3. Der Fall des Düsterwalds
Das Feuer kroch einen weiteren Stamm hoch. Langsam und doch unaufhaltsam durchdrang es die Rinde des Baumes, fand neue Nahrung und stieg und stieg. Die glatte abweisende Oberfläche der Buche, von der es sich nährte, machte ihm die Arbeit schwer, und gegen oben wurde es weniger, dann aber erreichte es die Blätter, die es zu neuem Leben entfachten. Zischend, da noch voller Saft, fielen sie den Flammen zum Opfer, und bald brannte der ganze Wipfel lichterloh. Das Feuer arbeitete, bis die Buche nur noch aus einem bizarr anmutenden Stumpf bestand.
Dann war es an der Zeit, den Boden entlang zu kriechen, sich von dem letztjährigen trockenen Laub zu nähren und einen neuen Baum zu suchen. Anfangs hatten sich ihm noch die Elben in den Weg gestellt, besonders, als es sich den hölzernen Hallen ihres Königs genähert hatte. Sie hatten Wasser geworfen und versucht, Gräben zu ziehen, um ihm jegliche Nahrung zu entziehen. Aber bald hatten sie damit aufgehört, weil die schwarzen Kreaturen gekommen waren. Es hatte Tumulte gegeben, Aufruhr und Kämpfe, was das Feuer nicht weiter störte; und bald darauf neue Nahrung. Ob es nun Elben waren oder die schwarzen Kreaturen - beide waren sie brennbar.
Bald wurde der Rauch dicker, und kleine Ascheteilchen regneten auf Pferd und Reiter herunter. Sie verglimmten auf dem Fell des Tieres, legten sich auf Legolas´ Kopf, Schultern, Gesicht und Hände, machten das Atmen zur Qual; und waren doch nichts weiter als die Vorboten der Feuerfront, die sich ihnen jetzt rasch näherte.
Mittlerweile konnte man es auch hören. Ein unheimliches Zischen, Knacken und Fauchen erfüllte die Luft, das Geräusch brennenden Holzes und sterbender Tiere, wie ein Mensch vielleicht sagen würde, oder das Stöhnen der Bäume, die von den gierigen Flammen verzehrt werden, wie es ein Elb ausdrücken würde. Ebenso wie die Asche schien dieses Geräusch von allen Seiten auf Legolas einzudringen und seine Sinne auszufüllen. Instinktiv spürte er den Wunsch, sich die Ohren zuzuhalten, die Augen zu schliessen und die Realität des Feuers so zu verneinen, aber selbst das hätte nichts geholfen, denn er konnte sie fühlen, und zwar deutlich.
Die Todesangst der Bäume und Tiere, die auf ihre Vernichtung warteten, war für ihn fast körperlich spürbar und lähmte ihn. Wie viele Waldelben war Legolas mit den Geschöpfen des Waldes auf eine den Menschen unverständliche Weise verbunden, und so teilte er jetzt ihre Qual und ihre Angst.
Seinem Pferd schien es ähnlich zu gehen. Die arme Kreatur war vor Panik halb von Sinnen. Mit gesträubtem Fell, wild verdrehten Augen und am ganzen Körper zitternd, tänzelte sie auf der Stelle, war kaum mehr vorwärts zu bewegen.
Trotz des Rauches atmete Legolas möglichst tief ein, um sich zu sammeln, denn jetzt musste er die Feuerfront durchqueren, und dazu brauchte er einen klaren Verstand. Er musste sein Pferd dazu bringen, geradewegs auf das Feuer zuzujagen, er musste eine Lücke in der Reihe der brennenden Bäume finden, und er musste schnell sein – dann würde es ihm gelingen, unbeschadet durch die Flammen zu kommen. Nur wo das Feuer hell aufloderte, war es wirklich gefährlich – hinter der Front würde es ertragbar sein.
Legolas fasste die Zügel fester und sah sich suchend um. Dann jagte er sein Tier mit einem schnellen Hieb mitten in die Flanken vorwärts, direkt auf das Feuer zu.
Gierig griffen die Flammen nach Pferd und Reiter, versengten Haut, Haare und Kleidung, machten das Atmen zu einem Ding der Unmöglichkeit, aber nur für einen Augenblick, dann hatten sie die Feuerfront hinter sich.
Statt lodernder Flammen erwartete sie nun eine bizarre Welt aus verkohlten Baumstümpfen, verbrannter Erde und leise glimmender Glut. Eine tote Welt, in der nichts mehr so war, wie es einmal gewesen war.
