Kapitel 3: Der Saal füllt sich…

„Sirius!" rief Harry und rannte ihm entgegen, „du lebst!"

„Natürlich lebe ich, mir geht es bestens! Ist mit euch alles in Ordnung?"

„Ja, abgesehen davon, dass hier ein Dutzend Todesser die Gegend unsicher macht und Voldemort ebenfalls gerade eingetroffen ist, geht es uns ausgezeichnet", hörte Harry sich zu seinem Erstaunen mit kühler, fast ironischer Stimme sagen. Er fühlte sich plötzlich mutiger denn je, so als ob nichts ihm mehr Angst machen könnte, denn Sirius lebte, er war gekommen, und alles würde gut werden.

Sofort machten sich die Mitglieder des Ordens an die Verfolgung der Todesser, und eine wilde Jagd durch die Regalreihen begann.

Sirius blieb jedoch einen Moment bei Harry stehen, und dieser zog nun eine Rolle aus seinem Ärmel.

„Ich möchte dir etwas zeigen; das habe ich hier gefunden, und es ist wunderbar."

Sirius las: „Harry Potters schönste Sommerferien. Dieser Sommer sollte anders werden als alle anderen zuvor, denn Sirius Black, Harrys Pate, würde die Ferien mit ihm verbringen… Sie fuhren in ein Zaubererdorf am Meer, wohnten in einer Strandhütte, von der aus sie jeden Morgen über den warmen Sand in die Brandung rannten und ein Bad in den Wellen nahmen. Sie nahmen Dianthuskraut und tauchten in die grüne See, wo sie schillernd bunte Fische sahen und Meermenschen trafen. Später frühstückten sie gemeinsam am Strand und begaben sich dann auf Erkundungsreise. In den Bergen jenseits des Dorfs lebten seltene Drachen, und sie machten Ausflüge mit Seidenschnabel, dem Hippogreif, um die Drachen und viele andere magische Wesen zu beobachten. Zum ersten Mal sehnte Harry nicht das Ende der Ferien herbei, im Gegenteil, er wünschte, dieser Sommer möge nie enden…."

„Harry", sagte Sirius, „ich verspreche dir, wenn das alles hier vorbei ist, werden wir genau so einen Urlaub gemeinsam verbringen, und ich werde ein neues Haus kaufen, in dem wir zusammen wohnen können."

In diesem Moment öffnete sich die Tür erneut, und Minister Fudge, begleitet von Percy Weasley und einigen Ministeriumsbeamten, betrat den Saal.

„Was ist hier los?" rief er aus, „wir haben gehört, es sei eingebrochen worden!" Er schaute sich um: „Sirius Black ist hier!" Er wandte sich an seine Begleiter: „Los, worauf wartet ihr noch, greift ihn euch!"

Sirius machte einen großen Satz und verschwand zwischen den Reihen. Harry versuchte, den Minister aufzuhalten:

„Herr Minister, hier wimmelt es von Todessern, die sollten Sie verfolgen, die Ausbrecher sind auch dabei!"

„Ja, und Black gehört dazu, aus dem Weg!" Fudge und seine Leute überrannten Harry fast.

„Und Voldemort ist auch hier!" rief Harry ihnen noch hilflos hinterher.

„Lass dir mal was neues einfallen!" höhnte Percy, „die Story zieht langsam nicht mehr!"

„Wir müssen sie aufhalten!" rief Ron, „ich versuche, Percy abzulenken!" Er machte sich an die Verfolgung seines Bruders. Ginny schloss sich ihm an.

„He, Percy", sagte Ron, „weißt du überhaupt, was das hier für eine Abteilung ist?"

„Mysterienabteilung, Prophezeiungen", sagte Percy in beamtenhaftem Ton.

