Enttäuschungen
Wir unterhielten uns noch lange. Als ich schließlich beschloss, dass es genug war, war es schon nach drei. Zumindest glaubte ich das; mit der gewaltigen Menge Rotwein, die ich intus hatte, war ich nicht mehr in der Lage, meine Uhr zu lesen. Aber die ungefähre Stellung der Zeiger (auch wenn es unbegreiflicherweise vier Zeiger waren anstatt zwei) konnte ich noch erkennen. Indem ich etwas Undeutliches murmelte, stand ich auf und versuchte, die Tür zu erreichen. Leider schwankte der Boden (oder zumindest kam es mir so vor) dermaßen hin und her, dass ich mich an der Tischkante festhielt und darauf wartete, dass das Schwindelgefühl nachließ. Was es natürlich nicht tat.
Felix erfasste meine Lage mit einem Blick, drückte seine Zigarette aus, stand auf und ergriff meinen Arm.
"Du hast wohl etwas zuviel von dem Wein gehabt, was?" fragte er mit gutmütigem Spott.
Ich versuchte, das zu verneinen, brachte aber keinen zusammenhängenden Satz heraus. Alles drehte sich um mich, und ich fühlte mich gleichzeitig seltsam leicht und unheimlich schwer. Als ob ich jeden Moment loslachen könnte - oder ebenso gut losheulen. Mit den letzten noch funktionierenden Resten meines Verstandes ärgerte ich mich über mich selber. Warum hatte ich so viel trinken müssen? Ich wusste doch genau, dass ich nicht so viel vertrug. Jedenfalls nicht so viel Wein. Bei Bier ging es schon eher, obwohl ich auch da spätestens nach dem dritten oder vierten zu lallen und zu torkeln anfing. Aber jetzt war es zu spät dafür, und die kleine Stimme der Vernunft in mir wurde schnell übermannt von einem Gefühl unglaublicher Müdigkeit. Ich wollte nur noch schlafen. Am liebsten auf der Stelle. Ich machte Anstalten, mich auf den Boden zu legen, aber Felix riss mich wieder in die Höhe.
"Doch nicht auf dem Fußboden!" sagte er energisch, konnte aber ein belustigtes Schmunzeln nicht unterdrücken. "Los, komm, ich schaff dich in dein Zimmer und ins Bett."
Das Wort "Bett" rief bei mir eine Assoziation hervor, die ich in meinem enthemmten Zustand sofort in die Tat umsetzen wollte. Ich blieb stehen, schlang Felix einen Arm um den Hals und ließ mich gegen ihn fallen. Er fuchtelte mit dem anderen Arm in der Luft herum, um sein Gleichgewicht zu wahren. Als er wieder sicher stand, legte er den anderen Arm um mich, um mir besseren Halt zu verschaffen. Aber das war es nicht, was ich im Sinn hatte.
"Küss mich", lallte ich.
"Was?" Felix sah mich verwundert an.
Ich grinste selig und versuchte, mich näher an sein Gesicht heran zu arbeiten. "Küss mich", wiederholte ich. "Wir müssen doch sowwwiso fffür'n Fortbesch-stand der menschlichn Rasse sorgn. Sin' ja sonsss keine mehr übrich..." Ich suchte mit dem einen Arm sicheren Halt in seinem Nacken und schob mich näher an ihn heran. Ich wollte eigentlich mit meinem Fuß lasziv an seinem Schenkel entlang fahren, aber da ich sowieso kaum stehen konnte, ließ ich es bleiben. Statt dessen hob ich den anderen Arm, legte ihn ebenfalls um seinen Hals und drängte mich so eng an ihn, dass sich meine Brüste an ihn pressten. Gleichzeitig versuchte ich, seine Lippen zu erreichen, aber Felix hatte den Kopf leicht zurückgelegt, und da er um ein ganzen Stück größer war als ich, hatte ich keine Chance. Mein alkoholvernebeltes Gehirn wollte den Gedanken, mein Wunsch sei vielleicht nicht ganz in Felix' Sinne, natürlich nicht akzeptieren, deshalb drängelte ich weiter.
"Wass'n los? Wir können doch gleich hier anf-fangn", sagte ich, und um zu verdeutlichen, was ich meinte, löste ich einen Arm von seinem Nacken und ließ meine Hand in Richtung seiner Lenden an seiner Seite hinunter gleiten. Kurz bevor ich jedoch mein Ziel erreicht hatte, packte Felix die besagte Hand und hielt sie fest umklammert.
