13. Geständnisse

Hagrid hatte Aurora am dritten Tag gefunden; sie hatte auf der Wiese am Rande des verbotenen Waldes gelegen, in tiefem Schlaf versunken. Er hatte sie sofort zu Madam Pomfrey gebracht, und nun lag sie im Krankenflügel, und man wartete gespannt darauf, dass sie endlich erwachte….

Als sie zu sich kam, wurde sofort Albus Dumbledore an ihr Krankenbett gerufen.

„Wie geht es Ihnen, Aurora?" fragte er.

„Alles in  Ordnung", antwortete sie, „ich fühle mich nur sehr, sehr schwach."

„Können Sie sich erinnern, was passiert ist?"

Aurora zögerte. Ihre Erinnerungen waren nicht sehr klar, und sie konnte nicht unterscheiden, was davon Traum, und was Wirklichkeit war, und… da waren gewisse Dinge, die sie niemals eingestehen konnte, vor allem nicht Albus Dumbledore, das war völlig undenkbar…

„Nein, es ist alles sehr undeutlich…"

Dumbledore bat Madam Pomfrey, mit Aurora eine Reihe von Tests durchzuführen, um festzustellen, ob sie eventuell durch schwarze Magie beeinflusst worden war, und auch er selber führte gewisse Versuche durch, bis er sich ganz sicher war, dass Aurora ihre dreitägige Abwesenheit unbeschadet überstanden hatte.

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In der folgenden Woche war sie so weit wieder hergestellt, dass sie mit den anderen Lehrern morgens wieder am Lehrertisch das Frühstück einnehmen konnte; mit dem Unterrichten sollte sie allerdings erst in einigen Tagen wieder beginnen.

„Aurora, ich muss Sie dringend sprechen", hatte Dumbledore zu ihr gesagt, und nun betrat sie voller Unruhe sein Büro. Sie wusste nur allzu gut, dass er sie jetzt ausführlich zu befragen gedachte…

„Setzen Sie sich, mein Kind, wie geht es Ihnen heute?"

„Danke, Sir, schon sehr viel besser."

„Dann lassen Sie uns über Lucius Malfoy sprechen."

„Woher wissen Sie…", begann sie.

„Aurora, ich bin ein alter Mann, aber ich konnte nicht umhin, gewisse Dinge zu bemerken… außerdem habe ich Informationen erhalten… Sagen Sie mir also ehrlich: war er es, der Sie entführt hat?"

„Ja."

„Sagen Sie mir nun alles, was Sie wissen, es ist von außerordentlicher Wichtigkeit."

Sie begann: „Ich weiß nur noch, dass ich in Hogsmeade war… dann kann ich mich an nichts mehr erinnern, ich war wohl bewusstlos gewesen, und dann wachte ich auf, wie aus einem tiefen Schlaf, und wusste nicht, wo ich war. Ich befand mich in einer kleinen Hütte auf einem Strohlager, sonst war in dem Raum nur ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, und auf dem Tisch standen eine Karaffe mit Wasser, ein Teller mit Brot, Butter und Käse, und eine Schale mit Obst. Ich trat zur halb geöffneten Tür und sah draußen eine völlig unbekannte Landschaft, nur Wälder und Berge, soweit das Auge reichte, und keine menschliche Behausung, kein Anzeichen für Leben, weit und breit. Ich wollte hinausgehen, aber an der Schwelle hielt mich eine unsichtbare Kraft zurück."

Sie stockte. Plötzlich hatte er vor ihr gestanden. Was hatte er mit ihr vor? Ihr war Dumbledores Warnung eingefallen, sie hatte an ihre eigenen undeutlichen Ahnungen gedacht..

„Aurora", sagte Dumbledore, „bitte erzählen Sie doch weiter".

„Plötzlich stand Lucius vor mir, ich dachte an Ihre Warnung, wollte nach meinem Zauberstab greifen, aber konnte ihn nicht finden. „Ich musste ihn dir wegnehmen", sagte er und fügte hinzu, dies sei zu meiner eigenen Sicherheit notwendig gewesen."

„Und was geschah dann?"

„Ich sagte, es habe keinen Zweck, mir etwas vorzumachen, ich wüsste alles über ihn, und er antwortete, alles, was man mir über ihn erzählt habe, sei wahr, aber mir drohe von ihm keine Gefahr."

„Und?"

„…..ich glaubte ihm."

„Wie…", setzte Dumbledore an, aber in diesem Moment flatterte aufgeregt eine Eule ins Zimmer und ließ eine Extraausgabe des Tagespropheten genau vor Dumbledore auf den  Schreibtisch fallen.