Legolas, der den Düsterwald – jedenfalls diesen Teil des Düsterwalds – wie seine Westentasche kannte, war zum ersten Mal in seinem Leben unsicher, wo er sich befand. Er zügelte sein Pferd. Das arme Tier, das buchstäblich auf glühenden Kohlen ging, war jetzt nur schwer zum Stillhalten zu bewegen, vom Instinkt getrieben, möglichst viel Abstand zwischen sich und das Feuer bringen. Aber wie sein Reiter sich auch umsah, er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.
Schliesslich zuckte er die Achseln und jagte sein Tier vorwärts. Irgendwann musste er ja auf andere Elben treffen, die sich vor dem Feuer in Sicherheit gebracht hatten. Und die hölzernen Hallen seines Vaters waren gross genug, dass man sie nicht verfehlen konnte.
Legolas traf keine Elben. Er fand auch nichts, woran er sich hätte orientieren können, obwohl sein Gefühl ihm sagte, dass die Hallen seines Vaters nicht allzu weit entfernt sein konnten. Nur der dünner gewordene Rauch, die Hitze, die etwas weniger unerträglich geworden war und die nur noch ab und zu aufglühenden Flammen sagten ihm, dass er sich bereits einiges von der Feuerfront entfernt hatte.
Eine schwarze, öde, zerstörte Welt umgab ihn, bar jeglichen Lebens. Sie spiegelte das, was Legolas selbst empfand: Eine düstere schwarze Wolke der Hoffnungslosigkeit hatte sich über sein Gemüt gesenkt, die es ihm schwer machte, etwas zu tun, einen Sinn im Weiterreiten zu sehen oder überhaupt etwas zu fühlen.
Sein Vater war tot, und jetzt stand auch noch der Düsterwald in Flammen, so, dass der Waldelben Heimat ernstlich bedroht war... Bereits zum zweiten Mal jetzt fühlte Legolas etwas von der unendlichen Trauer, die selbst die unsterblichen Elben in den Tod zu treiben vermag, und die sein innerstes Wesen angriff. Instinktiv jedoch wusste er, dass jetzt nicht der Augenblick war, sich dieser Trauer hinzugeben, und wie um der unheimlichen Traurigkeit auch physisch zu entfliehen, malträtierte er sein armes Pferd erneut mit den Hacken, um es anzutreiben.
Ueberrascht machte das Tier einige schnelle Sprünge vorwärts – und prallte fast gegen eine schwarze Kreatur, die dort im Dunkel gewartet hatte. Der wütende Aufschrei des Orks mischte sich in das schrille Wiehern des Pferdes. Es liess sich kaum sagen, wer wirklich überraschter war, auf einen Gegner zu treffen, doch es war der Elb, der sich als erster von seiner Ueberraschung erholte.
Legolas hatte den Vorteil, vom Pferd aus sein Schwert ziehen zu können, und der Ork schien durch etwas, das er in seinen Krallen hielt, behindert zu werden – jedenfalls fiel er mit durchbohrter Brust in die Asche zurück, bevor er sein Schwert auch nur halb gezogen hatte.
Und dies war Legolas´ Glück.
Der Ork war nicht allein gewesen. Mit furchterregenden Kampfschreien, die Zähne in den grässlichen Gesichtern gebleckt, attackierten plötzlich zwei weitere Orks den Elbenkrieger vor ihnen.Bei ihrem Anblick schoss augenblicklich eine Welle des Zorns und des Hasses in Legolas hoch. Was hatten diese Kreaturen hier zu suchen? Sie hatten wohl die Verwirrung, die während des Feuers entstanden sein musste, ausgenutzt, um auf Beutezug zu gehen, Leichen zu fleddern oder weiss Gott noch viel Schlimmeres zu unternehmen!
All dies ging in Bruchteilen von Sekunden durch des Elben Kopf, vertrieb die lähmende Traurigkeit darin und machte aus ihm einen gnadenlosen Kämpfer. All seine Trauer, sein Leid, das ihn beherrscht hatte, war jetzt umgewandelt in Hass und Blutdurst – beide Orks, bestimmt keine schlechten Kämpfer, fielen nur Sekunden nacheinander.
Ihr Blut versiegte zischend auf dem aschebedeckten Boden. Schweratmend sah Legolas einige Sekunden auf seine besiegten Gegner und versuchte mit all seiner Kraft, die Heftigkeit seiner Gefühle, die ihn eben beherrscht hatten, zu dämpfen. Für einige Sekunden hatte er eine derartige Lust am Töten verspürt, dass es ihm fast unheimlich wurde. Fast hätte er sein blutiges Schwert fallengelassen, dann aber umklammerte er es krampfhaft fester, während in seinem Kopf neue Horrorvisionen Form anzunehmen begannen.
