Kapitel Zwei -

Wiedersehen

Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Ungefähr zwei Minuten lang stand ich nur da und wartete ängstlich darauf, dass die Halluzination vorüberging, während ich gleichzeitig wie verrückt hoffte, dass es keine Halluzination war. Auf diese Weise kam es, dass ich immer noch wie angewurzelt da stand, als das Auto in Sichtweite kam.

Es war ein weißer Audi und er fuhr ziemlich schnell. Von dem Fahrer konnte ich nichts erkennen, nur dass er der einzige Insasse war. Und er blickte stur auf die Straße.

In mir stieg Panik auf. Was, wenn er mich gar nicht sah? Ich musste mich bemerkbar machen. Er war jedenfalls schon auf ein paar Meter herangekommen und machte keine Anstalten zu bremsen. Hektisch sah ich mich um, rannte dann zu meinem Auto, riss die Tür auf und schlug mit der flachen Hand auf die Hupe, die Augen immer noch auf den Audi gerichtet.

Der Fahrer schrak offensichtlich zusammen, denn der Audi schlingerte plötzlich. Die Reifen quietschten und qualmten, als der Fahrer auf die Bremse stieg. Ich hämmerte weiterhin auf die Hupe ein, während ich mit brennenden Augen auf die Straße starrte. Erst als der Audi mitten auf der Straße wendete und in meine Richtung schlitterte, fing ich mich wieder. Ich nahm die Hand von der Hupe, schlug die Autotür zu und stolperte zur Straße. Der Audi sauste in die Einfahrt des Autohändlers hinein, drehte sich noch einmal um hundertachtzig Grad und kam dann direkt neben mir zum Stehen. Die Fahrertür flog auf. Ich rannte um das Auto herum und stammelte irgendwelche unzusammenhängenden Worte, während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Endlich, endlich sah ich wieder einen lebenden Menschen!

Ich erkannte gerade noch, dass der Fahrer ein junger Mann in meinem Alter war, erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen dunklen Lockenkopf und einen schlanken, durchtrainierten Körper, dann war ich bei ihm, schlang ihm die Arme um den Hals und sank an seine Schulter. Ich spürte, wie er seine Arme nicht minder fest um mich legte und die Hände ineinander verschränkte, gerade als ob er sichergehen wollte, dass ich ihm nicht so schnell wieder entwischen konnte. Sein Kopf sank auf meine Schulter; ich spürte, wie seine Locken mein Gesicht streiften. Fester und fester zog er mich an sich, bis noch nicht einmal ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte. Ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an ihn, und in gewisser Weise war ich das ja auch. So musste sich ein Schiffbrüchiger fühlen, der nach tagelangem Kampf endlich Land sieht. Dieser Junge war mein Rettungsanker, und ihm ging es anscheinend ähnlich.

Ich wusste nicht, wie lange wir so da standen, aber irgendwann hob ich den Kopf ein wenig und fragte heiser: "Wer bist du?"

Mein Hals kratzte protestierend; ich hatte seit über einer Woche mit keinem Menschen mehr gesprochen.

Der Unbekannte regte sich nun ebenfalls. Auch er hob den Kopf an, so dass ich seinen Atem an meinem Ohr spüren konnte.

"Jemand, der die Hoffnung schon längst aufgegeben hatte", antwortete er ebenso heiser. "Ich heiße Felix."

"Felix?" wiederholte ich leise. Plötzlich stieg ein Verdacht in mir auf. Ich rief mir seine Erscheinung wieder in Erinnerung. Ich hatte ja kaum etwas von ihm gesehen, bevor ich ihm in die Arme getaumelt war, aber die Locken, die Größe und das Alter kamen ungefähr hin. Aber wäre das nicht ein zu großer Zufall...? Felix war kein ungewöhnlicher Name. Außerdem konnte er von wer weiß wo mit dem Audi gekommen sein.

"Bitte sag mir, dass du nicht der bist, für den ich dich halte", sagte ich heiser.

"Für wen hältst du mich denn?" fragte er zurück, und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

"Woher kommst du?" fragte ich anstatt zu antworten.

Er nannte mir den Namen eines Dorfes ungefähr zehn Kilometer entfernt, und das gab mir den Rest. Das war bestimmt der Felix, den ich kannte. Der, mit dem ich einige Jahre lang zur Schule gegangen war - ein Lebensabschnitt, den ich am liebsten völlig verdrängt hätte.

