Kapitel 10

Waffenruhe

Tîriel hatte eine unruhige Nacht verbracht und war immer wieder von der Frage, die Glorfindel ihr gestellt hatte, aus dem leichten Schlaf geschreckt worden. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie gegen eine Verbindung war?

Das hätte so vieles einfacher gemacht, doch sie war in Arwens Spiel eingestiegen. Nun starrte sie auf die filigranen Muster an der Decke, die der Lauf der Zeit in das zartweiße Material gegraben hatte, ohne wirklich einen klaren Gedanken fassen zu können.

Wie seltsam es war, drang es in ihren Kopf, dass alles alterte und verging, egal, wie schön und magisch es war. Seit dem Tod ihrer Eltern waren gerade einmal zwei Monate verstrichen und noch immer fühlte sie die große Leere, die der Verlust in ihr hinterlassen hatte. Elronds Versuch, ihr einen Ehemann zuzuschanzen, hatte sie wütend gemacht, weil sie es nicht zulassen wollte, dass so schnell wieder jemand in ihr Leben trat.

Und ihren Zorn auf Elrond hatte sie auch auf Glorfindel gerichtet, obwohl er, ebenso wie iei, eigentlich unschuldig war. Ihre Mundwinkel zuckten kurz, als ihr einfiel, dass sie eigentlich gar nicht wütend auf ihn sein durfte und eigentlich wieder doch, weil er sie behandelte wie ein kleines, unmündiges Mädchen.

Seufzend rollte sie sich auf den Bauch und hieb in ihr Kopfkissen. Im selben Moment flog die Tür ohne Vorwarnung auf und Tîriel fiel fast vor Schreck entgültig von dem Laken.

Elrond stand in der Tür, dicht hinter ihm Glorfindel. Seine Robe war falsch geschnürt und sein Haar hing ihm wirr um die Schultern. Allein dieser Anblick genügte Tîriel, um aufzuspringen.

"Was ist passiert?"

"Arwen ist fort. Zunächst dachte ich, sie hätte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert, nachdem wir uns wegen ihres hirnrissigen Plans gestritten hatten. Doch als ich die Tür heute Morgen öffnen ließ, fand ich es leer. Ihr Pferd und diverse Vorräte sind verschwunden!"

"Was ist mit den Wachen?" Tîriel spürte, wie ihre Ohren rot anliefen, als sie den leisen Vorwurf in Elronds Stimme hörte.

"Wir haben sie wegen des Vorfalls im Wald zum größten Teil von den Pässen abgezogen, weil sie sehr übersichtlich sind", antwortete Glorfindel und zog ein Zitronengesicht, das seinesgleichen suchte. "Arwen dürfte jetzt gut einen halben Tag Vorsprung haben."

"Gut." Tîriel benötigte keine weiteren Erklärungen mehr. "Da ich mich habe hinreißen lassen, mit Arwen diesen Plan auszuhecken, bin ich bereit, die Konsequenzen zu tragen. Zuerst will ich allerdings helfen, sie zu suchen."

"Das dachte ich mir schon." Elrond seufzte und hob seine Hand in einer fahrigen Geste. "Die Suchtrupps treffen sich sobald wie möglich vor den Ställen. Glorfindel wird die Suche leiten, bleibt am besten bei ihm, weil Ihr die Gegend nicht kennt." Aufgrund der über seinen Kopf hin und her schießenden Blicke fügte er hinzu: "Vertragt Euch endlich!"

Tîriel nickte. Es gab wirklich Wichtigeres als ihre Fehde mit Glorfindel. Dieser beschränkte sich darauf, wortlos hinter Elrond zu verschwinden und sie hörte ihn den Gang entlang eilen. Wenn dies ein Waffenstillstand war, dann war er recht bröckelig.

***

Glorfindel zurrte den Bauchgurt seines Pferdes fest und stieg sich dann in den Sattel. Er hätte es ja zu gerne gesehen, dass Tîriel zu spät kam - dann hätte er seiner Empörung, die immer noch in ihm schwelte, Luft machen können.