Was hatten die Orks hier zu suchen? Waren diese Kreaturen wirklich nur Leichenfledderer? Gab es viele von ihnen hier? Und wo waren bloss die andern Elben? Oder hatten die Orks gar etwas mit dem Feuer zu tun? Wieder spürte er fast körperlich eine Woge des Hasses in sich aufsteigen, so intensiv, dass es ihm erneut die Kehle zuschnürte. Was auch immer die Orks vorhatten, sie würden es teuer bezahlen. Sie würden es teuer bezahlen...
Legolas brauchte nicht weit zu reiten. Schon bald hörte er Geräusche, die, obwohl noch weit entfernt, eindeutig Kampfeslärm entsprachen. Klar konnte er das Klirren von Metall hören, das Schreien von Kämpfenden und das triumphierende Gekreisch von Orks. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und seine Horrorvisionen nahmen konkretere Formen an. Noch mehr Orks... Und der Kampfeslärm war eindeutig: Sie schienen in ein Gefecht mit Elben verwickelt zu sein. Und er hatte keine Pfeile mehr, nur sein Schwert und seine Messer!
Nichtsdestotrotz jagte Legolas vorwärts. Er hatte jetzt ein klares Ziel vor Augen: Möglichst viele Orks, die Mörder seines Vaters, zu töten. Er hatte keine Angst um sein eigenes Leben, wenigstens nicht in dieser Nacht. Es war ihm egal, ob er lebte oder starb. Was zählte, war sein augenblicklicher Hass, der nach Ork-Blut verlangte, und er würde alles tun, um ihn zu stillen. Vermutlich war es der Hass, der Legolas diese Nacht überleben liess.
Die Nacht war schon der beginnenden Dämmerung gewichen, als er die Quelle der Kampfgeräusche erreichte. Auf den ersten Blick konnte er 15 Orks ausmachen, alle in voller Rüstung, bewaffnet mit Schwertern, Armbrüsten und einige mit Speeren. Sie drangen auf etwa 10 Elben ein, von denen Legolas zumindest deren Anführer gut kannte, aber er liess sich keine Zeit für Begrüssungsformalitäten, denn die Elben waren in Bedrängnis, obwohl sie sich tapfer schlugen.
Nur noch wenige von ihnen schienen Pfeile übrig zu haben. Zudem hatte sie das Feuer ihrer Verbündeten, der Bäumen, beraubt, und ohne diese Rückendeckung war es schwieriger, der Elben grösste Waffe, die Treffsicherheit mit dem Langbogen, auszuspielen. So schnell ein Elb auch mit dem Bogen sein mochte: Ohne Deckung machte der Augenblick des Anvisierens und Zielens unglaublich verwundbar...
Im Augenblick schienen noch drei Bogenschützen auf den Beinen zu sein. Sie standen Rücken an Rücken, um sich selbst wenigstens gegenseitig Deckung zu verschaffen, und sandten Pfeil um Pfeil gegen die attackierenden Orks. Sie mussten aufpassen, nicht aus Versehen einer der ihrigen zu treffen, die in Mann-gegen-Mann-Kämpfe verwickelt waren, denn die Elbenkrieger, russgeschwärzt und blutverschmiert, schienen erschöpft. Ihre Schnelligkeit und Beweglichkeit im Kampf hatte deutlich nachgelassen. Es konnte sich nur noch um eine Frage der Zeit handeln, bis die Orks, wenn auch deutlich dezimiert, den Sieg davontragen würden.
Die Flamme des Hasses loderte wieder hoch, als sich Legolas mit einem heiseren Schrei mitten ins Geschehen warf, und er hatte zwei der Orks getötet, bevor diese überhaupt wussten, was ihnen geschah. Sein Erscheinen löste kurzfristig etwas wie eine Panik unter diesen alptraumhaften Kreaturen aus, weil sie mit weiteren Elben zu rechnen schienen, die jeden Augenblick aus dem Wald hervorbrechen mussten.
Doch sie fassten sich schnell, als dies nicht geschah, und der grösste unter ihnen, ein riesiger Kerl mit rötlichem zottigem Haar und albinoartig leuchtenden Augen, rannte mit gezücktem Schwert auf den neu eingetroffenen Feind zu, während zwei andere ihre Armbrüste auf ihn richteten. Legolas nahm dies aus den Augenwinkeln wohl war, konnte aber nichts dagegen unternehmen, weil der angreifende Ork seine volle Aufmerksamkeit erregte.
