Kapitel Drei -

Kennenlernen

Ich erwachte ungefähr eine Dreiviertelstunde später, als der Jeep ruckartig zum Stehen kam. Verschlafen sah ich mich um. Felix hatte den Blick auf die Straße gerichtet und fluchte leise. Ich sah nach vorne und schnappte nach Luft. Wohin man auch sah, die ganze Straße war mit Autos vollgestopft. Es hatte Dutzende von Unfällen gegeben; die Wagen waren ineinander verkeilt und übereinander geschoben.

Felix spielte unruhig mit dem Gaspedal und der Jeep machte winzige Hüpfer nach vorne. Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu und bemerkte die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet hatte. Ich traute mich nicht so recht, ihn anzusprechen, also ließ ich den Kopf wieder leise gegen das Fenster sinken und schloss erneut die Augen. Der Traum, den ich gehabt hatte, stand mir noch deutlich vor Augen: Ich hatte von einer alten schwarzen Frau geträumt, die in einem Maisfeld saß und zu sprechen schien. Aber ich hatte ihre Worte nicht verstehen und ihre Gesichtszüge nur erahnen können, da sie aus einer unheimlich großen Entfernung zu kommen schien. Ich meinte mich dunkel zu erinnern, dass sie englisch gesprochen hatte, oder besser amerikanisch, in dem breiten Akzent des Mittleren Westens. Das Traumbild stand mir immer noch so deutlich vor Augen, als wäre es nicht nur ein Traum, sondern eine Vision gewesen. Ich hoffte allerdings, dass es nicht so war, denn gegen Ende des Traumes war ein Schatten über die alte Frau gefallen und an ihre Stelle war ein riesenhafter grauer Wolf getreten, der mit gefletschten Zähnen direkt in meine Richtung zu sehen schien. Und obwohl ich Wölfe eigentlich sehr gern mochte - genaugenommen zählten sie sogar zu meinen Lieblingstieren - hatte mir dieses spezielle Exemplar Angst eingejagt. Die brennenden gelben Augen hatten etwas beunruhigend Menschliches an sich gehabt und das Tier hatte mich so gründlich gemustert, als ob es sich mein Gesicht merken wollte.

Ein äußerst ungewöhnliches Verhalten für Wölfe.

An diesem Punkt meiner Überlegungen drang Felix' Stimme in mein Bewusstsein.

"Bist du wach?"

"Mhm." Ich wandte ihm das Gesicht zu. "Wir stecken fest, wie?"

"Wie zu erwarten gewesen", bestätigte er. "Wir werden ausweichen müssen."

"Wo sind wir denn überhaupt?" fragte ich. Obwohl wir auf einer Autobahn waren, waren wir wohl gerade auf halber Strecke zwischen zwei Schildern. Ich sah jedenfalls keines.

Felix nannte mir den Namen der nächsten Stadt. Ich war entsetzt. "Aber das sind doch höchstens zehn Kilometer!" sagte ich. "Haben wir wirklich fast eine Stunde für zehn Kilometer gebraucht?"

"Na, fahr du doch mal, dann siehst du schnell, warum", gab Felix zurück. Sein Tonfall war zwar ruhig, aber ich hatte doch eine Spur Ungeduld darin bemerkt. Wenn ich es mir genau überlegte, konnte ich sie ihm auch nicht verdenken.

"Hast ja recht", lenkte ich ein. "Sorry."

"Schon gut." Felix warf mir einen schnellen Seitenblick zu. "Ich bin nur etwas gereizt. Hier ist alles dicht."

"Deshalb wollte ich ja einen Jeep", sagte ich. "Damit müssten wir eigentlich prima querfeldein fahren können."

