus meiner Urgroßeltern brachte."
„Und damit standen Ihnen nun Tür und Tor offen", sagte Remus und ein verstehendes Lächeln glitt über sein Gesicht, was jedoch nicht den Ausdruck der Besorgnis verdrängte.
„Nicht ganz, doch es erleichterte mir den Zugang zu gewissen Informationen", seufzte sie schwer und plötzlich rannen die Tränen ungehindert ihre Wangen hinab. „Ich habe immer gehofft, dass Francesco mir eines Tages helfen würde, diese Mysterien zu erforschen, doch Sie haben seine Reaktion darauf erlebt. Er wird seine Meinung nicht ändern."
„So haben Sie beschlossen, dieses Mysterium alleine zu erforschen, ohne…"
„Nein!", unterbrach Andrea ihn eindringlich. „Nein, darum geht es nicht. Natürlich ist es reizvoll die Rätsel der alten Zeit zu ergründen, doch das ist nicht der Grund warum ich dorthin möchte." Andrea schluckte heftig, ehe sie den Blick hob und ihn direkt in die Augen sah. „Ich möchte nach Hause, Remus! Ich möchte dorthin zurückkehren, wo ich das sein kann, was ich wirklich bin. Ich möchte den Schutz dieser alten Mauern um mich spüren, möchte wissen, dass ich vor demselben Kamin sitze, vor dem sich auch meine Ahnen schon niederließen, möchte auf der Veranda stehen und die Abendsonne genießen, wie meine Urgroßmutter es auch früher tat. Ich möchte endlich nach all den Jahren wieder frei sein! Können sie das verstehen, Remus?"
„Ja. Ich kann sie sogar sehr gut verstehen", seufzte Remus und wischte gedankenversunken eine ihrer Tränen fort, die sich über ihre Wange einen Weg nach unten suchte. Als würde er sich dieser zärtlichen Berührung erst im Nachhinein bewusst werden, zog er erschrocken seine Hand zurück und schüttelte ungläubig den Kopf, ehe er sie erneut ernst ansah. „Trotzdem sollten sie nicht allein gehen. Es wäre wichtig gewisse Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und …" Er brach ab, als Andrea die Augen verdrehte.
„Soll das heißen, Sie wollen mich begleiten?", fragte sie in einem Ton, der durchaus zeigte, dass sie diese Frage nicht ernst meinte.
„Würden Sie mich mitnehmen?", kam prompt die Gegenfrage.
„Sie…Sie meinen das nicht im Ernst?" Für einige Sekunden starrte sie fassungslos in seine ruhigen Gesichtszüge, doch seine Mimik hatte sich nicht verändert.
„Ich denke nicht, dass dies der geeignete Augenblick wäre, um mit Ihnen Scherze zu treiben. Außerdem werden Sie Hilfe brauchen, um Ihren Hausrat wieder in die Originalgröße zu bringen."
„Dumbledore würde Ihnen den Kopf abreißen! Sein Standpunkt war mehr als deutlich!", stieß Andrea kurzatmig hervor.
„Ich werde meinen Kopf zu hüten wissen", lächelte er mit einem ungezwungenen Schulterzucken, als handle es sich um eine Lappalie, der Anweisung des alten Schulleiters bewusst entgegenzuarbeiten.
„Warum tun Sie das, Remus?", fragte sie irritiert, konnte aber das Gefühl der Erleichterung nicht leugnen, dass sich langsam in ihr breit machte.
„Sagen wir mal so, es gab in der Vergangenheit Fehler, die ich nicht wiederholen möchte." Ein dunkler Schatten legte sich plötzlich über sein Gesicht und für einen kurzen Augenblick, sah Andrea den Schmerz der Erinnerung, der dieses Thema berührte, doch Sekunden später war er wieder verschwunden.
Einige Minuten schwiegen sie beide, jeder tief in seine eigenen Gedanken versunken, bis Remus schließlich tief einatmete und sie mit einem zögernden Lächeln ansah.
„Ich würde Ihnen immer nur stundenweise zur Seite stehen können, doch wenn Sie meine Hilfe möchten…."
„Ich werde Ihre Hilfe gerne annehmen", nickte sie erleichtert, während sie mit einem verlegenen Lächeln zu Boden sah. „Es gibt dort einige Räume, die ich bisher noch nicht betreten habe, weil….sie mir Angst machten und ich bin froh…wenn ich dies nicht allein tun muss."
