6. Das Dunkle Mal

Was habe ich nur getan? fragte sie sich, und schaute sich im Zimmer um. Lucius lag neben ihr und hatte die Augen geschlossen. Plötzlich richtete er sich auf, griff sich an seinen Arm, und stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus. Das Dunkle Mal hatte wieder angefangen, zu brennen und war nun tiefschwarz geworden. Aurora nahm ihren Zauberstab und berührte wieder die Stelle. Wieder sprach sie den Zauberspruch, und wieder verblasste das Mal.

Er schaute sie an.

„Was hast du da getan?"

„Ein Heilzauber, den ich in Indien gelernt habe, geht es dir besser?"

„Geht es mir besser, du beliebst zu scherzen! Weißt du, was das ist?"

„Ja, natürlich, das Dunkle Mal, aber sieh nur, es ist schon viel blasser geworden."

„Aurora, das ist nicht irgendein Hautausschlag, das kann man nicht einfach verschwinden lassen."

„Nein, einfach ist das bestimmt nicht", sagte Aurora, „aber es ist auch nicht unmöglich. Vorhin hat es sich auch schon verfärbt, aber du hast nichts gemerkt."

„Was, es hat sich vorhin schon einmal verfärbt?  Heiliger Merlin, ich bin zu spät!"

Er sprang auf, öffnete den Kleiderschrank, zog neue Kleider heraus und begann, sich hastig anzuziehen. Als er dabei war, sich die Handschuhe überzustreifen, klingelte es Sturm an der Haustür. Lucius verließ ohne ein Wort des Abschieds mit eiligen Schritten das Zimmer.

Aurora öffnete die Samtvorhänge. Draußen kündigte ein heller Streifen am Horizont den Tag an. Unten an der Tür standen im fahlen Schein einer Laterne zwei dunkel gekleidete Gestalten mit schwarzen Kapuzen, die sie über das Gesicht gezogen hatten. Sie nahmen Lucius, der gerade aus der Tür trat, in ihre Mitte, und sofort darauf  disapparierten alle drei.

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Voldemort war außer sich vor Zorn. Lucius Malfoy, einer seiner treuesten Diener und wichtigster Mann im Zaubereiministerium, war nicht erschienen, nicht auf seinen ersten, und auch nicht auf seinen zweiten Befehl hin. Darauf hatte er zwei seiner Anhänger ausgesandt, um ihn herbringen zu lassen.

Nun stand Lucius vor dem Dunklen Lord. Der fragte ihn mit leiser, schneidender Stimme:

„Wo warst du so lange?"

„Ich wurde aufgehalten, ich bitte untertänigst um Verzeihung, Herr."

„So, aufgehalten, und was war so dringend, dass du meinem Ruf nicht folgen konntest?"

Lucius antwortete nicht.

„Was hat dich abgehalten, deinem Herrn zu dienen? Sprich!"

Lucius schwieg.

„Du hast es nicht anders gewollt. CRUCIO!"

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Aurora stand am Fenster und sah, wie die Sonne langsam aufging. Ich muss zur Schule, durchfuhr es sie plötzlich, meine Güte, ich muss mich beeilen. Mit einer geschmeidigen Bewegung ihres Zauberstabs brachte sie ihre Kleidung in Ordnung und dann disapparierte sie mit einem lauten Plopp an die Grenze zu Hogwarts. So schnell sie konnte, legte sie den Weg zur Schule zurück und begab sich in ihr Büro.

Wie sollte sie heute vor die Schüler treten? Sie hatte sich wirklich unverantwortlich verhalten. Und ausgerechnet heute stand der Imperius-Fluch auf dem Programm….

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„Guten Morgen allerseits", begrüßte sie die Schüler aus Gryffindor und Slytherin etwas zu leutselig zur gemeinsamen Schulstunde.

„Heute werden wir den bisher gelernten Stoff rekapitulieren und eine kleine Wiederholung machen. Also, wir beginnen mit den Wichteln, den Kappas, den Rotkappen und den Werwölfen: Wer möchte den Anfang machen?"

„Aber, Frau Professor", sagte Ron enttäuscht, „Sie hatten uns doch versprochen, mit uns die Abwehr des Imperius-Fluchs zu üben, so wie wir es bei Professor Moody begonnen hatten…."

„Ja, Mr. Weasley, das ist schon richtig, und wir werden das auf jeden Fall nachholen…"

Sie brach ab, unfähig, noch irgendein Wort herauszubringen, nur noch mit dem Gedanken beschäftigt, dass sie nie mehr in ihrem Leben irgendetwas zum Thema Imperius würde sagen können, ohne vor Scham in den Boden zu versinken…

„Aber wann werden wir das nachholen?" fragte Hermine ungeduldig.

„Zu gegebener Zeit, zu gegebener Zeit", antwortete Aurora, bevor sie sich zur Tafel umdrehte, um einige Stichworte anzuschreiben.

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Er konnte es immer noch nicht fassen: Der Unnennnbare hatte ihn dem Cruciatus-Fluch unterworfen, ihn, Lucius Malfoy, seine rechte Hand! Ohne seine Verbindungen im Ministerium wären dem Dunklen Lord jetzt schon sämtliche Auroren des Ministeriums auf der Spur, ohne ihn hätte er nie die Informationen erhalten, die er so dringend brauchte. Und dennoch behandelte er ihn wie einen Verräter, einen Abtrünnigen!

Was hätte er denn tun sollen? Hätte er sagen sollen: Mein Lord, ich stand unter dem Imperius-Fluch, als Sie mich zu sich riefen?  - Du, Lucius? Wie konnte das geschehen, und wer hat es geschafft, dich, einen der mächtigsten Zauberer, zu unterwerfen? - Was hätte er denn sagen sollen? Bei Merlin, dass ihm diese Geschichte hatte passieren können! Und warum hast du dich nicht befreit? hätte der Dunkle Lord gefragt. Ja, zum Teufel, warum eigentlich? dachte Lucius. Weil ich nicht konnte? Weil ich  nicht wollte?

Und jetzt habe ich auch noch die Eule losgeschickt, dachte er.