"Was du nicht sagst!" Der nächste Seitenblick war eindeutig leicht spöttisch und ich ärgerte mich plötzlich über ihn. Wahrscheinlich war er doch nicht so liebevoll und geduldig, wie ich vorhin gedacht hatte. Für einen Moment sah ich deutlich den Felix durchschimmern, den ich gekannt hatte. Mein Magen zog sich zusammen und ich begann meine Reaktion bereits zu bereuen. Was wenn er sich nach und nach doch als das Ekel entpuppen würde, das er damals gewesen war? Würde ich dann noch die Kraft aufbringen, mich wieder von ihm zu trennen, oder würde ich bei ihm bleiben, nur um nicht allein zu sein - egal wie masochistisch ich dabei auch sein musste? Ich hatte eigentlich nicht die geringste Lust, in einer perversen Abwandlung des Stockholmsyndroms für den Rest der Reise - wie lang sie auch dauern mochte - an jemandem festzukleben, der mich behandelte wie ein Stück Dreck.

Mochte er auch noch so attraktiv sein.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz, und obwohl ich sofort versuchte, mich gegen diesen Gedanken zu sperren, wurde es mir nur mit jeder Sekunde stärker bewusst: Felix war ein äußerst attraktiver junger Mann mit seinen dunklen Locken, den fast noch dunkleren Augen, der kurzen, geraden Nase und den wenigen Sommersprossen, die sich selbstbewusst über die Nasenwurzel verteilten. Seine Schultern waren breit und seine Hüften schmal, und der Rest seines Körpers war durchtrainiert aber nicht übermäßig muskelbepackt. Außerdem hatte er eine angenehme Stimme - ein Kriterium, das mich von vornherein für ihn einnahm. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie er wohl küsste. Bestimmt weich und mit viel Gefühl... nein, korrigierte ich mich, als ich unauffällig den Schwung seines Mundes genauer unter die Lupe nahm; bestimmt konnte er zärtlich sein, aber ebensogut konnte ich mir vorstellen, dass er hart und fordernd sein konnte. Dass er sich unter Umständen einfach nahm was er wollte.

Ich brach den Gedanken mit einer bewussten Anstrengung ab. Diese Überlegungen führten zu nichts. Außerdem waren sie erschreckend inkonsequent - eben hatte ich noch überlegt, ob diese Entscheidung wirklich die richtige gewesen war, und nun saß ich da und himmelte seine Attraktivität an. Wohin würde das noch führen?

Ich sah wieder aus dem Fenster. Wir fuhren mittlerweile in einem waghalsigen Slalom über die Felder, die die Autobahn säumten. Wir waren nicht die ersten, die auf diese Idee gekommen waren, aber meine Rechnung war glücklicherweise aufgegangen: diejenigen, die keinen Geländewagen hatten, waren hoffnungslos steckengeblieben. Außerdem waren es überraschend wenige, so dass wir immer wieder ein paar Furchen fanden, durch die wir holpern konnten.

"Hast du was dagegen, wenn ich das Radio anmache?" fragte Felix plötzlich.

"Nein, natürlich nicht", sagte ich. "Es wäre mir sogar sehr recht. Diese Stille macht einen ja wahnsinnig!"

Felix grinste in sich hinein, sagte aber nichts. Statt dessen langte er nach hinten, wo ein Stapel Kassetten griffbereit lag. Er griff blindlings eine heraus und schob sie ins Kassettenfach. Ein paar Sekunden später schallte Jimi Hendrix aus den Boxen. Ich atmete hörbar auf. Diese Stille, die nur von unserem Motorengeräusch unterbrochen worden war, hatte mich wirklich schon an den Rand des Wahnsinns getrieben. Außerdem fühlte ich mich jetzt weniger verpflichtet, Konversation zu betreiben.

"Wie lange wollen wir denn eigentlich fahren?" fragte Felix irgendwann. "Es wird bald dunkel."

"Das darfst du mich nicht fragen", sagte ich. "Ich weiß noch nicht einmal, wo wir eigentlich hinwollen, und ich schätze, du hast genauso viel Ahnung."

"Irgendwo nach Süden", sagte Felix vage. "Italien oder Südfrankreich... oder wie wär's mit Monte Carlo? Auf jeden Fall ans Meer. Dort ist es vielleicht noch eher möglich, irgendwo ein Plätzchen freizuschaufeln und sich niederzulassen."