"Lass das", sagte er ruhig. "Du bist total betrunken, du weißt nicht, was du tust."
"Klar weiß ich wassich tuuuh", protestierte ich. "Ich will dich doch nur fff..."
"Sei ruhig!" Felix' Stimme klang plötzlich scharf, so scharf, dass ich auf einen Schlag um einige Promille nüchterner zu werden schien. Beleidigt hielt ich den Mund, sah ihn an und schmollte.
"Du legst dich jetzt hin", sagte Felix, nun wieder ruhig. "Schlaf deinen Rausch aus und trink nächstes Mal nicht so viel, wenn's geht, ja?"
"Okeeeh", nuschelte ich. Ich trat einen Schritt zurück und ließ die Arme sinken. Nach einem Moment trat Felix wieder an meine Seite, ergriff erneut meinen Arm und führte mich, dieses Mal ohne Zwischenfälle, ins Nebenzimmer. Ich steuerte sofort auf das Bett zu, aber Felix hielt mich noch einmal zurück.
"Zieh dir wenigstens die Schuhe aus", sagte er. "Und die verqualmte Oberbekleidung."
Mit Mühe und Not schaffte ich es, den einen Knoten an meinem linken Schuh zu entwirren, aber an dem anderen verzweifelte ich.
"Hilfs-st du mir mal?" fragte ich. Mein Verstand klärte sich nun ziemlich schnell, und ich begann bereits, mich für meinen Auftritt von eben zu schämen. Was zum Teufel hatte ich mir dabei nur gedacht? In vino veritas, dachte ich peinlich berührt. Das hatte ich nun davon, dass ich mit einem wirklich attraktiven Mann in meinem Alter mitfuhr. Das hatte ja so kommen müssen... Hoffentlich sah Felix das Ganze nicht zu eng. Hoffentlich würde ich ihm morgen wieder unter die Augen treten können...
Felix jedenfalls zeigte keinerlei Anzeichen von Befangenheit. Er setzte sich neben mich auf das Bett und entwirrte geschickt mein verknotetes Schuhband.
"Brauchst du noch bei irgendwas Hilfe?" fragte er.
Ich schüttelte den Kopf und riss mich zusammen. Überdeutlich artikulierend sagte ich: "Ausziehen kann ich mich alleine. Und tut mir Leid wegen der blöden Szene von eben. Ich bin wirklich total betrunken. Tut mir ehrlich Leid, ich wollte nicht... ich meine, ich konnte doch nicht..."
Meine Stimme klang etwas weinerlich, weil mir der Gedanke im Hinterkopf saß, dass ich es mir doch gleich hätte denken können: Warum sollte irgendein attraktiver Mann etwas an mir finden?
"Ich hab einfach keine Wirkung auf Männer", jammerte ich drauflos, noch bevor ich mich selbst stoppen konnte. "Ich bin hässlich, zu dick und was weiß ich noch. Stimmt doch, oder? Ich werde also nie wieder einen Freund haben... du würdest mich ja noch nicht mal wollen, wenn wir beide die letzten Menschen auf der Welt wären! Und vielleicht sind wir das ja sogar! Du bist auch nur so ein Idiot, der nur auf langbeinige Blondinen steht, hab ich Recht? Aber leider ist keine Barbie mehr übrig für dich!"
Hör auf damit, schalt ich mich selbst. Das war wieder der Alkohol, der aus mir sprach. Felix hatte aufgehört, an meinem Schuh herumzunesteln und starrte mich an.
"Tut mir Leid", sagte ich noch einmal. "Ich bin so besoffen... hör am besten gar nicht hin!"
Ich kam mir langsam völlig verrückt vor - zuerst redete ich Blödsinn, dann war ich klar, dann jammerte ich wieder weinselig vor mich hin, jetzt war ich wieder klar...
Felix schleuderte meinen Schuh mit einer plötzlichen Bewegung quer durch das Zimmer.