Dieser war unglaublich schnell und fast ebenso unglaublich stark. Legolas, der keinen Schild besass, parierte dessen ersten Schwerthieb mit seinem Schwert. Der Schlag, der daraufhin seinen rechten Arm und seine Schulter durchfuhr, war so schmerzhaft, dass er ein Aufstöhnen nicht unterdrücken konnte, und unter der Wucht des Aufpralls ging er in die Knie. Einem zweiten wilden Schwerthieb konnte er noch auf dieselbe Weise entgehen, dann zerbrach sein Schwert unter den Hieben seines Gegners. Der Ork röhrte triumphierend und holte erneut aus. Diesmal liess sich Legolas absichtlich fallen, tauchte unter der Schwertklinge weg, rollte sich herum und kam seitlich von seinem Gegner wieder hoch. Gerade noch rechtzeitig konnte er vor dem nächsten Hieb wegtauchen, und dies gab ihm die Gelegenheit, endlich nach einem seiner beiden langen Messer zu greifen. Keine dieser Waffen würde zwar einem Schwerthieb standhalten können, aber wenn sich der Ork eine Blösse gab, dann würde es um ihn geschehen sein...
Gleichzeitig spürte Legolas eine leichte Uebelkeit in sich hochsteigen, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Der Kampf mit diesem Ork, obwohl er bisher nur einige Sekunden gedauert hatte, schien endlos. Die andern Orks mit den Armbrüsten, die er wahrgenommen hatte und die jetzt aus seinem Gesichtsfeld verschwunden waren, mussten längst schussbereit sein...
Ein erneuter Schwerthieb, wieder wich Legolas seitlich aus. Diesmal nicht schnell genug. Das Schwert riss seine Schulter auf, kostete Blut und sendete glühende Schmerzen durch seinen Körper. Und eine weitere Woge des Zorns. Aus halb knieender Stellung warf sich Legolas mit seinem ganzen Körpergewicht gegen vorne und prallte etwa auf Hüfthöhe gegen seinen Gegner. Dieser ging unter dem unerwarteten Angriff zu Boden, doch sein Schwert hielt er fest umklammert und hob es erneut, um seinen kleineren Gegner von sich wegzuschlagen. Damit hatte Legolas gerechnet, und mit einem raschen, geübten Hieb mit seinem Messer schlug er dem Ork die Schwerthand ab.
Dieser brüllte auf, ein Schrei, der rasch in ein Röcheln überging, als Legolas ihm die Kehle aufschlitzte.
Das Blut seines Gegners tropfte noch von seinem Messer, als er sich wild nach dem nächsten Feind umsah.
Die andern Elben schienen ob seinem unerwarteten Auftauchen neuen Mut gefasst zu haben, denn die Zahl der Orcs hatte sich vermindert. Sie hatten die beiden Armbrustschützen erledigt, die ihre Aufmerksamkeit nur auf den neuen Angreifer gerichtet hatten, ein Fehler den beide mit einem Pfeil in ihrer Kehle bezahlt hatten. Die andern Orks schienen alle in einen Zweikampf verwickelt zu sein, so dass Legolas erneut zwei Gegner ohne grosse Schwierigkeiten erledigen konnte.
Er wandte seine Aufmerksamkeit gerade einem dritten Gegner zu, als er eine Bewegung in seinem Rücken verspürte. Der Elb, der hinter seinem Rücken gekämpft hatte, war gefallen, und sein Bezwinger hatte sich einen neuen Opponenten ausgesucht: Legolas.
Sein erster Hieb war, da es sich um einen kleinen Ork handelte, zu tief angesetzt und traf Legolas, der schon halb herumgewirbelt war, etwa auf Hüfthöhe. Diesmal konnte er einen Aufschrei nicht unterdrücken, und er knickte seitlich ein. Instinktiv machte er eine fliessende Fallbewegung aus seinem Zusammenbrechen und tauchte unter dem nächsten, höher angesetzten Hieb weg. Seine Linke tastete nach den noch immer heissen Kohlestücken, die überall auf dem Boden lagen. Noch im Herumrollen warf er sie seinem Gegner ins Gesicht. Der Ork war nur für Sekundenbruchteile geblendet, weil Legolas nicht richtig getroffen hatte, aber das genügte dem Elben, um dem Ork mit einem schnellen Zug seines Messers die Kniesehnen durchzuschneiden. Dannach hatte er ein leichtes Spiel mit dem verwundeten Gegner, und ein weiterer Ork röchelte sein Leben aus.
Keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete Legolas sich auf. Seine linke Hüfte brannte wie Feuer, und seine rechte Schulter fühlte sich taub und gelähmt an. Dennoch warf er sich blitzschnell herum, das Messer hoch erhoben, als er erneut eine Bewegung in seinem Rücken verspürte – und bremste den bereits geführten Hieb nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht eines anderen Elbs ab.
"Nendrien!" brachte er schliesslich keuchend hervor und atmete tief ein, um die Wogen des Zorns und der Blutgier zu bekämpfen, die noch immer in ihm brodelten. Der als Nendrien angesprochene Elb, ein erfahrener älterer Hauptmann der königlichen Garde, war etwas zurückgewichen und betrachtete ihn besorgt.