Meine ersten paar Schuljahre waren die Hölle gewesen, denn die meisten meiner Mitschüler hatten mich nicht ausstehen können und mir das auch mit der ganzen Grausamkeit, die Kindern eigen ist, gezeigt. Auch später als Teenager, als man nicht mehr die Mitschüler auf dem Schulhof "ärgerte", sondern zu besser durchdachten, noch verletzenderen Bemerkungen überging, gegen die man sich praktisch überhaupt nicht zur Wehr setzen konnte, hatte sich mein Stand in der Klasse nicht verbessert, sondern verschlechtert, sofern das überhaupt noch möglich war. Damals war Felix einer derjenigen gewesen, die keine Gelegenheit ausließen, mich zu demütigen - ob nun offen oder indirekt. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass mein Selbstwertgefühl eine Zeitlang praktisch nicht vorhanden gewesen war. Erst Anfang der neunten Klasse war es etwas besser geworden, zumindest was ihn anging. Er hatte sich weitestgehend zurückgehalten und mich in Ruhe gelassen. Vielleicht war ihm schon damals aufgegangen, wie kindisch das Ganze im Grunde war. Ein halbes Jahr später hatte ich die Schule gewechselt und seitdem niemanden aus meiner alten Klasse mehr gesehen - höchstens mal von weitem in der Disco oder in der Stadt - und auch so gut wie nie an sie gedacht.

Was für eine seltsame Laune des Schicksals, dass wir nun beide hier standen und Captain Trips überlebt hatten.

Ich war Felix immer noch eine Antwort schuldig, aber ich brachte es nicht über mich. Statt dessen versteifte ich mich vor Unsicherheit. Es hieß zwar immer, dass die ärgsten Feinde in der Not zusammenhalten, aber ich wusste nicht, wie viel Wahrheit darin steckte. Ich glaubte zwar nicht, dass er mich angewidert von sich stoßen und sich aus dem Staub machen würde, aber ich hatte trotzdem Angst. Mein Rettungsanker drohte mir zu entgleiten. Gerade hatte ich geglaubt, ich hätte einen Gefährten gefunden...

"Hey, wer bist du?" fragte er wieder leise. "Kennen wir uns?"

Als Antwort schlang ich die Arme wieder fester um ihn. Ich wollte einfach noch für eine Weile das Gefühl genießen, im Arm gehalten zu werden. Sobald ich meine Identität enthüllt hatte, würde sich unser Umgangston ändern, dessen war ich mir sicher. Und ich würde mich sicher nicht mehr so geborgen fühlen wie in diesem Moment, wenn ich mir erst einmal wirklich bewusst gemacht hatte, wen ich hier umarmte.

"Gleich", sagte ich leise.

"Ist gut." Felix zog mich wieder fester an sich.

Ich war verzweifelt. Das war nicht der Junge, den ich mal gekannt hatte. Der Mensch, der hier bei mir war, war liebevoll und geduldig und hatte nichts mehr von dem aggressiven, dreisten und manchmal regelrecht bösartigen Vierzehnjährigen, der das Gesicht angewidert verzogen hatte, wenn er sich im Bus neben mich hatte setzen müssen. Aber schließlich wusste er noch nicht, wer ich war. Und wenn er es erfuhr... inwiefern war er inzwischen in der Lage, Antipathien zu überwinden, die er von klein auf gehabt hatte?

Ich holte tief Luft. Es half ja nichts, irgendwann würde er es ja doch erfahren. Ich hob entschlossen den Kopf und lockerte meinen Griff.

"Ja, wir kennen uns", sagte ich. "Schon ziemlich lange, aber nicht besonders gut."

Ich spürte, wie er den Kopf hob und versuchte, mich anzusehen, was ihm aber nicht ganz gelang. Mein dichtes rotes Haar fiel wie ein Vorhang über meine rechte Gesichtshälfte und verdeckte ihm die Sicht auf meine Züge.

"Mach was du willst", fuhr ich leise fort, "aber bitte, bitte fahr nicht weg und lass mich hier alleine. Ich glaube, ich würde dann völlig verrückt werden. Ich werde dich auch total in Ruhe lassen und es nur dir überlassen, wo wir hinfahren, aber, um Himmels Willen, lass mich nicht alleine..."

Ich wollte nicht betteln, aber die Worte kamen überstürzt, bevor ich sie richtig fassen konnte.

Felix unterbrach mich. "Warum um Himmels Willen sollte ich dich hier alleine lassen?" fragte er. "Glaubst du nicht, dass ich mich genauso nach Gesellschaft gesehnt habe? Für was hältst du mich, für einen herzlosen Idioten?"

"Früher hab ich das wirklich", flüsterte ich. "Früher hast du genau so auf mich gewirkt. Und mich auch so behandelt."

"Was?" Felix trat entschlossen ein Schritt zurück und löste sich von mir. "Wer bist du? Was hab ich dir getan? Warum bist du so..."