"Kannst du dich endlich mal entscheiden, ob du betrunken oder auf dem Weg der Nüchternheit bist? Ich habe mir jetzt innerhalb von zehn Minuten Anmachen, Entschuldigungen, Anschuldigungen und Selbsterniedrigungen von dir angehört. Willst du wissen, warum ich nicht auf dich eingegangen bin? Ich wollte deinen Zustand nicht ausnutzen!" Mittlerweile brüllte er richtiggehend. "Ich dachte, du könntest es vielleicht am nächsten Tag bereuen! Verdammt, ich dachte ich tu dir einen Gefallen!"
Ich zuckte zusammen. Daran hatte ich wirklich nicht gedacht. Jetzt, wo sich mein Verstand von Minute zu Minute klärte, erkannte ich, dass ich wirklich mächtig blöd gewesen war. Was ich für Desinteresse gehalten hatte, war in Wirklichkeit Rücksicht gewesen. Feingefühl. Respekt.
Verdammter Mist!
"Es tut mir so Leid", wiederholte ich, mittlerweile zum dritten Mal. "Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich wollte das nicht, ehrlich. Danke für deine Rücksicht."
Felix sah mich kühl an. "Jetzt sind wir also wieder nüchtern, was?"
"So gut wie", sagte ich. "Ich meine, nein... aber ich werde jetzt keinen Anfall mehr kriegen. Ich wollte dich nicht so anzicken. Oh Gott, du musst jetzt ja 'nen tollen Eindruck von mir gewonnen haben."
"Du hast dich verhalten wie eine blöde Ziege", sagte Felix mit brutaler Offenheit. "Und ich glaube, ich werde jetzt am besten gehen."
"Es tut mir wirklich Leid", sagte ich kleinlaut. "Meinst du, du hältst es trotzdem weiterhin mit mir aus? Ich werde auch nicht mehr so viel trinken, versprochen."
Felix drehte sich in der Tür um und sah auf mich hinunter. "Mal sehen", sagte er. Ich war mir nicht ganz sicher, meinte aber, ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen gesehen zu haben. Und hatten sich nicht seine Lippen ganz leicht gekräuselt? Vielleicht würde morgen wirklich wieder alles in Ordnung sein.
"Gute Nacht", sagte ich zaghaft.
"Gute Nacht." Felix lächelte nicht wirklich, sah aber freundlicher drein. "Und zieh dich noch um", setzte er hinzu. "Vergiss nicht, dass die Duschen nicht funktionieren."
"Alles klar." Ich wuchtete mich noch einmal hoch und machte Anstalten, meine Hose aufzuknöpfen, als Felix sich noch einmal umsah.
"Du bist nicht hässlich oder zu dick oder sonst irgendwas", sagte er sanft. "Du findest schon noch den richtigen Mann."
Ich glotzte ihm mit offenem Mund hinterher, als er die Tür endgültig schloss und ich seine Schritte auf dem Gang hörte. Das klang ganz nach einem Versöhnungsangebot.
Beruhigt entledigte ich mich der nach Rauch stinkenden Klamotten und schlüpfte in Unterwäsche wieder ins Bett. Ich schlief schnell ein und träumte wieder von der alten schwarzen Frau. Aber dieses Mal schien sie noch weiter entfernt zu sein.
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Ich wachte mit einem Mordskater auf - hämmernde Kopfschmerzen, trockener Mund, Schwindelgefühl, das volle Programm eben. Ich wollte nicht wissen, wie viel Restalkohol ich wohl noch im Blut hatte. Auf jeden Fall zuviel.
Die Sonne war schon längst aufgegangen und es war heiß draußen. Der gestrige Regenguss hatte so gut wie nichts gebracht. Höchstens ein Abkühlung von achtunddreißig Grad auf dreißig, was aber kaum zu spüren war - Hitze war Hitze. Mir lief der Schweiß herunter und ich überlegte fieberhaft, wo ich mich waschen konnte. In meinem jetzigen Zustand wollte ich Felix auf gar keinen Fall unter die Augen treten.
Felix! Mit einem Mal fielen mir die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder ein und ich stöhnte laut auf. Himmel, wie betrunken war ich gewesen! Ich wurde rot bei der Erinnerung daran, was ich ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Das war das Schlimme, wenn ich Alkohol trank: Leider hatte ich am nächsten Tag keinen gnädigen Filmriss, sondern konnte mich ganz genau an alles erinnern. Das war meistens viel schlimmer, als wenn man durch Dritte von seinem unmöglichen Benehmen erfuhr - dann konnte man besser darüber lachen, weil man es nur erzählt bekam...