"Jawohl mein Prinz" sagte er und sah erleichtert, wie Legolas verzerrte Züge sich allmählich entspannten. "Die Orks sind besiegt dank Deinem Kommen." "Doch zu welchem Preis..." fügte er in Gedanken hinzu, denn von den Elben hatten ausser ihm nur fünf den Kampf überlebt. Die andern lagen tot oder sterbend auf dem ascheübersäten Boden. Legolas, der vor Erschöpfung und Erleichterung jetzt fast taumelte, brauchte noch einige Sekunden, bevor er einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte:
"Was ist passiert, Nendrien?" fragte er leise. "Wo sind die andern Elben?"
Nendrien musterte ihn müde. Der Mann war, seit Legolas ihn das letzte Mal gesehen hatte, um 100 Jahre gealtert, und auch die Gesichter der andern Elben, die sich jetzt um sie geschart hatten, sahen müde und verzweifelt aus.
"Wir wissen es nicht, Prinz Legolas." antwortete schliesslich ein einfacher Soldat an Nendriens Stelle. "Das Feuer kam so plötzlich. Und von so vielen Seiten. Wir haben uns aufgeteilt, um es zu bekämpfen. Und dann wurden wir von Orks angegriffen. Wir wurden von den andern getrennt und.." er verstummte.
Legolas bemerkte plötzlich, wie ihn alle anschauten, und mit nicht geringer Ueberraschung realisierte er, dass die Elben um ihn herum nun von ihm eine Entscheidung erwarteten darüber, was nun zu tun sei.
Nun, die Antwort auf die unausgesprochene Frage, die in ihre Gesichter geschrieben stand, war einfach: Die Flamme des Hasses in ihm gab sie ihm ein.
"Bewaffnet euch und sammelt eure Pfeile ein." sagte er knapp. "Dann werden wir uns auf die Suche nach den andern Elben machen. Und nach weiteren Orks, die wir töten können."
Zufrieden sah er, wie in den erschöpften Gesichtern seiner Soldaten ebenfalls Zorn und Hass erwachte. Nur Nendrien betrachtete ihn womöglich noch düsterer als vorher.
Als es Mittag geworden war, trafen sie bei den Überresten von König Thranduils Palast ein. Sie und einige andere Elben, die sie beim Durchstreifen des zerstörten Düsterwald gefunden hatten. Alles in allem waren es vielleicht 200 Ueberlebende, die jetzt müde, verletzt und furchtbar verstört in den Trümmern ihrer alten Heimat kauerten. Mehr als Trümmer waren tatsächlich nicht mehr vorhanden, dafür hatte das Feuer und die plündernden Orks gesorgt.
Ab und zu war Legolas mit seiner kleinen Truppe auf solche gestossen, und sie hatten kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Es war eine Ironie des Schicksals, dass die Orks durch ihre Habgier den Tod fanden, da sie, vollbeladen mit Beutestücken, nicht rechtzeitig nach ihren Schwertern zu greifen vermochten... Niemand machte ihnen ihre Beute streitig, ob es sich nun um Schmuck, Waffen oder anderes handelte, und die Kostbarkeiten lagen nun als grotesker Schmuck über den Leichen der Getöteten.
Doch die meisten dieser Kreaturen hatten sich, als der Tag anbrach, zurückgezogen, so dass Legolas und seine Soldaten sich schliesslich darauf beschränkten, nach andern Elben zu suchen. Die Suche hatte erbärmlich wenig Erfolg gebracht, und Legolas hoffte verzweifelt, dass noch mehr Elben irgendwo da draussen waren als die 200, die sich bisher gerettet hatten.
Darunter waren Frauen, Kinder, Alte und Junge, aber nur noch etwa 50 Soldaten. Was, wenn die Orks in der nächsten Nacht zurückkamen? Natürlich würden sie erwartet werden, aber konnte man mit 50 Soldaten, die noch dazu nicht mehr viele Waffen hatten, sie in irgendeiner Weise aufhalten? Nein, die Orks würden ein verdammt leichtes Spiel haben, und sie würden ausführen, was ihnen in der letzten Nacht nicht ganz gelungen war: Die totale Vernichtung der Waldelben.
Wieder überfiel Legolas ein Schatten jener tödlichen Traurigkeit, die er schon in der Nacht zuvor verspürt hatte. Es half auch nicht, dass der Rauch des jetzt schon weit entfernten Feuers fast erloschen war – anscheinend hatte das Feuer an einem der grösseren Flüsse des Düsterwalds endlich ein natürliches Ende gefunden. Nein, es half ganz und gar nicht, und gegen seinen Willen traten Tränen in seine Augen, als er den geschlagenen Haufen überblickte, der aus dem einst so stolzen Volk der Waldelben geworden war.