„Ja, genau, und möchtest du nicht wissen, was hier über dich geschrieben steht? Weißt du, unter „Weasley" gibt es Unmengen von Dokumenten über dich, aber wir konnten sie nicht herausziehen, das können nur die Betroffenen selbst…"

„Ach ja?" Percy gab sich betont unbeteiligt. Dann fragte er: „Und wo ist diese Weasley-Abteilung genau?"

„Hier, komm mit, unter W natürlich."

Percy las die Aufschriften:

„Percy und Penelope, eine Schülerliebe und was daraus wurde"

„Percy Weasley, eine Karriere."

„Percy Weasleys Briefwechsel mit Barty Crouch senior: Sensationell! Ungekürzt und unzensiert!"

„Interessant…" murmelte Percy und zog die zwei letzten Rollen aus dem Regal, nachdem die erste sich nicht bewegen wollte, so sehr er sich auch abmühte. Hinter ihm standen Ron und Ginny und grinsten sich zu, während Percy zu lesen begann:

„Lieber Weatherby… bitte sorgen Sie dafür, dass das Dokument über die Kesselnormen überarbeitet wird, anbei die 147 Änderungsanträge für die Sitzung der Arbeitsgruppe Technische Normen im Rat der Europäischen Zauberer und Hexen…gezeichnet: Barty Crouch. ---- Memo an: Weatherby: Betrifft: Bruteier für Zwergdrachen, Nutzdrachen und Legedrachen: Sitzung des Verwaltungsausschusses ‚Magische Nutz- und Heimtiere. Festlegung der Mindestgrößen für Dracheneier und Wohlergehen der Legedrachen.' Beachten Sie auch die Sitzung der Arbeitsgruppe ‚Auslegung der Drachengehege, freier Bewegungsraum und Spielgeräte für die Tiere.' Zu all diesen Themen finden Sie die Vorschläge der zuständigen Ministeriumsabteilungen in den Anlagen. Kümmern Sie sich auch um die Benennung der Experten und Ministeriumsvertreter in den einzelnen Ausschüssen….."

Ron und Ginny schlichen sich lautlos davon, während Percy mit seinen Rollen beschäftigt war, und konnten bald darauf Harry, Hermine, Luna und Neville berichten, dass Percy fürs erste außer Gefecht gesetzt war.

„Was nun?" fragte Ron.

„Wir können nur hoffen, dass die Mitglieder des Ordens es schaffen, Sirius zu beschützen", antwortete Harry, aber er fühlte sich ziemlich hilflos dabei.

„Es muss furchtbar für ihn  sein, nun hat er beide Seiten gegen sich", sagte Hermine, als hätte sie seine Gedanken erraten, und fuhr fort: „Was können wir nur tun, um ihm zu helfen?"

„Wir könnten wenigstens versuchen, die Slytherins abzulenken", schlug Luna vor.

„Aber wie?" fragte Ginny.

„Ganz einfach. Wir alle, oder fast alle, haben irgendwo eine Pergamentrolle, in der wir mit jemandem aus Slytherin in eine bestimmte Verbindung gebracht werden, - ihr wisst schon, was ich meine, diese Rollen, die man nur zu zweit herausbekommt. Also, die sind doch bestimmt genau so neugierig wie wir, zu sehen, was da drin steht. Hier zum Beispiel, Ginny Weasley und Draco Malfoy, das wäre doch…"

„Gib dir keine Mühe", unterbrach Ginny sie, „ich für meinen Teil bin überhaupt nicht neugierig auf dieses Machwerk, der „blonde Slytherin" kann mir gestohlen bleiben…"

„Aber, Ginny, es geht um Sirius, da kannst du wohl ein kleines Opfer bringen", wandte Ron ein.

„Ach, hör doch auf, du willst ja nur selber wissen, was da über mich und Malfoy steht!" rief Ginny empört.

„Nein, gar nicht!" beteuerte Ron.

„Willst du doch, gib's einfach zu!"