Ich stand auf und blieb für einen Moment schwankend stehen. Mein Kopf dröhnte und hämmerte. Ich sah mich im Zimmer um, fast am Verdursten. Leider war nichts da; die Karaffe mit dem Mineralwasser hatte ich gestern bei Felix stehen lassen. Also musste ich wohl oder übel mein Zimmer verlassen und mich auf die Suche nach Wasser machen.
Nachdem ich mir den moteleigenen Bademantel übergeworfen hatte - denn in meine stinkenden Kleider von gestern wollte ich wirklich nicht mehr schlüpfen - verließ ich den Raum und schlug den Weg zur Lobby ein. In Felix' Zimmer, an dem ich vorbeikam, war alles still. Ob das allerdings daran lag, dass er noch schlief, oder dass er sich gar nicht mehr darin aufhielt, konnte ich nicht sagen, hoffte aber ersteres. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es kurz nach zehn war. Ich hatte also eine gute Chance, die erste zu sein - normalerweise war ich immer diejenige, die nach einer derartigen Nacht bis ein Uhr mittags schlief. Dass ich so früh auf war, war wirklich eine Ausnahme - vielleicht hatte Felix ja einen besseren Schlaf als ich.
Ich tappte barfuß durch die Lobby und zum Auto, um mir neue Klamotten zu holen. Auch meine Zahnbürste und die Waschutensilien waren noch im Kofferraum. Ich schnappte mir alles und umrundete dann das Motel in der Hoffnung, einen Bach oder See zu finden. Ich hatte tatsächlich Glück: hinter dem Motel verlief ein mittelgroßer, klarer Bach, der einen sehr sauberen Eindruck machte. Ich warf den Bademantel erleichtert von mir und badete ausgiebig, wusch mir die Haare, putzte mir die Zähne und erledigte überhaupt all das, was uns Frauen eigen ist, wenn wir nur genug Zeit haben. Insgesamt verbrachte ich fast eine Dreiviertelstunde an dem Bach, dann kehrte ich - frisch gewaschen, eingecremt und enthaart und in einen Wickelrock und ein einfaches Top gekleidet - zum Motel zurück, ging geradewegs in die Küche und setzte einen Topf Wasser auf das Feuer. Ich hatte vor, eine Riesenmenge Kaffee zu kochen. Ich würde mindestens fünf Tassen brauchen, um mich wieder wie ein normaler Mensch zu fühlen, auch wenn das Bad mir schon um einiges geholfen hatte.
Ich war gerade dabei, den Kaffee abzumessen, als die Tür aufschwang und Felix in die Küche kam. Er blieb stehen, als er mich sah. Ich hielt in meinem Werkeln inne und sah ihm unsicher entgegen.
Für einen Moment blieb es still.
"Morgen", sagte ich schließlich und lächelte zaghaft. "Kaffee ist gleich fertig."
"Perfekt", sagte Felix und streckte sich. Ich musste schlucken. Er hatte den Bach wohl ebenfalls entdeckt, war jedenfalls auch frisch gewaschen, und sein Haar war nass. Wassertropfen perlten über seine Haut und rollten wie Tränen über seine klar geformten Wangenknochen. Etwas Schaum war ihm hinter einem Ohr kleben geblieben, aber ich konnte ihn einfach nicht darauf aufmerksam machen. Seine ungezügelte Attraktivität verschlug mir einfach den Atem. Schnell drehte ich mich zu dem Kaffee um und maß weiter ab.
"Alles in Ordnung?" fragte Felix hinter mir. Ich hörte seine Schritte näher kommen und sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass er mich um Gottes Willen nicht berühren sollte. Ich würde sonst wahrscheinlich entweder in Tränen ausbrechen, ersticken oder über ihn herfallen.
"Ja, ja", sagte ich hastig und tat unheimlich beschäftigt. Zum Glück wurde mein Gebet erhört, denn Felix trat zum Schrank und holte Tassen heraus. Ich wirbelte derweil weiter, um etwas zum Frühstücken zu organisieren. Ich würde zwar garantiert nichts essen, aber das musste Felix ja nicht wissen.