Ich biss mir auf die Lippen um die Frage zu unterdrücken, wie es dann weitergehen sollte. Das stand bisher schließlich noch in den Sternen. Und es hing davon ab, ob wir auf dem Weg noch andere Überlebende aufgabeln würden. Wenn nicht... daran wollte ich gar nicht denken. Was, wenn wir wirklich in ganz Deutschland die einzigen Überlebenden waren? Würden wir dann aussterben? Und was, wenn wir die einzigen überlebenden Europäer waren? Ich hatte eigentlich keine große Lust, Adam und Eva zu spielen, um den Fortbestand der menschlichen Rasse zu sichern. Und mal von dem Fortpflanzungsproblem abgesehen gab es noch tausend andere Schwierigkeiten. Es gab keine soziale Ordnung mehr, keine Struktur. Gesetze wurden nicht mehr eingehalten und ethische Grundsätze nicht mehr beachtet. Zumindest war es vor zwei Wochen so gewesen. Inzwischen gab es keine Menschen mehr, die die Gesetze brechen konnten. Sollten wir wirklich noch auf andere Überlebende stoßen, so würden wir wieder bei Null anfangen müssen. Wir würden uns auf eine Verfassung oder etwas Ähnliches einigen müssen, Aufgaben verteilen, Anführer wählen, kurz: Eine neue Gesellschaftsordnung entstehen lassen. Und selbst dann würde es nicht so sein wie vorher. Wenn wir nicht zufällig aus jeder Berufssparte einen Vertreter haben würden, dann würde unheimlich viel Wissen und Können einfach im Sande verlaufen, weil niemand es weitergeben konnte. Vieles würde nie ans Licht kommen; wir würden viele Dinge nicht verstehen.

Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Augenblick, als mir mit einem Schlag die ganze Tragweite der Ereignisse bewusst wurde.

~~~~~~~~

Inzwischen war es stockfinster geworden und es hatte zu regnen begonnen. Die Scheibenwischer liefen zwar auf Hochtouren und die scharfen Scheinwerfer warfen zwei Lichtkegel in die Dunkelheit, aber trotzdem konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Außerdem stimmte irgend etwas an der Heizung nicht und es wurde immer kälter im Auto. Felix kauerte über dem Steuerrad und starrte angestrengt in die Dunkelheit, aber die Erschöpfung zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab.

"Wie wär's, wenn wir das nächste Motel anpeilen?" fragte ich.

"Eine gute Idee", sagte Felix. "Ich glaube sogar, ich habe vorhin ein Schild gesehen. Es ist nicht mehr weit."

"Wir könnten natürlich auch die nächste Ausfahrt nehmen und einfach in der nächsten Stadt in irgendein Haus gehen", sagte ich nach kurzer Überlegung. "Aber das ist mir ehrlich gesagt immer noch etwas unangenehm."

"Du bist ein grundanständiger Mensch, hab ich recht?" Felix warf mir einen schnellen Blick zu.

"Hast du ein Problem damit?" schnappte ich. Ich wusste selber, dass es übertrieben von mir war, mich gleich angegriffen zu fühlen, aber ich konnte nicht anders. Was war es nur, was mich so schnell auf die Palme brachte?

"Mit der Anständigkeit nicht", sagte Felix seelenruhig, "aber damit, dass du mich andauernd anzickst. Was hab ich dir denn getan?"

"Gar nichts", sagte ich nach einer kurzen Pause und fügte ein kleinlautes "Sorry" hinzu.

"Und falls es dich interessiert: Ich habe auch ein Problem damit, in fremde Häuser zu gehen", fuhr Felix fort. "Selbst wenn die Bewohner in einem Stapel im Keller liegen und keinen Mucks von sich geben."

"Da ist das Motel", sagte ich schnell, froh, eine Ablenkung gefunden zu haben.

"Gott sei Dank", seufzte Felix und lenkte den Jeep in die Auffahrt. "Ich freu mich jetzt auf was zu essen und auf ein Bett."

"Kompromiss", sagte ich. "Du entleichst die Betten und ich mache was zu essen."

Felix musste lachen. "Entleichen?" wiederholte er. "Hast du dir das gerade ausgedacht?"

"Natürlich", gab ich zurück. "Und das muss leider sein. Es sei denn, du findest ein paar unverseuchte Zimmer."

"Ich kann's ja mal versuchen." Felix parkte vor dem Hauptkomplex des Motels. Wir stiegen aus und rannten zum Haupteingang. Obwohl es nur ein paar Meter waren, waren wir beide völlig durchnässt, als wir die Lobby erreichten.

Ich sah mich um. Es war überraschend sauber und - das war das Erstaunlichste - ich sah keine einzige Leiche. Jetzt wo ich darüber nachdachte, fiel mir auch auf, dass es hier völlig neutral roch. Kein Verwesungsgestank.

Ich wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, aber als ich mich zu Felix umwandte, sah ich ihm an, dass er zu genau der gleichen Überlegung gelangt war.

"Wahrscheinlich hatten es alle viel zu eilig, so schnell wie möglich so weit wie möglich wegzukommen", sagte er. "Ich glaube nicht, dass sie sich die Mühe gemacht haben, in einem Motel abzusteigen und damit zwölf Stunden zu verschwenden."

"Das wird es sein", stimmte ich zu. "Vielleicht finden wir also wirklich ein paar unverseuchte Zimmer. Die Chancen stehen nicht schlecht, wenn ich mir das hier so ansehe." Ich deutete auf das Schlüsselbord hinter der Rezeption. Fast alle Schlüssel hingen an ihrem Platz, was bedeutete, dass am Ende kaum ein Zimmer vergeben gewesen war. Die Möglichkeit bestand, dass, als der Besucherstrom abgerissen war, die Angestellten noch hier gewesen und ihren Pflichten nachgegangen waren. Vielleicht würden wir also tatsächlich zwei Zimmer finden, die nicht nur leichenfrei sondern auch aufgeräumt und für Besucher vorbereitet waren.

"Wo ist denn die Küche?" fragte Felix. "Die haben doch sicher ein hauseigenes Restaurant hier, oder?"

"Ich mach mich gleich mal auf die Suche", sagte ich. "Hoffentlich haben sie ein paar haltbare Lebensmittel auf Vorrat. Ich habe eigentlich keine Lust, meine eigenen Vorräte gleich anzubrechen."

"Ich geh dann mal Zimmer suchen", sagte Felix, ohne auf meine letzte Bemerkung einzugehen. "Ich sag dir Bescheid, wenn ich welche gefunden habe. Dich find ich dann in der Küche, ja?"

"Wenn ich sie vorher finde..." sagte ich und machte mich ohne ein weiteres Wort auf die Suche. Ich hörte Felix' Schritte, die sich in die andere Richtung entfernten.

Ich ging um mehrere Ecken, kehrte zweimal wieder um, weil ich in einer Sackgasse gelandet war, und verfluchte im Stillen die Größe des Motels. Aber schließlich fand ich das Restaurant. Auch hier war es geradezu beängstigend leer. Zwar standen hier und da noch Essensreste auf den Tischen, aber auch hier sah ich keine einzige Leiche. Ich hoffte inständig, dass es in der Küche genauso war.

Tatsächlich! Auch wenn in der Küche ein größeres Chaos herrschte als in der Gaststube, so war doch alles soweit in Ordnung. Keine Leichen, keine Fliegen. Damit waren meine beiden größten Wünsche erfüllt und ich machte mich sofort daran, die Schränke zu inspizieren. Töpfe und Pfannen waren haufenweise vorhanden, und als ich die Tür zur Kühlkammer öffnete, erlebte ich eine weitere angenehme Überraschung: Anscheinend gab es hier ein Notstromaggregat, das sich eingeschaltet hatte, als der Strom ausgefallen war. Noch war alles in bester Ordnung, und ich beschloss, nicht mit dem Essen zu geizen. Wer wusste, wann wir das nächste Mal so viel Glück haben würden!