„Hört auf, euch zu streiten", unterbrach Harry die beiden, „die Idee ist gut, und es ist das einzige, was wir tun können, also machen wir uns doch auf die Suche nach unseren lieben Mitschülern…"

Nach einigem Murren von Ginny und Zustimmung bei den übrigen machten sich die sechs Freunde auf, um die Slytherins zu suchen.

°°°°°°

Draco hatte nicht die geringste Lust gehabt, sich von seiner Mutter wie ein kleines Kind nach Hause bringen zu lassen; er hatte sich einen Arm voll Rollen geschnappt und war einfach immer weiter in den Raum hineingelaufen, hatte nach einer Stelle gesucht, wo er sich verstecken konnte, aber überall schien dasselbe helle Licht, und nirgends gab es eine Nische, um darin zu verschwinden. Nach einer Weile beschloss er, dass er sich nun weit genug von den anderen entfernt hatte, und blieb atemlos stehen. Hier trugen die Regale merkwürdige Aufschriften wie R oder „slash". Er schaute sich um, und wieder waren dort in alphabetischer Anordnung die vertrauten Namen zu finden. Neugierig geworden, schaute er unter M nach und fand viele Rollen mit der Aufschrift DM/HP, mit den merkwürdigsten Titeln wie: „Sie waren Todfeinde, aber während eines Zauberduells werden beide lebensgefährlich verletzt. In der Krankenstation kommen sie sich in unvorhergesehener Weise näher…Achtung: slash!" Keines der Pergamente wollte sich bewegen. Es war zu ärgerlich. Er machte sich auf die Suche nach den anderen Slytherins, um ihnen diese seltsame Abteilung zu zeigen, und vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, an diese verdammten Rollen zu kommen…

Inzwischen war aus den vorderen Reihen immer größerer Lärm zu hören. Zu Beginn hatte er nur das Geräusch der Schritte im Raum, das Knistern des Pergaments und leise Stimmen vernommen, dann hatte es einen lauten Aufschrei einer heiseren Frauenstimme gegeben, und plötzlich hatte sich eine eisige Stille im Raum ausgebreitet, und es war der Eindruck entstanden, die Temperatur wäre jäh um ein paar Grad gesunken. Schließlich waren weitere Personen in den Saal gestürmt, und zum Schluss hatte er die sonore Stimme des Zaubereiministers zu vernehmen geglaubt, und von da an hatte ein ohrenbetäubender Lärm den Raum erfüllt, eine wilde Verfolgungsjagd schien im Gang zu sein, Schreie gellten durcheinander, farbige Funken sprühten aus Zauberstäben…

Als Draco sich wieder dem Eingangsbereich mit dem großen Tisch näherte, schwang die Tür abermals auf, und eine hohe Silhouette erschien im Türrahmen: Albus Dumbledore.

„Was ist hier los?" fragte er, wobei seine Stimme mit beeindruckender Lautstärke durch den Raum hallte. Für einen Augenblick schienen die Kämpfer innezuhalten. Dumbledore betrat den Saal; ihm folgten Severus Snape, Minerva McGonagall, mit bleichem Gesicht, die eine Hand auf einen Stock gestützt, die andere um die Schulter von Professor Sprout gelegt, die wieder und wieder zu ihr sagte: „Sie hätten nicht mitkommen dürfen, Minerva, Sie sind noch viel zu schwach, bedenken Sie doch, Sie haben mehrere Schockzauberverletzungen…"

„Nein, mein Platz ist hier", sagte Professor McGonagall mit fester Stimme, „ich kann doch meine Schüler nicht im Stich lassen, wenn sie in Gefahr sind."

Die Lehrer betraten den Saal und sahen sich um; dann tauschten sie fragende Blicke aus.