Natürlich erfuhr er es zwangsläufig, als wir uns im Restaurant an einen Tisch setzten und ich mich störrisch an meiner Kaffeetasse festhielt und mich weigerte, auch nur eine halbe Semmel zu essen. Nachdem er mich zunächst misstrauisch angesehen hatte, als ob er prüfen wollte, dass ich nicht plötzlich magersüchtig wurde, verzog sein Gesicht sich zu einem Grinsen.
"Verkatert?" fragte er.
Ich nickte nur und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
"Geschieht dir recht", sagte Felix ungerührt. "Was trinkst du auch so viel? Kannst du dich überhaupt noch an alles erinnern?"
Ich linste über den Rand meiner Kaffeetasse zu ihm hinüber, aber er schien völlig locker zu sein und das ganze Theater von gestern wirklich nicht zu ernst zu nehmen. Ich war erleichtert.
"Ich weiß noch alles, und du glaubst gar nicht wie peinlich mir das alles ist, können wir jetzt bitte das Thema wechseln?" sagte ich in einem Atemzug und wurde wieder rot. Schnell versteckte ich mich hinter meiner Kaffeetasse.
"Hey, muss dir nicht peinlich sein", sagte Felix. "Ich weiß selber, was Alkohol für eine Wirkung haben kann. Erst recht, wenn man ihn anscheinend nicht gut verträgt!"
"Gestern hast du dich aber noch ganz anders angehört", sagte ich. "Du hast mich ganz schön angebrüllt. Hattest allerdings auch jedes Recht dazu", fügte ich schnell hinzu, als ich sah, dass er etwas erwidern wollte. "Und außerdem kann ich dich voll und ganz verstehen. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie das alles ausgegangen wäre, wärst du so blau gewesen und ich halbwegs nüchtern."
"Ganz anders wahrscheinlich", sagte Felix trocken und nahm sich noch eine Semmel. "Und jetzt lass uns lieber überlegen, was wir als heutiges Etappenziel anpeilen wollen."
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Eine Stunde später hatten wir alles gepackt und verstaut und waren wieder unterwegs. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir uns alle paar Stunden mit dem Fahren abwechseln würden. Momentan saß wieder Felix am Steuer, da ich mir um meinen Restalkohol noch einige Sorgen machte, und schließlich brauchte man hier alle Konzentration, um nicht auf das nächste Auto aufzufahren. Also saß ich auf dem Beifahrersitz und spielte an dem Radio herum. Ich schob andauernd eine neue Kassette hinein, spulte hin und her und nahm sie schließlich wieder heraus.
Als ich wieder einmal eine weitere Kassette genervt herauszog, stieß ich mit der Hand an den Senderregler, der sich prompt verschob. Plötzlich erfüllte statisches Rauschen das Auto, ab und zu unterbrochen von Musikfetzen. Ich wollte schon die nächste Kassette holen, als ich plötzlich wie von der Tarantel gestochen herumfuhr. Neben mir atmete Felix scharf ein und stieg mit voller Wucht auf die Bremse. Wir kamen schlingernd und rutschend zum Stehen. Dann beugten wir uns beide schnell zum Radio und stießen heftig mit den Köpfen zusammen.
"Au", stöhnte ich, als mir der stechende Schmerz wieder durch den Kopf fuhr. Gerade hatte ich geglaubt, den Kater überwunden zu haben... Ich presste beide Hände gegen meine Schläfen und beugte mich wieder zum Radio, dieses Mal allerdings langsamer.
Felix war bereits dabei, den Regler vorsichtig zu drehen, um den Sender, von dem die Musik kam, besser rein zu bekommen. Wo Musik lief, musste der Radiosender auch besetzt sein... wenn wir wussten, welcher Sender das war, dann würden wir einen weiteren Überlebenden finden... Ich biss mir vor Aufregung die Innenwände meiner Wangen wund, während Felix den Regler zentimeterweise drehte, um den Sender ja nicht zu verlieren. Schließlich wurde die Musik deutlicher. Ich erkannte "Don't Fear the Reaper" von Blue Öyster Cult. Der Song war fast aus, und Felix und ich wechselten einen Blick. Was würde jetzt kommen? Würde tatsächlich ein wirklicher Moderator durch eine Radioshow leiten oder war das Ganze nur eine automatisch programmierte Sendung?