„Nun wir werden sehen", sagte Remus mit einem aufmunternden Lächeln. „Wann wollten Sie aufbrechen?"
„Eigentlich heute Nacht noch. Ich habe bereits einen Brief an Francesco geschrieben, der ihm erklärt wo ich bin."
„In Ordnung", sagte er entschlossen und zog seinen Zauberstab. „Dann lassen Sie uns mal dafür sorgen, dass Ihre Sachen eine praktische Transportgröße haben."
Bereits nach wenigen Minuten, waren Andreas Habseligkeiten im Karton verstaut und sie hielt nur noch das Pentagramm fest in der Hand.
„Sind Sie sicher, dass der Portschlüssel uns beide transportiert?", fragte Remus und deutete auf das Artefakt in ihren Händen.
„Ich denke schon", sagte sie nachdenklich; offensichtlich hatte sie über diesen Punkt noch gar nicht nachgedacht.
„Wobei dies nicht der Portschlüssel ist", füge sie mit einem leichten Grinsen hinzu. „Dies ist nur ein Teil, dass… nun wie soll ich sagen? Es ist eine Art Schutzamulett. In den alten Aufzeichnungen stand, dass es als Muggel ratsam ist, es im Haus zu tragen, bis man sich mit den Gegebenheiten vertraut gemacht hat."
Andrea legte es in seine ausgestreckte Hand und er betrachtete es eingehend. Mit einer Mischung aus Unglauben und Verblüffung stieß er die Luft aus und sah sie groß an.
„Wissen Sie was das ist?"
„Ein Drudenfuß", nickte sie. „Laut meinem Großvater ist dieses Teil schon ziemlich alt.
„Dies ist kein gewöhnlicher Drudenfuß", sagte Lupin und betrachtete noch immer fasziniert das Pentagramm. „Wenn ich mich nicht sehr täusche, dann ist das ein Salomonschild."
„Ja, ich weiß. Es soll vor schwarzer Magie schützen."
„Vermutlich nicht nur das", murmelte Lupin gedankenversunken und gab ihr das Pentagramm zurück.
Für einen Augenblick überlegte Andrea, ob sie ihn um eine genauere Erklärung bitten sollte, doch dann verwarf sie diesen Gedanken. Da Remus sich bereit erklärt hatte ihr zu helfen, würde sie sicher in nächster Zeit eine passendere Gelegenheit finden. Statt weitere Fragen zu stellen, fuhr sie mit dem Finger unter den Kragen ihrer Bluse und zog ein Goldkettchen hervor, an dem ein kleines, etwa drei Zentimeter langes Schwert baumelte. Eine feingearbeitete Schlange wand sich an der Klinge dieses Miniaturschwertes zu dessen Griff hoch.
„Dies hier ist der Portschlüssel", sagte sie leise und trat näher an ihn heran, damit er den Anhänger besser sehen konnte. „Diese Schlange lässt sich ein kleines Stück nach oben schieben und entblößt somit die Spitze. Aber Vorsicht, sie ist scharf wie eine Rasierklinge."
„Perfekt getarnt", sagte er anerkennend. „Wenn jemand die Kette so sieht, würde er nicht vermuten, was sich wirklich dahinter verbirgt."
„Das ist ja auch Sinn und Zweck der Sache", schmunzelte sie und zog den Karton neben sich heran. „Würden sie den bitte nehmen?"
Lupin klemmte sich den Karton unter den Arm und atmete tief durch. "Nun, dann auf zu neuen Ufern."
Andrea steckte das Salomonschild in ihren Hosenbund und griff nach seiner freien Hand, während ihre Finger den Anhänger umschlossen. Im gleichen Moment fühlte Remus ein Reißen hinter seinem Bauchnabel und ehe er sich versah, umgab ihn völlige Dunkelheit und er schlug hart auf.
Fortsetzung folgt…..
Autornote: An dieser Stelle möchte ich mich noch mal ganz herzlich für die vielen Reviews bedanken, diese sind ein ungeheuerer Ansporn ganz schnell weiter zu schreiben. Außerdem finde ich euere Gedankengänge dazu sehr inspirierend, also schreibt auch ihr mir fleißig weiter! *ganzliebguck*