Als Felix eine Viertelstunde später durch die Tür trat, war ich bereits am Feuer beschäftigt. In der Pfanne brutzelten Schnitzel vor sich hin, außerdem hatte ich Reis und noch halbwegs frisches Gemüse gefunden. In einem Extratiegel versuchte ich mich gerade an einer selbst kreierten Soße, die dem Duft nach zu schließen recht gut zu gelingen schien.

"Ich hoffe, du bist kein Vegetarier", sagte ich, ohne mich umzudrehen. "Dann könnte ich dir höchstens Pizza anbieten."

"Schnitzel sind super", sagte Felix, trat neben mich und linste in die Pfanne. "Aber das können wir doch nie im Leben alles aufessen."

"Aber wir können uns mit den restlichen Schnitzeln kalte Sandwiches machen", entgegnete ich. "Die geben einen prima Proviant ab. Ich glaube nämlich nicht, dass jedes Motel, an dem wir halten, ein Notstromaggregat für die Kühlkammer hat. Zumindest kein so leistungsstarkes wie das hier." Ich deutete mit dem Kopf hinter mich. "Das muss seit über einer Woche laufen, aber man friert sich da drin immer noch den Arsch ab."

"Ich hab zwei Zimmer gefunden", informierte mich Felix. "Beide in Topzustand. Da hat bestimmt seit zwei Wochen keiner mehr drin geschlafen. Ist alles ein bisschen eingestaubt."

"Um so besser." Ich wendete die Schnitzel und rührte gleichzeitig in der Soße. Dann verließ ich die Feuerstelle und wandte mich einer großen Schüssel zu, die ich daneben abgestellt hatte.

"Quarkspeise", erklärte ich auf Felix' fragenden Blick hin. Ich hatte fünf Pfund Quark gefunden, anscheinend ein Restposten, da das Haltbarkeitsdatum heute ablief, außerdem einige Gläser eingemachte Kirschen. Daraus ließ sich eine prima Nachspeise machen. Unter Felix' neugierigen Blicken leerte ich die Quarkbecher in die Schüssel und rührte dann, während ich mit der anderen Hand Milch hinzugoss. Als der Quark glatt gerührt war, gab ich einen halben Becher süße Sahne hinzu und machte mich dann auf die Suche nach Vanillezucker. Ich fand welchen, schüttete neun Päckchen hinein, gab noch eine großzügige Portion weißen Zucker hinzu und verquirlte das Ganze, bis es eine weiche, glatte Masse ergab. Dann leerte ich drei Gläser eingemachte Kirschen hinein, rührte ein letztes Mal und deckte die Schüssel dann mit einem Stück Frischhaltefolie ab.

Felix hatte derweil kommentarlos die Servierplatten und -schüsseln geholt und wartete neben der Feuerstelle. Gemeinsam füllten wir unser Festmahl auf die Servierplatten um, stellten alles auf einen bereitstehenden Servierwagen und fügten Teller und Besteck hinzu. Obwohl wir uns nicht abgesprochen hatten, stimmten wir darin überein, das Essen auf unseren Zimmern zu uns zu nehmen.

Felix schob den Servierwagen aus der Küche und bog in den Flur ein. Ich folgte ihm, blieb aber plötzlich stehen und schlug mir vor den Kopf.

"Was ist denn?" fragte Felix und blieb ebenfalls stehen.

"Ich komm gleich nach, hab was vergessen", sagte ich. "Welche Zimmernummern?"

"124 und 125", sagte Felix. "Ich bring das Essen aber erst mal auf 124. Oder wolltest du dich mit deinem Teller zurückziehen?"

"Nein, natürlich nicht." Ich drehte mich um und sauste zurück in die Küche. Bei all der Kocherei hatte ich die Getränke völlig vergessen. Ich sah mich hastig in der Küche um, entdeckte ein Schild mit der Aufschrift "Weinkeller" und stürmte die Treppen hinunter. Als ich die vielen Regale mit den Weinflaschen sah, blieb ich stehen und lächelte. Ich konnte nicht anders. Ich ging die Reihen durch und entschied mich schließlich für einen Bordeaux. Ausgerüstet mit drei Flaschen, zwei Gläsern und einer zusätzlichen Karaffe Mineralwasser ging ich durch das Labyrinth der Gänge zurück und fand schließlich Zimmer 124. Ich donnerte mit dem Fuß gegen die Tür.

Felix öffnete die Tür, sah den Wein und grinste breit. "Das wird ja immer besser", sagte er, nahm mir die Flaschen ab und stellte sie auf den Tisch. Er hatte bereits die Deckel der Platten gelüftet, und bei dem Duft des Essens begann mein Magen lautstark zu knurren. Trotzdem nahm ich mir die Zeit, den Wein ordentlich einzuschenken, zwei Gläser mit Mineralwasser zu füllen und eine Kerze anzuzünden.

"Candlelight-Dinner", kommentierte Felix und warf mir einen Seitenblick zu. Ich spürte, wie ich rot wurde. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht!

"Reiner Zufall", sagte ich scharf. "Ich mag es nun mal so."

"Hey, schon gut!" Felix hob lachend die Hände. "Ist ja auch gemütlicher so."

Gemütlich war es in der Tat. Der Regen prasselte immer noch gegen die Fensterscheibe, aber hier drinnen war es warm, das Essen duftete gut und der dunkelrote Wein lockte. Ich ließ mich mit einem Aufseufzen auf meinen Stuhl fallen und griff nach der nächstbesten Platte. Felix tat es mir gleich.

Als wir beide vor unseren gefüllten Tellern saßen, schien die Zeit plötzlich stillzustehen. Wir sahen uns an. Keiner machte Anstalten, nach Messer und Gabel zu greifen, obwohl wir beide völlig ausgehungert waren. Der Moment dehnte sich und wurde zu einer Minute, in der wir uns einfach nur in die Augen sahen und kein Wort sagten. Schließlich senkte Felix den Blick und ich griff nach meinem Weinglas. Meine zittrigen Hände hätten es beinahe umgestoßen, so nervös war ich.

"Auf was trinken wir?" fragte ich. Meine Stimme klang viel zu laut in der Stille, die geherrscht hatte, und ich verzog das Gesicht. Aber Felix nahm nur sein eigenes Glas und hob es ebenfalls.

"Trinken wir auf diesen Abend", sagte er leise. "Einfach nur auf diesen Abend. Darauf, dass wir noch hier sind."

"Auf diesen Abend", wiederholte ich und stieß mein Glas sachte an seines.