Während die letzten Takte des Songs ausklangen, tastete ich blindlings nach Felix' Hand, fand sie und drückte sie fest. Felix erwiderte den Druck warm und fest. Der Song klang aus, und...
"... das waren Blue Öyster Cult mit 'Don't Fear the Reaper'. Und der nächste Song ist nun wieder etwas besser gelaunt, und vor allem sommerlich! Passt ja auch viel besser zum Wetter, nicht wahr? Mannomann, ist das eine Hitze hier im Studio... aber man nimmt ja so einiges auf sich, nicht wahr? Schließlich soll das hier mein Vermächtnis werden, meine letzte Radioshow. Sollte mich irgend jemand da draußen hören, dann beeilt euch mal mächtig, damit ihr mich noch in natura antreffen könnt, denn heute Abend hau ich ab! Ich hab diese Stadt satt! Ich hab dieses Land satt! Ich will nur noch weg von hier! Aber davor gibt's noch was auf die Ohren, und zwar von Mungo Jerrie, 'In the Summertime'! Ich bin euer DJ Marco und ich bin die letzte Stimme von Deutschland!"
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Für eine Weile sahen Felix und ich uns nur fassungslos an und sagten kein Wort. Wir waren beide immer noch wie vor den Kopf geschlagen. So plötzlich herauszufinden, dass es noch mindestens einen weiteren Überlebenden gab, war mehr, als wir verkraften konnten.
Nach einer Ewigkeit hob Felix wie in Trance die Hand und drehte das Radio lauter. Wir beide saßen still da und lauschten dem fröhlichen Rhythmus von "In the Summertime". Wir brauchten beinahe das ganze Lied, bis wir wieder sprechen konnten.
"Was für ein Sender ist das?" fragte ich schließlich. Meine Stimme klang heiser vor Aufregung und zitterte tief in meiner Kehle. "Wo sitzt der?"
Felix zuckte die Schultern. "Die Frequenz ist 105.7", sagte er. "Ich habe keine Ahnung, wie der Sender heißt. Höchstwahrscheinlich kennen wir ihn auch gar nicht. Wir sind inzwischen schon zu weit von zu Hause weg. Wahrscheinlich irgendein kleinerer Sender."
"Das muss doch rauszufinden sein", sagte ich aufgeregt. "Warten wir, bis der DJ wieder was sagt, vielleicht sagt er ja den Sendernamen, und dann können wir in der nächsten Stadt im Radioarchiv nachschauen..."
"Wir werden ihn schon aufspüren", unterbrach Felix mich. "Warten wir mal ab."
Also warteten wir. Nach "In the Summertime" kam irgendwas von Bruce Springsteen (ich hatte den "Boss" noch nie so gehasst wie in diesem Moment), dann knirschte es kurz im Äther und Marco war wieder zu hören.
"Yeah! Der Boss ist doch einfach der Größte! Ich bin DJ Marco und das hier ist mein Schwanengesang auf Omega Beta Zeta Radio."
Felix und ich wechselten einen Blick. Omega Beta Zeta? Mir sagte der Name gar nichts. Drei griechische Buchstaben, na toll. Nichts, was Aufschluss über die Stadt gab, wo der Sender herkam. Wenn er wenigstens "Holstentor-Radio" oder "Kölner Supermucke" oder "Radio Stadtmusikanten" geheißen hätte, dann hätten wir auf Lübeck, beziehungsweise Köln oder Bremen zusteuern können und hoffen, dass der Sender auch wirklich aus der jeweiligen Stadt kam, deren Wahrzeichen er benutzte. Aber Omega Beta Zeta konnte überall herkommen.
"Fürs Logbuch", redete Marco weiter, "ich verbringe heute meinen fünften Tag alleine im Studio und dudele alle Platten rauf und runter, die hier so rumfliegen. Bald hab ich alle durch, und dann hab ich die Wahl: Entweder fang ich von vorne an oder ich geh zu deutschen Schlagern über. Oder wie wär's mit echt bayerischer Blasmusik? Ich hätte auch noch Mozart im Angebot, oder Beethoven. Glaub ich zumindest."
"Kann der nicht endlich aufhören rumzulabern und uns einfach sagen, wo er ist?" murmelte ich.
Felix warf mir einen schnellen Seitenblick zu.