Er betrachtete das Titelblatt: „Jetzt ist es also offiziell… Sehen Sie sich das an, Aurora, das wird eine der größten Verhaftungswellen auslösen, die es je gegeben hat. Wenn es denn stimmt, dass eine Verschwörung geplant war…"

Als ihr Blick auf die Titelseite fiel, stockte ihr der Atem. Zum ersten Mal wünschte sie, der Tagesprophet möge wie die Muggelzeitungen nur unbewegte Bilder zeigen. Das Titelphoto nahm fast die ganze erste Seite ein und zeigte einen bleichen Lucius Malfoy, flankiert von zwei schreckenerregenden Dementoren, die dabei waren, ihn in das Gefängnis von Askaban abzuführen. Mit jedem Schritt schien Lucius geschwächter, immer größer das Entsetzen in seinen Augen, und es gelang ihm sichtlich nur unter Aufbringung größter Willenskraft,  sich aufrecht zu halten.

„Sie verstehen nun sicher noch besser, warum ich Ihnen einige Fragen stellen muss. Ich war letzte Nacht in Askaban und habe am ersten Verhör teilgenommen. Es sieht so aus, als habe Malfoy sich freiwillig gestellt, um über eine geplante Verschwörung der Todesser auszusagen. Er erklärte sich jedenfalls bereit, alles preiszugeben, was er weiß, und er rechnet sicher damit, dass man ihm gegenüber Milde walten lässt, zunächst wird man jedoch genau überprüfen, ob er sich wirklich von Voldemort losgesagt hat. Wir wissen aber nicht, wie glaubwürdig seine Aussagen sind, denn er spricht auf den Veritaserum-Trank nur teilweise an; was die Verschwörung und ihre Mitwisser betrifft, so sprudelten die Informationen nur so heraus, aber zu Ihrer Entführung kam kein Wort."

„Er ist erstaunlich resistent, was Wahrheitszauber angeht", bemerkte sie.

 „Aurora, mein Kind, was haben Sie da eben gesagt? Sie glaubten ihm?"

„Er ist resistent gegenüber Wahrheitszaubern, aber das heißt nicht, dass er lügt", antwortete sie.

„Sie glaubten ihm also. Schön und gut, aber welchen Sinn hatte dann diese Entführung?"

„Er wollte mich schützen, er wollte mich vor einem furchtbaren Schicksal bewahren…"

„Was ist mit Ihnen, Aurora, Sie werden mir doch nicht ohnmächtig werden…"

Dumbledore goss etwas Tee in einen Becher und flößte ihr die heiße Flüssigkeit ein; langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück.

„Was war dieses Schicksal, können Sie mir dazu etwas mehr sagen, bitte, Aurora, ich weiß, dass es sehr schmerzhaft für Sie ist, aber wir müssen die Wahrheit kennen."

„Ich, ich.. sollte …"

Es gelang ihr nicht sofort, weiter zu sprechen, und Dumbledore wartete geduldig ab, während Aurora die Augen schloss und sich an die Geschehnisse erinnerte.

Lucius hatte ihr gesagt: „Es stimmt, alles, was über mich erzählt wird, ist wahr, du weißt es doch seit langem, dass ich zur dunklen Seite gehöre…"

In diesem Moment hatte er laut aufgestöhnt; wieder einmal hatte sich das Dunkle Mal auf seinem Arm entzündet. Sie hatte gedacht, er würde nun alsbald disapparieren, aber Lucius stand vor ihr, und während seine Schmerzen immer heftiger zu werden schienen, legte er seine Arme um sie und hielt sie fest. Sie hatte ihn erstaunt angesehen, dann einen Moment lang gefürchtet, er werde sie nun mitnehmen und den Todessern ausliefern, aber da hatte er weiter gesprochen:

„Du hast von mir nichts zu befürchten, glaube mir, Aurora…"

Erneut stieß er einen Schmerzenslaut aus: Aurora begriff in diesem Augenblick, dass er dabei war, sich mit aller Kraft gegen den Ruf des Dunklen Lords zur Wehr zu setzen.

Aber warum waren sie nicht längst gekommen, um ihn zu holen, so wie beim ersten Mal?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, erklärte er in hastigen, atemlosen Worten:

„Ich habe diese Stelle ausgewählt, weil sie besonders geschützt und unortbar ist,… apparieren oder disapparieren ist nicht möglich,… man kommt nur mit einem speziellen Portschlüssel hierher, den ich allein benutzen und aktivieren kann."

Und wieder wurde er von einer Welle des Schmerzes überflutet.

