8. Entführung?

Trotz allem wurden sie eines Tages gesehen, als sie das Silberne Einhorn verließen…

Das Silberne Einhorn war ein Lokal, das von den Einheimischen und den Lehrern und Schülern von Hogwarts wegen der überhöhten Preise selten aufgesucht wurde. Es war vielmehr Anziehungspunkt für die zahlreichen Besucher aus aller Herren Länder, die jedes Jahr nach Hogsmeade kamen. Seit dem ersten Mal hatten sie sich nicht mehr dort getroffen, bis sie an einem der ersten schönen Frühlingsabende einander unerwartet auf der Hauptstrasse des Orts begegneten. Aurora hatte Besorgungen für die Schule erledigt, und Lucius war zu einer Sitzung des Schulrates gekommen. Sie grüßten einander förmlich, tauschten einige Höflichkeiten aus, beim Abschied aber sagte er leise: „Ich muss dich sehen, komm ins Silberne Einhorn." Sie wollte noch Einwände erheben, da war er schon weitergegangen.

Das Einhorn war, anders als bei ihrem ersten Treffen im Winter, diesmal gut besucht, und sie hatte gerade an einem der letzten freien Tische Platz genommen, als er das Wirtshaus betrat. Er setzte sich zu ihr. „War es klug, hierher zu kommen?" fragte sie. „Sicher nicht, aber ich musste dich einfach sehen", erwiderte er und setzte hinzu: „Im Moment habe ich so viel Arbeit, dass ich dich in der nächsten Zeit nicht treffen kann." „Mir geht es genauso", sagte sie, „ wir müssen die Examina vorbereiten, und es bleibt nicht viel Zeit für anderes."

„Wir könnten ein Stundenglas verwenden, du weißt schon, die Zeit zurückdrehen", sagte er. Ihr stockte der Atem, er musste verrückt sein, so etwas vorzuschlagen, war es doch vorgeschrieben, für Zeitveränderungen jeder Art eine besondere Genehmigung des Ministeriums zu beantragen. „Nein, das ist zu riskant", flüsterte sie, „und außerdem, mit welcher Begründung würden wir die Genehmigung bekommen?" „Du weißt, ich bekomme so ziemlich alles, was ich will, es dürfte mir nicht schwer fallen, die Papiere zu besorgen." Das ist Wahnsinn, dachte sie, und sie bekam es mit der Angst zu tun, Angst, sie könnte sich auf diesen Vorschlag einlassen, nur weil das Verlangen danach, ihn wieder zu sehen, so übermächtig war…

„Sobald ich es irgendwie ermöglichen kann, schicke ich dir die Eule", sagte er zum Schluss, als sie dabei waren, gemeinsam das Lokal zu verlassen. Am Ausgang blieben sie unschlüssig stehen, dann öffnete er die Tür, und sie traten hinaus auf die kleine Gasse. Dort war niemand zu sehen. „Komm mit mir, nur für einen Moment, ich kann dich noch nicht gehen lassen",  flüsterte er, während sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien. „Das ist unmöglich, ich muss in einer Stunde in Hogwarts bei der Lehrerkonferenz sein." „Eine Stunde, dann komm für eine Stunde."

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Im Schatten eines Hauseingangs gegenüber dem Silbernen Einhorn standen Harry, Ron und Hermine und trauten ihren Augen nicht. „Schaut mal, das ist Aurora Luzia, was macht die denn hier? Und wer ist das?" flüsterte Harry. „Ich tick aus!" sagte Ron, „seht mal wer da kommt." „Lucius Malfoy, was hat das zu bedeuten?" fragte Hermine. „He, was macht er da mit ihr, was ist da los?"

„Weg, sie sind einfach weg", sagte Ron fassungslos. „Er hat entweder einen Tarnumhang, oder sie sind disappariert", sagte Harry. „Beim Disapparieren kannst du niemanden mitnehmen, das würde heißen, sie ist freiwillig mitgekommen, und aus dem Tarnumhang kann man wieder herauskommen", sagte Hermine. „Wenn er sie aber mit Gewalt darunter festhält", wandte Ron ein. „Könnte sein, aber es gibt noch eine andere Möglichkeit", überlegte Hermine. „Und die wäre?" fragte Harry. „Das musst ausgerechnet du fragen, denk doch mal nach. Sein Umhang ist ein Portschlüssel."

Harry dachte an seine letzte Erfahrung mit einem solchen Portschlüssel und schauderte. „Glaubt ihr, er hat sie entführt?" fragte er. „Das ist doch klar!" sagte Ron, „sie würde doch nie aus freien Stücken mit jemandem wie Malfoy mitgehen, er muss sie dazu gezwungen haben, mit irgendeinem Zauber, was weiß ich." „Was sollen wir denn jetzt machen?" Harry überlegte. „Wir müssen mit Dumbledore sprechen, vielleicht ist sie in Gefahr." „Dazu ist es heute Abend zu spät", wandte Hermine ein, „da wir ja wieder einmal die Schulregeln missachtet haben und eigentlich schon lange in unseren Schlafsälen sein müssten. Aber wenn sie morgen nicht da ist, sollten wir sofort alles sagen, was wir gesehen haben."

Doch am nächsten Morgen war Aurora Luzia wie gewohnt zum Unterricht erschienen, und obwohl die drei Freunde sie genau beobachtet hatten, konnten sie keine Anzeichen dafür entdecken, dass sie in der letzten Nacht entführt worden war. Alles schien in Ordnung zu sein…

Sie sprachen daher mit niemandem über ihre Beobachtung, aber sie wussten nicht, dass Crabbe und Goyle ihnen bei ihrem nächtlichen Ausflug nach Hogsmeade gefolgt waren und die Szene ebenfalls beobachtet hatten…„Ihr spinnt ja total", sagte Draco, „habt wohl zu viel Butterbier getrunken", als Crabbe und Goyle ihm von ihrer Beobachtung erzählten.