"... als nächstes haben wir hier die Nachrichten. Mal sehen, was heute in der Welt passiert ist." Marco räusperte sich übertrieben. "Oh, na so was. Hier steht ja gar nichts auf meinem schlauen Zettel. Sieht so aus, als wäre gar nichts passiert. Keine Revolution, keine politischen Intrigen, keine Olympiade. Die Welt geht vor die Hunde, wenn sogar die Bevölkerung schon längst draufgegangen ist. Die Insekten freuen sich."
Ich verdrehte die Augen. So sehr ich mich freute, eine menschliche Stimme zu hören - der DJ redete um den heißen Brei herum.
"Und nun die Verkehrsmeldungen", fuhr Marco derweil fort. "Alle Autobahnen sind verstopft, die Flughäfen sind stillgelegt, und die Fahrradwege würde ich an Ihrer Stelle nicht benutzen. Gute Reise wünscht Ihnen Omega Beta Zeta Radio! Ich bin DJ Marco, und das hier ist meine letzte Sendung auf diesem beschissenen Sender! Ich werde ja sowieso kein Gehalt mehr kriegen, also kann ich ebenso gut aufhören mit dem Blödsinn. Und das werde ich auch. Ich werde der E-Kirche noch einen Besuch abstatten, die Oberstadt besichtigen, und dann werde ich mit meinem kleinen Kanu die Lahn runterpaddeln, einem schöneren Ziel entgegen!"
Felix' Kopf ruckte herum. "Lahn?" rief er. "Hat er eben Lahn gesagt?"
"Hat er", bestätigte ich. Im Kopf suchte ich bereits fieberhaft nach einer Stadt an der Lahn. Frankfurt? Nein, das lag am Main. Stuttgart? Erst recht nicht. Meine Geographiekenntnisse waren leider nur sehr beschränkt, aber immerhin hatte ich eine vage Vorstellung davon, wo die Lahn floss.
"Auf jeden Fall müssen wir irgendwie Richtung Frankfurt", sagte ich. "Die Lahn ist, glaub ich, nicht ganz so lang. Kannst du mit den anderen Begriffen was anfangen? Oberstadt und E-Kirche?"
Felix schüttelte den Kopf, während in meinem Gehirn plötzlich eine Sirene losging. Mir kam es plötzlich so vor, als ob ich die Antwort wüsste... Oberstadt? Ich wusste ganz sicher, dass ich das schon mal gehört hatte...
"Marburg!" rief ich aus. "Er ist in Marburg an der Lahn!"
Felix starrte mich an. "Bist du sicher?" fragte er aufgeregt.
Ich nickte heftig. "Ja! Die E-Kirche... das ist die Elisabethkirche in Marburg. Und die Oberstadt ist die Altstadt, die liegt nämlich auf dem Berg. Der neuere Teil heißt Unterstadt. Himmel, warum hab ich nicht gleich geschaltet? Ich war vor einem halben Jahr erst da, verdammt!"
"Wirklich?" Felix wandte sich vollends zu mir um. "Mein Gott, dann nichts wie hin! Gut gemacht! Wenn ich dich nicht hätte!"
Er beugte sich zu mir herüber, umfasste meinen Nacken mit einer Hand und zog meinen Kopf ein Stück zu sich heran. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er mich fest auf die Lippen geküsst - flüchtig und intensiv zugleich. Ich erstarrte für einen Moment, dann jagte mir ein so heftiger Schauer den Rücken hinab, dass ich fröstelte. Es war nicht einfach nur ein Küsschen gewesen, kein flüchtiges Streifen meiner Lippen mit seinen. Ich fühlte noch die Berührung seiner Zunge, die mir kurz über die Lippen gefahren und dann - für einen winzigen Moment - in meinen Mund geglitten war und dort eine brennende Spur hinterlassen hatte. Aber bevor ich den Moment wirklich realisiert hatte, war er schon wieder vorbei und Felix warf sich in den Fahrersitz zurück, riss das Lenkrad nach links und trat rücksichtslos das Gaspedal nieder. Der Jeep schoss vorwärts und ließ die Autoschlange hinter sich. Wir holperten wieder einmal durch ein Feld, aber das war uns egal.