„Gib mir meinen Zauberstab", hatte sie gesagt. Er hatte sie angesehen. „Du weißt, dass ich das nicht kann…", begann er, aber sie hatte ihre Hand auf sein Dunkles Mal gelegt. Da hatte er ihr wortlos den Zauberstab gereicht, und sie hatte ihren Heilzauber gesprochen. Wieder und wieder musste sie den alten Spruch wiederholen, bis endlich die Schmerzen nachzulassen begannen.

Er hatte nun weiter gesprochen:

„Ich war immer zu allem bereit, was auch immer sie von mir forderten, habe ich getan…., aber nun haben sie verlangt, dass ich…sie fordern ein weiteres Opfer, aber das ist unmöglich, sie verlangen, dass ich dich ausliefere. Aurora, ich habe dich in furchtbare Gefahr gebracht, und nun gibt es nur einen Ausweg…"

Da hatte sie alles begriffen, die dunklen Vorahnungen, das Gefühl der Bedrohung, die Schatten…, und er hatte ihr nicht näher erklären müssen, wozu der Unnennbare sie hatte benutzen wollen… Ihre Kenntnisse der Dunklen Künste reichten aus, sie wusste um die Rituale, die den Schwarzmagiern zur Verfügung standen, und sie hatte verstanden, dass der Dunkle Lord eine reinblütige Frau mit mächtiger Zauberkraft gesucht hatte, um einen Nachfolger zu zeugen….

„Ich habe mich vom Dunklen Lord losgesagt", hatte Lucius zum Schluss erklärt, „und ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Deshalb habe ich dich aus Hogsmeade, wo du in großer Gefahr warst, hierher gebracht, damit sie dich nicht finden. Morgen wirst du wohlbehalten wieder auf dem Schulgelände sein, dem einzigen Ort, an dem du bis auf weiteres sicher sein wirst."

Das also war der Ausweg gewesen, Askaban, dachte sie.

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Nachdem Aurora ihren Bericht beendet hatte, schwieg Dumbledore eine Weile betroffen, dann sagte er langsam:

„Ist Ihnen bewusst, welch furchtbarem Schicksal Sie da entgangen sind?"

Sie nickte und antwortete: „Ich wusste es nicht genau, aber ich hatte Vorahnungen und Visionen, nur habe ich sie nicht beachtet, ich habe alle Warnungen einfach in den Wind geschlagen.."

„In der Tat, Aurora, Sie waren unvorsichtig", sagte Dumbledore.

„Ich weiß, dass mein Verhalten unentschuldbar ist, und dass ich es nicht verdiene, weiter in Hogwarts zu unterrichten…, es ist ganz unverantwortlich, was ich getan habe, ich habe nur noch an ihn gedacht und alles andere vergessen… selbst jetzt, da klar bewiesen ist,  was er getan hat, dass er eine schreckliche Verschwörung plante und zum engsten Kreis der Todesser gehörte, selbst jetzt denke ich nur daran, wie furchtbar es nun in Askaban für ihn sein muss, und wie die Dementoren den Mann zerstören werden, den ich…"

„Es ist schon richtig, dass etwas mehr Vorsicht am Platz gewesen wäre, und vor allem, warum haben Sie sich mir nicht anvertraut, mein Kind?" fragte Dumbledore und schaute sie eindringlich an.

Aurora schwieg und sah zu Boden.

Dumbledore fuhr fort: „Wäre der Plan aufgegangen, hätte Voldemort weiter an Macht und Stärke gewonnen, und es ist nicht auszudenken, was das für uns alle bedeutet hätte…, aber andererseits ist es wohl letztlich Ihnen zu verdanken, dass es nicht so weit gekommen ist."

„Wie meinen Sie das?"

„Nun, wären Sie nicht gewesen, hätte Malfoy sich niemals freiwillig gestellt, und wir hätten nie von den Plänen Voldemorts und der Verschwörung der Todesser erfahren."

„Aber ich habe nichts getan, im Gegenteil, ich habe keine einzige meiner Fähigkeiten angewandt, außer einem Wahrheitszauber, der nicht mal richtig funktioniert hat…"

„Nein, ich glaube, da irren Sie sich…"

„Na ja, und der Heilzauber vielleicht…"

Dumbledore lächelte.

„Ich glaube, Aurora, Sie haben den wichtigsten Zauber vergessen."

„Den wichtigsten Zauber?" Aurora sah ihn fragend an.

Aber der Direktor lächelte immer noch und fügte hinzu:

„Es gibt nur eine Magie, die mächtiger ist als alle anderen. Und wir alle, ob Muggel oder Zauberer, beherrschen sie…", und nach einigem Nachdenken setzte er hinzu:

„…oder besser gesagt, sie beherrscht uns!"

Ende