„Seltsam, seltsam", murmelte Albus Dumbledore. „Ich würde mich gern etwas umschauen, aber zunächst müssen die Todesser unschädlich gemacht werden, - gut,  darum kümmern sich zur Zeit bereits Moody, Tonks, Sirius, Lupin und Kingsley. Unsere Aufgabe ist es, die Schüler in Sicherheit zu bringen. Minerva, ruhen Sie sich jetzt ein wenig aus", sagte er und zauberte mit einem eleganten Schwung seines Zauberstabs einen bequemen Sessel, auf dem Minerva mit einem Seufzer Platz nahm.

„Professor Sprout", fuhr er fort, „Sie bleiben bei Minerva, und achten darauf, dass die Schüler sich hier am Eingang versammeln und warten, bis alle vollzählig sind, damit wir sie dann alle zurück nach Hogwarts bringen können. Professor Snape, Sie helfen mir, die Schüler zu suchen, kommen Sie…"

°°°°°°

Severus Snape durchschritt mit aufmerksamem Blick die langen Reihen. Von weitem hörte er Rufe, Zaubersprüche, Kampfgetümmel, aber um ihn herum waren auch Schritte und das Knistern von Pergament zu vernehmen. Allerdings war niemand zu sehen. Er bemühte sich, möglichst lautlos zu gehen und spähte vorsichtig zwischen die Regale, schließlich entdeckte er Vincent Crabbe im Gespräch mit Pansy Parkinson.

„Mensch, Pansy, jetzt hör doch auf, Draco wird schon wiederkommen. Es gibt doch auch noch andere, warum dreht sich alles immer nur um ihn? Hier, sieh mal, es gibt auch etwas über uns beide: PP/VC: Immer spielt er nur die zweite Geige. Dabei gehört er zu seinen treuesten Gefolgsleuten, - bis Draco Malfoy eines Tages nach Durmstrang wechselt und Vincent Crabbe seine Führungsqualitäten unter Beweis stellen kann. Pansy Parkinson ist beeindruckt…" Hast du nicht Lust, das mit mir zusammen zu lesen?"

„Lass mich in Ruhe, Crabbe", schluchzte Pansy, „ich brauche Draco…"

Hilflos stand sie vor dem Regal und starrte auf die Fächer mit den Initialen PP/DM. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und beschloss: „Ich gehe ihn suchen. Wo kann er bloß stecken?"

„Sie gehen nirgendwo hin", unterbrach sie die kalte Stimme von Professor Snape. Erschreckt blickten sich die beiden Schüler um: „Professor Snape!"

„Was denken Sie sich dabei, einfach aus der Schule zu verschwinden und ins Zaubereiministerium einzudringen? Es ist unfassbar, - mit Hogwarts geht es wirklich bergab. Diese Schule wird bald völlig im Chaos versinken! Sie gehen jetzt in Richtung Eingang zu Professor McGonagall und Professor Sprout; dort warten Sie, bis ich und der Direktor mit den anderen zurückkommen, und rühren sich nicht von der Stelle, verstanden? Wir werden dann zu entscheiden haben, ob Punkteabzug und Arrest als Bestrafung für Sie ausreichen, oder ob das hier Ihre Schulkarriere beendet!"

Nachdem er die beiden zum Eingang geschickt hatte, nahm er seinen Streifzug wieder auf: Er las die Namen auf den Regalen… Harry Potter, das wollte kein Ende nehmen, Regalreihe um Regalreihe war mit seinen Rollen gefüllt. Es war nicht auszuhalten: sogar in den Ministeriumsakten nahm dieser Junge so unverschämt viel Raum ein. Er kniff die schmalen Lippen zusammen und überflog die Titel.

„Unglaublich", murmelte er, „aber wo ist Potter?" Niemand war zu sehen.

P – Q – R – S, da war es. Nein, für einen Moment verschlug es dem Tränkemeister den Atem, und sein erster Gedanke war, noch einmal bei Harry Potter nachzuzählen, um ganz sicher zu gehen: Wenn ihn seine Augen nicht trogen, gab es hier über ihn gut und gern genau so viel wie über Harry Potter. Wenn das keine Überraschung war!