Manche von ihnen schliefen erschöpft, wo sie sich hatten fallen lassen, andere lagen verletzt am Boden und wurden von den unverletzt gebliebenen versorgt- aber ausser Wasser und ein paar Kleiderfetzen zum Verbinden der grössten Wunden gab es nichts, was sie für diese hätten tun können. Was kein Raub der Flammen geworden war, hatten die Orks zerstört oder weggeschleppt.
Legolas Blick wanderte zu seinem Bruder, dem einzigen, der bisher aufgetaucht war. Elwyne lag ganz in seiner Nähe, anscheinend in tiefer Bewusstlosigkeit, und das war auch gut so, denn Elwynes rechtes Bein war nur noch eine blutige verstümmelte Masse, das war selbst unter den provisorisch angebrachten Verbänden zu sehen. Legolas wusste nicht recht, was mit seinem zweitältesten Bruder passiert war, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass Elwyne lebte, und dass Legolas sonst der einzige aus der Königsfamilie war, der sich im Augenblick hier befand. Die Verantwortung für das, was weiter geschah, lag also in seinen Händen...
Die Verantwortung für ein ganzes Volk...
"Was für ein Volk?" sagte eine bittere Stimme in seinem Hinterkopf. "Es gibt ja nur noch diesen kläglichen Haufen von euch..." und Legolas tat nichts, um sie verstummen zu lassen. Sie hatte ja recht.
Die andern Elben jedenfalls schienen ihm willig die Führung zu überlassen, trotz seines für einen Elben jugendlichen Alters. Vielleicht hatte sie aber auch die Zerstörung ihrer Heimat, die Vernichtung ihres Volkes durch das Feuer, der heimtückischen Angriff der Orks und nicht zuletzt die Nachricht von der Ermordung ihres Königs in einen Zustand versetzt, in dem ihnen alles gleichgültig war...
Wie dem auch sei: Legolas fühlte sich entsetzlich inkompetent. Als jüngster von fünf Brüdern hatte er nie weitreichende Verantwortung getragen, da er als Thronfolger ein unwahrscheinlicher Kandidat war. Und jetzt würde jeder seiner Entscheidungen riesige Folgen haben, ja sogar über das Ueberleben seines Volkes entscheiden...
Natürlich hatte er in alle Himmelsrichtung Jäger ausgesandt, die nach Überlebenden suchen sollten, sowie Boten nach Rivendell, (so weh es ihm tat, die Bergung der Leiche seines Vaters musste im Augenblick noch warten) und er hatte Wachen aufgestellt für den Fall, dass die Orks schon vor Anbruch der Nacht zurückkommen würden, aber jetzt galt es, weitere Entscheidungen zu treffen.
Schwierige Entscheidungen. Würden sie hierbleiben, würden die Orks sie auf jeden Fall finden und Mann für Mann abschlachten. Würden sie sich verstecken – wo konnte man sich verstecken in diesem zerstörten Wald? – würden wohl viele Verwundete den Transport nicht überleben. Und ein Tross von 200 Leuten würde wohl eine so deutlich Spur hinterlassen, dass selbst ein blinder Ork ihr leicht würde folgen können...
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und Legolas brauchte sich nicht umzudrehen um zu wissen, wer sich hinter ihn gestellt hatte: Nerdein. Legolas war dankbar für die Unterstützung des alten Haudegen. Dieser war, seit sie sich getroffen hatten, nicht von seiner Seite gewichen, hatte seine Wunden verbunden und darauf bestanden, dass Legolas einige Krümel Lemba, das wunderbarerweise aufgetaucht war, zu sich genommen hatte.
"Sie werden heute nacht wiederkommen." sagte Nerdein und wiederholte damit Legolas eigene Ansicht.
Er nickte. "Wir müssen uns zurückziehen." sagte er. "Frauen und Kinder verstecken. Vielleicht können wir uns lange genug verteidigen, bis Hilfe aus Rivendell eintrifft." Jetzt war es Nerdein, der nickte.
Legolas überlegte einige Augenblicke, bevor er leise sagte: "Zu den Wasserfällen. Wir werden die Hügel in unserem Rücken haben, und der Wald dort ist vielleicht durch die vielen Bäche vor dem Feuer geschützt worden. Einige der Höhlen werden als Unterschlupf für die Verwundeten und Kampfunfähigen dienen. Der Zugang zum Tal ist zudem recht eng, so dass wir ihn einige Zeit verteidigen können."
Nerdein nickte.
"Aber das Tal ist auch eine Falle." fuhr Legolas fort. "Keiner von uns wird überleben, falls wir auf uns allein gestellt bleiben."