Zumindest war es Felix egal, der die Augen fest auf das Gelände vor ihm gerichtet hatte, das Lenkrad umklammert hielt und keinen Blick an mich verschwendete. Ich kauerte auf dem Beifahrersitz und mein ganzer Körper schmerzte vor unerfülltem Verlangen. Meine Kehle war eng und trocken und mein Herz raste. Ich wagte nicht, mir mit der Zunge über die trockenen Lippen zu fahren, denn ich fürchtete, dass dann das Echo seiner Berührung verschwinden würde. Ich hatte einen leichten Geschmack von Rauch im Mund, und obwohl ich Zigarettenrauch normalerweise verabscheute, jagte gerade dieser Geschmack dieses Mal einen weiteren Schauer über meinen Rücken. Ich stöhnte ganz leise und krümmte mich.
Felix schien sich plötzlich wieder an meine Existenz zu erinnern.
"Alles in Ordnung?" fragte er und warf mir einen schnellen Blick zu.
"Ja, schon gut", sagte ich heiser. "Ich habe nur... äh, mir geht es nicht ganz so gut."
"Oh." Aus irgendwelchen Gründen wurde Felix leicht rot und richtete den Blick schnell wieder auf die Straße. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er wahrscheinlich dachte, ich hätte meine Tage. Sollte er doch. Immer noch besser, ich ließ ihn in dem Glauben, als dass ich ihm sagte, was wirklich gerade in mir vorging.
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"ΩΒΖ RADIO - Für Marburg" stand auf dem kleinen Schild an der Klingel. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade des Gebäudes hoch. Es war ein modernes Bürogebäude, in dem der Radiosender anscheinend ein Stockwerk gemietet hatte.
Felix trat neben mich. "Meinst du, er ist noch da?" fragte er.
Ich zuckte die Achseln. Marco hatte vor einer Viertelstunde aufgehört zu senden - gerade als wir die Autobahn verlassen und nach Marburg hineingefahren waren. Wir hatten zwar sofort hingefunden - Marco hatte die Adresse durchgesagt und ich hatte gewusst, wo die Straße war -, aber trotzdem war nicht gesagt, dass wir Marco auch wirklich noch antreffen würden. Felix war gefahren wie ein Verrückter, hatte rücksichtslos liegengebliebene Fahrräder umgemangelt und sich nach einer Weile auch nicht mehr die Mühe gemacht, den Leichen auszuweichen. Die Räder unseres Jeeps waren verklebt und verschmiert mit einer ekelhaften Mischung aus geronnenem Blut, Schlamm und einigen anderen Substanzen, an die ich gar nicht denken wollte.
"Nichts wie rein", sagte ich schließlich und versetzte der Tür einen entschlossenen Tritt. Sie schwang sofort auf, und Felix - der seine Zigarette achtlos über die Straße schnippte - und ich stürmten ins Haus und die Treppen hinauf.
"Hallo?" rief Felix, der mir einen Treppenabsatz voraus war. "Marco? DJ Marco? Bist du noch hier? HALLO!!!"
Keine Antwort. Mein Magen begann sich zusammenzuziehen. Was wenn er schon weg war? Wir hatten so gehofft, endlich einer weiteren lebenden Seele zu begegnen...
Wir hatten das vierte Stockwerk erreicht. Felix riss die Tür auf und stürmte in den Flur. Ich erwischte die zufallende Tür gerade noch rechtzeitig, stemmte sie wieder auf und stürzte hinterher. Felix rannte den Flur entlang, rief nach Marco und riss jede Tür auf, an der er vorbei kam. Alle Räume waren leer - bis auf einige Leichen, die an Schreibtischen saßen oder auf dem Boden lagen. Es war unheimlich, wie eine Geisterstadt. Ich erwartete fast, dass die Leichen jeden Moment zum Leben erwachten und ihr Werk fortsetzten. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab und folgte Felix, der mittlerweile bei der letzten Tür angelangt war, auf der "Studio" stand. Wenn Marco noch hier war, dann musste er dort sein. Die Tür war schalldicht, so dass das auch erklären würde, warum er nicht auf unsere Rufe reagiert hatte. Felix verharrte vor der Tür und sah sich zu mir um.
"Komm her", sagte er, und seine Stimme flatterte nervös. "Wenn er noch da ist, dann ist er hier drin."
Ich trat neben ihn. Felix zögerte noch für einen Moment, dann legte er entschlossen die Hand auf die Türklinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür.