~~~~~~~~

Zwei Stunden später hatten wir die zweite Weinflasche geleert und Felix rauchte die fünfte Zigarette. Direkt vor der Zimmertür war ein Zigarettenautomat, den Felix mit Hilfe unseres Wagenhebers in seine Einzelteile zerlegt und seines Inhaltes beraubt hatte. Ich hatte nur den Kopf geschüttelt - als strikter Nichtraucher war es mir schleierhaft, warum man sich wegen ein paar Schachteln Kippen so viel Mühe machte. Aber Felix ließ sich davon nicht stören, sondern qualmte einfach weiter, und mir war es immer noch lieber, eingenebelt zu werden, als allein in das andere Zimmer zu gehen, in dem es kalt und dunkel war. Insgeheim bereute ich meinen Vorschlag, die Nacht in getrennten Zimmern zu verbringen. Nicht, weil ich irgendwelche Hintergedanken hatte - ich hatte meinem Unterbewusstsein schlicht und einfach verboten, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen! -, sondern weil ich in den letzten Wochen so oft alleine gewesen war, dass es für zwei Leben reichte.

"Erzähl mir von dir", sagte Felix plötzlich und unterbrach damit die Stille, die seit einer Weile zwischen uns geherrscht hatte. "Wie ist es dir ergangen?"