"Auch wenn wir hierbleiben, Prinz Legolas, wird keiner von uns überleben." sagte Nerdein und ging, um Legolas Befehl an seine Soldaten weiterzugeben.
Sie erreichten die Wasserfälle erst spät nach Einbruch der Nacht. Die Verwundeten und ihre eigene Erschöpfung hatten sie langsam gemacht, und der zerstörte Wald vereinfachte das Fortkommen nicht gerade. Wie Legolas vorhergesehen hatte, hatten viele der Verwundeten den Transport nicht überstanden. Ob sie wirklich an ihren Verletzungen gestorben waren oder einfach von Traurigkeit überwältigt worden waren, liess sich nicht sagen.
In gespentischem Schweigen waren die Verwundeten in eine Höhle bei den Wasserfällen gebracht worden, versorgt von den Frauen und Kindern und Alten, die nicht mehr kampffähig waren. 10 Soldaten hatten sie den Ihrigen zur Bewachung zurückgelassen, mehr konnten sie nicht entbehren. Diese zehn Soldaten würden sowieso nichts ausrichten können, falls die Orks das Tal eroberten, aber es widerstrebte Legolas, seine Schutzbefohlenen ganz ohne Bewachung zu lassen.
Mit den andern Soldaten, etwa 70 Krieger, von denen ein paar noch auf dem Marsch zu ihnen gestossen waren, machte er sich daran, den Taleingang zu verteidigen.
Naturgegebenheiten hatten dafür gesorgt, dass dieses Vorhaben einigermassen durchführbar war. An dieser Stelle der Schlucht, die an sich schon recht eng war, hatte einmal ein heftiger Felssturz stattgefunden und dem Fluss, der das Tal in zahlreichen Einzelbächen und Mäandern durchfloss, den Weg vollständig abgeschnitten. Im Verlaufe der Zeit war es dem Fluss gelungen, einen neuen Weg durch das Gestein zu graben, aber er hatte noch zu wenig Zeit gehabt, ein wirklich breites Flussbett zu schaffen. So war ein künstlich enger Eingang ins Tal geschaffen worden, und alte Gesteinstrümmer des Erdrutsches schafften viele Winkel, in denen man Bogenschützen postieren konnte. Zudem hatte der Fluss tatsächlich dafür gesorgt, dass der Wald hier nicht nur im Tal, sondern auch um das Tal herum stehengeblieben war, und die Bäume würden für zusätzliche Deckung sorgen.
Ja, das Tal war ein guter Ort für eine letzte Verteidigungsschlacht, und Legolas und Nerdein postierten ihre Männer an den geeignetsten Plätzen. Keiner von ihnen sprach auch nur ein überflüssiges Wort. Die Nerven der Elben waren zum Zerreissen gespannt, und im Prinzip wussten sie alle, dass sie verloren waren.
Die Orks würden ihre Spur finden – sie hatten keine Zeit gehabt, diese in irgendeiner Form zu verwischen – und sie würden in der Übermacht sein. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, 500 Feinde zu vernichten – 500 weitere von ihnen würden aus den Bergen auftauchen. Selbst wenn sie noch ein beachtliches Waffenarsenal gehabt hätten, wären sie endlich doch der Übermacht ihrer anstürmenden Feinde erlegen, und sie hatten kein Waffenarsenal mehr. Ein paar Pfeile, ein paar Schwerter, ein paar Messer – eine armselige Sammlung, die nicht sehr weit reichen würde. Es gab keinen Grund zum Reden. Die Elben sparten ihren Atem für den Kampf.
Und trotz ihrer Verzweiflung und ihrer hoffnungslosen Lage spürte Legolas in jedem der Krieger die eiserne Entschlossenheit, bis zum Tod gegen den verhassten Feind zu kämpfen, eine Entschlossenheit, die die Angst vor dem Tod vertrieb und das Warten erträglich machte. Das Warten auf die todbringenden Monster, die irgendwo da unten in Kürze aus dem Wald hervorbrechen würden; um alles Lebendige, das in ihre Hände fallen würde, zu vernichten.
Legolas straffte die Schultern und starrte weiter in die Dunkelheit. Sie mochten verloren sein, aber sie würden ihre Haut teuer verkaufen. Noch nie hatte er sich mit den andern Elben so verbunden gefühlt, und ihre Tapferkeit erfüllte ihn mit Stolz. Er sah sich kurz um, um die ernsten, blutverschmierten und rauchgeschwärzten Gesichter seiner Kameraden zu betrachten. Einer der Krieger neben ihm bemerkte seinen Blick und zeigte in einem grimmigen Lächeln seine Zähne. Legolas lächelte anerkennend zurück und richtete seinen Blick wieder auf das finstere Tal vor sich. Sie warteten.