Doch die Elbin trat in diesem Moment aus dem Haus und blinzelte in die Morgensonne. Eine wertvolle Lederrüstung umspannte ihren schlanken Oberkörper, ledernde Hosen sowie Arm - und Beinschienen aus glänzendem Mithril komplettierten das Bild der Kriegerin. Mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die bewiesen, wie wohl sie sich in der Montur fühlte, befestigte sie ihren Köcher am Sattel, rückte ihr Schwert zurecht und schwang sich auf den Rücken des Tieres.

Glorfindel fragte sich, wie blind er eigentlich gewesen war. Und wie dumm! Tîriels faustdicke Lüge, dass sie Pferde nicht mochte, hätte er mit ein wenig Nachdenken entlarven können - denn wie sollte sie anders von Düsterwald nach Bruchtal gelangt sein als auf einem Pferd?

Sie schien seine Gedanken zu erraten, denn als sie ihn ansah, zuckte ein kurzes, ein wenig spöttisches Lächeln um ihre feingeschwungenen Lippen. Doch dann richtete sich ihr Blick auf die Zwillinge, die als letzte Mitglieder des zwanzigköpfigen Suchtrupps in den Hof gerannt kamen und ihre Pferde bestiegen.

Den sonst so lebensfrohen jungen Elben war ihre Sorge deutlich anzusehen.

Dann gab Glorfindel seinem Hengst die Sporen und sie ritten aus dem Hof, in Richtung der Passstraße.

***

Wie um die Ernsthaftigkeit der Situation zu unterstreichen, zog sich der Himmel im Lauf des Vormittages zu. Sie suchten die nähre Umgebung ab, die schmalen Klüfte zwischen den Felsen, die langsam zum Gebirge anstiegen, doch sie fanden keine Spur auf dem felsigen Untergrund. Schließlich trafen sie auf der Strasse wieder zusammen.

Wir sollten uns trennen", schlug Elrohir vor und wischte sich fahrig das dunkle Haare aus dem Gesicht. "Ein Teil der Gruppe reitet hinunter zur Ebene. Mein Bruder und ich werden das übernehmen. Glorfindel, Tîriel, reitet Ihr hoch ins Gebirge, vielleicht will Arwen nach Lorien."

"Oder sie hat es sich schon wieder anders überlegt und ist auf dem Rückweg", scherzte Elladan, doch ein strafender Blick seines Zwillings brachte ihn zum Schweigen. "He, sie ist extrem wankelmütig", verteidigte er sich.

Tîriel musste ihm im geheimen Recht geben, doch sie behielt ihre Gedanken für sich. Viel interessanter fand sie die Tatsache, dass Glorfindel, der die ganze Zeit über in ihrem Rücken geblieben war, wohl um sie im Auge zu behalten, gerade einmal wieder ihren unteren Rücken in Augenschein nahm.

Obwohl er sich größte Mühe gab, sie vollkommen zu ignorieren, hatte sie doch die Blicke bemerkt, mit denen er sie maß. Sie verdrehte die Augen. Sie war doch kein Pferd, das man abschätzte, bevor man es kaufte.

"Gut", sagte Glorfindel und griff hart in die Zügel. Dann winkte er einige Krieger zu sich und trabte an, ohne noch einen Moment auf Widerspruch zu warten. Tîril sah ihm an der Ohrenspitze an, dass ihm ihre Nähe nicht passt. Männer! In einem Moment zogen sie einen mit den Blicken aufs, im nächsten sah man ihre kalte Schulter.

Oder einen Rücken, so wie den Glorfindels, auf den sie nun wieder eine Zeitlang starren durfte. Sie sandte einen kritischen Blick zum Himmel, der nun schiefergrau bewölkt war und tief über den Spitzen des Nebelgebirges hing. Sie hoffte nur, dass es Arwen gut ging.