"Ganz gut", sagte ich vage. "Ich hab mein Abitur gemacht und wollte eigentlich im September anfangen zu studieren." Ich schluckte, ließ es aber nicht zu, dass mir die Tränen wieder in die Augen stiegen. Felix merkte es natürlich trotzdem, denn er legte seine Hand für einen Moment auf meine und drückte sie sanft. Die Berührung jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, so dass ich meine Hand der seinen entzog. Felix sah mich für einen Moment aufmerksam an, dann senkte er den Blick und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Weinglas.

"Was wolltest du studieren?" fragte er.

"Jura", sagte ich. "Ich wäre so gerne Anwältin geworden."

"Ich wollte zur Polizei", sagte Felix. "Für Recht und Ordnung sorgen, du weißt schon. Streifenwagen fahren und so weiter."

Ich musste lächeln. Unsere Ziele hatten sich also gar nicht so sehr voneinander unterschieden.

"Warum Anwältin?" fragte Felix.

Ich zuckte die Achseln. "Ich fand das schon immer einfach cool", sagte ich und grinste. "Ein bisschen idealistisch vielleicht, aber ich wollte die Unschuldigen retten."

"Und die Schuldigen bestrafen?" fragte Felix mit einer hochgezogenen Augenbraue.

"Im Prinzip schon", sagte ich, "nur wäre das ja nicht mein Job gewesen, sondern der des Staatsanwalts."

Felix lächelte leicht, wurde aber sofort wieder ernst und schien seinen Gedanken nachzuhängen.

"Was für eine Strafe hat der wohl verdient, der die Supergrippe erschaffen hat?" fragte er leise.

Ich sah auf, unfähig, eine Antwort zu geben. Ich glaube, mir war bisher noch nicht klar geworden, dass Captain Trips eine biologische Waffe war, von Menschen entwickelt, um andere Menschen zu töten. Nun, das war ihnen gelungen. Der Entwickler der Supergrippe war zum Massenmörder geworden. Ich wollte gerade den Mund öffnen, um die schlimmsten Strafen vorzuschlagen, die mir einfielen, als Felix weiter sprach.

"Glaubst du, er ist genug gestraft?" fragte er.

Ich wollte gerade protestieren, überlegte dann aber noch einmal. "Er ist wahrscheinlich selbst schon längst tot", sagte ich ausweichend.

"Aber du weißt nicht, ob und wann er ein Opfer von Captain Trips gewesen ist", sagte Felix. "Vielleicht hat er lange genug gelebt, um zu sehen, dass seine Erfindung an diesem Genozid Schuld hat. Meinst du, er war dann immer noch stolz auf das, was er im Labor geschaffen hat?"

"Mein Gott, nein", sagte ich leise. "Er muss Höllenqualen gelitten haben."

"Also ist er genug gestraft?" fragte Felix noch einmal.

"Das ist er bestimmt", sagte ich und meinte es auch so. Ich konnte noch nicht einmal Hass auf den Mann - oder die Frau - verspüren, der Captain Trips auf die Menschheit losgelassen hatte. Wie schrecklich es auch war, dass man so eine Waffe überhaupt erst entwickeln musste - niemand hatte mit derartigen Folgen gerechnet, auch der Entwickler nicht. Ich wollte mir seine Gewissensqualen gar nicht vorstellen und war mir sicher, er hatte - sofern er nicht ein Opfer seiner eigenen Erfindung geworden war - Selbstmord begangen. Zumindest hätte ich das an seiner Stelle getan.

"Kannst du ihm jemals dafür vergeben?" fragte Felix. "Für all das hier?" Er machte eine vage Geste zum Fenster, gegen das immer noch der Regen prasselte. Ich folgte seinem Blick. Durch die nebligen Rauchschwaden seiner Zigarette sah ich nur stockdunkle Finsternis vor dem Fenster - neblig und dunkel wie meine eigene Zukunft und die von Felix und den anderen Überlebenden, sofern es noch welche gab. Und doch...

"Ich glaube schon", sagte ich leise. "Ja, ich glaube tatsächlich, das kann ich."