Der Mond stand schon weit am Horizont, als sie zum ersten Mal etwas hörten. Es mochte sich um einige überlebende Nachttiere handeln oder sonst etwas, aber diese flüchtige Hoffnung verflog rasch, als man das Geräusch stetiger hören konnte.
So klang es, wenn eine grosse Gruppe sich fortbewegte – eine grosse Gruppe, die sich nicht einmal darum bemühte, leise zu sein. Legolas biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten.
Es war grausam. Die Nacht war schon so weit fortgeschritten, dass sich tatsächlich die leise Hoffnung in ihm geregt hatte, die Orks würden sie zu spät finden und aufgrund der Morgendämmerung gezwungen sein, sie erst in der folgenden Nacht anzugreifen. Bis dann würde-wenn sie unwahrscheinliches Glück hatten- bereits Hilfe aus Rivendell dasein...
Aber nun erstarb diese flüchtige Hoffnung, als man hören konnte, wie die Orks näher und näher rückten. Die drei Stunden, die ihnen in der Nacht noch blieben, würden ihnen wohl ausreichen, um die Elben zu vernichten... Ja, es war grausam, aber nicht zu ändern.
Jetzt konnte man es deutlich hören. Das Klirren von Metall, Büsche und Bäume, die unter den Vorüberschreitenden ächzten, ab und zu sogar das Schnauben von Pferden. Berittene Orks! Legolas lächelte grimmig. Welcher Aufwand, um 200 fast wehrlose Elben abzuschlachten!
Sie warteten.
Sie würden warten, bis sich zumindest ein Teil der Orks zwischen den im Wald postierten Bogenschützen und den Verteidigern des Tales befanden. Dies bedeutete natürlich den sichern Tod für die im Wald postierten Krieger, die dann Orks im Rücken und Orks von vorne zu bekämpfen hatten, aber die andern Krieger würden gleich nach ihnen sterben. Es war gleichgültig, an welcher Stelle.
Sie warteten, als die ersten Angreifer als dunkle Schatten zwischen den Bäumen sichtbar wurden.
Sie warteten, als sich der Vorlauf des Tales mit ihnen füllte, zuerst mit zu Fuss gehenden Schatten, dann mit berittenen Kriegern. Es waren viele, so viele...
Der Mond war, wie die meiste Zeit, hinter Quellwolken verborgen, so dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Nicht dass es etwas ausmachte. Man konnte die Präsenz, die Uebermacht der Ankömmlinge fühlen.
Legolas spannte sich und hob seinen Bogen, den er von Nerdein bekommen hatte. Gleich würde er das Signal zum Angriff geben...
Wahrscheinlich würden es die im Wald postierten Krieger gar nicht sehen können, aber sie würden den Kampfeslärm hören.
Ihr persönliches Armageddon war gekommen.
Der Mond kämpfte sich für einen Augenblick zwischen den dichten Wolken hervor. Sein Licht spiegelte sich in hunderten von silbernen und goldenen Rüstungen.
Die Rivendell-Elben waren gekommen.
"Elrond!" schrie hinter ihm Nerdein mit heiserer Stimme. "Die Rivendell-Elben sind da!" und Legolas fühlte sich plötzlich gepackt und in eine raue Umarmung gerissen. "Die Rivendell-Elben! Wir sind gerettet! Elrond ist da!" Der Ruf breitete sich unter den Waldelben aus und wurde zu einem lauten Jubelgeschrei, das sich zum Glück bis zu den im Wald verborgenen Elben ausbreitete.
"Die Rivendell-Elben!" und plötzlich sahen diese, wie das Tal vor ihnen und der Wald hinter ihnen lebendig wurde mit Gestalten, die sich lachend und weinend zugleich umarmten, auf die Schultern klopften oder erschöpft zu Boden sanken.
Die Rivendell-Elben waren da.
Fortsetzung folgt...
Anmerkung der Autorin:
Für YvannePalpatine: Ich kann noch ganz andere Dinge tun, ausser den Düsterwald abzufackeln (Har har har!). Nein, im Ernst, eigentlich tut es mir seehr leid, überhaupt irgendeinen Elb (auch Thranduil!) umzubringen, aber für eine Geschichte muss man halt Opfer bringen... War das schnell genug mit updaten?
Für Elanor: "Zu den Favourites gesteckt"! Als ich das gelesen habe, bin ich wahrscheinlich den ganzen Tag mit einem albernen Käfergrinsen auf dem Gesicht rumgelaufen! Danke schön!!!
Für Leahna: Du gehörst jetzt bereits zum Zirkel der "konstant-Review-Schreibenden", dessen Mitglieder mir sehr kostbar sind! Herzlichen Glückwünsch!
An alle andern: Füttert mich! Ich brauch reviews zum Weiterschreiben!