Er brach ab. Ich hatte endlich den Mut aufgebracht, ihn geradewegs anzusehen, und als er mich wiedererkannte, blieb ihm das Wort im Hals stecken.

"Du?" brachte er schließlich heraus.

"Ja, ich", erwiderte ich heftig. "Nett, dass du dich wenigstens an mich erinnerst." Ich war mir bewusst, dass mein Tonfall sehr schnippisch war, konnte aber nichts daran ändern. Ich war eben auf der Hut. Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich immer noch nicht mit den damaligen Erlebnissen abgeschlossen hatte, und dass ich das wahrscheinlich auch nie ganz schaffen würde. Wahrscheinlich würde mein Puls auch noch in dreißig Jahren vor Nervosität rasen, wenn ich irgend jemandem aus dieser Klasse begegnete.

Was allerdings, wenn man die Umstände betrachtete, mehr als unwahrscheinlich war.

Felix hatte sich wieder gefangen und sah mich jetzt an. Ich versuchte vergebens, irgend eine Reaktion in seinen Augen zu erkennen, aber außer einer Art fragendem Interesse konnte ich nichts erkennen. Jedenfalls las ich weder Abscheu noch Widerwillen in ihnen, und mehr verlangte ich ja auch gar nicht.

"Also du hast überlebt", sagte er leise.

"Sieht so aus", erwiderte ich vorsichtig.

"Du hast dich kaum verändert." Er musterte mich ruhig.

"Du dich auch nicht."

Dann schwiegen wir wieder für eine Weile. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

"Können wir nicht einfach einen Waffenstillstand ausmachen und von hier verschwinden?" fragte ich mit zitternder Stimme.

"Waffenstillstand?" Felix sah mich an. "Von mir aus. Obwohl ich gar nicht wusste, dass wir noch im Krieg sind."

Darauf fiel mir keine Erwiderung ein. Ich murmelte irgend etwas wie "Ich mein ja nur..." und wandte mich wieder zu den Autos um.

"Hast du viel im Gepäck?" fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Felix schüttelte den Kopf. "Ich bin einfach losgefahren. Bei mir daheim hätte es eh nichts gegeben, was ich brauchen könnte. Ich wollte alles hier besorgen."

"Ich habe jede Menge und vieles davon doppelt", sagte ich. "Du kannst ja mal sehen, ob du was davon brauchen kannst - vorausgesetzt, wir tun uns jetzt wirklich zusammen", fügte ich hinzu. Ich wollte endlich eine klare Antwort.

Er sah mich nur kurz an. "Natürlich tun wir das", sagte er. "Und wie wär's, wenn du schon mal ein heiles Auto suchst? Die hier sind ja alle demoliert."

"Komm gleich wieder", murmelte ich. Ohne große Hoffnung wandte ich mich nach links und ging die hinteren Reihen ab. Und tatsächlich fand ich einen dunkelblauen Jeep, der rundum heil zu sein schien. Ich machte die Tür auf, glitt auf den Fahrersitz und untersuchte das Armaturenbrett und das Handschuhfach. Natürlich war kein Schlüssel hinter der Sonnenblende deponiert, wie es in den Filmen oft der Fall war, aber als ich die Zündung hinein drückte, bekam ich wenigstens die Benzinanzeige: der Jeep war vollgetankt. Ich stieg wieder aus, merkte mir die Nummer des Autos und rannte ins Hauptgebäude, wo ich in einem Büro hinter der Auskunft tatsächlich einen Kasten mit Schlüsseln fand. Ich nahm den richtigen, ging zurück, stieg in das Auto und probierte den Schlüssel. Er passte, also ließ ich den Motor an und lenkte den Wagen auf den Hof, wo Felix gerade meinen Kofferraum inspizierte. Er sah auf und lächelte andeutungsweise, als ich aus dem Wagen sprang.

"Du hast ja an alles gedacht", sagte er. "Ich muss nur noch wenig dazu besorgen."

"Dann hilf mir doch am besten mal beim Umladen." Ich schnappte mir so viel wie ich tragen konnte und packte es in den Jeep. Felix trat hinzu und half mir.

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Eine halbe Stunde später war alles gepackt. Wir standen etwas linkisch neben dem Jeep und warteten darauf, dass der andere etwas tat. Schließlich lächelte Felix verhalten, schwang sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an.

"Kommst du?" fragte er.

Ich nickte nur, kletterte auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Felix schaltete auf "Drive", gab Gas und fuhr vom Hof. Ich lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und sagte eine Weile lang nichts. Auch Felix machte keinerlei Anstalten, ein Gespräch anzufangen, und so verlief der Beginn unserer gemeinsamen Odyssee in tiefem, wenn auch nicht unfreundlichem Schweigen.