Disclaimer: Alles gehört Tolkien bzw. seinen Erben, mir immer noch nichts.

4. Kapitel: Prügel und Erkenntnisse

Es lief nicht so, wie es zu erwarten war. Diese Erkenntnis überkam Aragorn schon nach dem ersten Schlagabtausch zwischen den beiden Elben. Zu erfahren, um sich von seinem Ärger zu einem überstürzten Angriff verleiten zu lassen, führte Elladan einen recht langsamen, prüfenden Schlag gegen den Rhûna. Der Kampfstab hielt sein Schwert schon in der Mitte des Schlages auf. Ein metallisches Geräusch erklang, das unmöglich von einem Holzstab stammen konnte.

„Was hattet Ihr denn gedacht?" spottete Galen, während er den Stab durch seine Hände drehte, dass er wie ein schwarzes Rad aussah. Wie eine dunkle Scheibe wechselte er von rechts nach links und wieder zurück, wo er dann von den geschickten Händen des Rhûna zur Ruhe gebracht wurde. „Wir sind keine Bauern, die mit Holzstöcken kämpfen."

Elladan erhöhte das Tempo. Ein Angriff nach dem anderen regnete auf Galen nieder, wurde von ihm pariert und er fand noch die Zeit, seinerseits zu attackieren. Am Ende einer langen Reihe von Schlägen duckte er sich wie ein Schatten unter Elladans Schwert weg und zog ihm mit dem Stab die Beine weg.

Aragorn musste sich in Erinnerung rufen, dass hier zwei Elben miteinander kämpften. Unter Menschen wäre es nun schwierig geworden, vom Boden aus auf den Angreifer zu reagieren. Doch Elladan kam in einer einzigen Bewegung wieder auf die Füße, entging dem Stab beim nächsten Schlag und schaffte es, Galen seinen Ellbogen in die Rippen zu stoßen. Der Rhûna wich zurück und atmete tief ein und aus.

„Mh", machte Enach sehr leise. „Die Rippe hat er sich erst vor zwei Wochen gebrochen. Das war unangenehm jetzt."

Aragorn streifte die Elbin mit einem fassungslosen Blick. Bevor er etwas sagen konnte, ertönte ein Schmerzensschrei. Elladan hielt sich die rechte Schulter, sein Schwertarm hing kraftlos herunter. Abwartend umkreiste ihn der Rhûna. Aragorn gefiel Galens Gesichtsausdruck überhaupt nicht. Irgendetwas lag wie ein dunkler Schatten auf seinem Gesicht, etwas sehr Unfreundliches.

„Er ist zu schnell", befand Legolas alarmiert. „Einfach zu schnell und erfahren. Das kann in diesem Alter noch nicht sein."

Der Moment war so rasch vorüber wie er gekommen war. Elladan fasste sich wieder und Galen lächelte in Elrohirs Richtung. „Ihr solltet Eurem Bruder helfen, findet Ihr nicht?"

Aragorn schüttelte leicht den Kopf, als Elrohir sich nicht zweimal bitten ließ und mit gezogenem Schwert seinen Platz verließ.

„Wie könnt Ihr das zulassen?" hörte er Legolas zu Enach sagen. „Dies ist kein Spaß."

„Besser jetzt als zu einem Zeitpunkt, wenn sie sich aufeinander verlassen müssen", erwiderte die alte Frau ruhig.

Der Kampf wurde nun ausgewogener. Aragorn konnte nicht umhin, den Bewegungen der drei fasziniert zu folgen - soweit es menschlichen Augen überhaupt möglich war. Sie waren alle schnell, elegant und geübt. Der Rhûnar-Stab war durchaus den Schwertern gewachsen, aber doch eher eine Waffe zur Verteidigung, die Galen auch langsam nötig hatte. Die Zwillinge waren ein aufeinander eingespieltes Gespann, sie ergänzten sich in ihren Stärken und wenigen Schwächen. Andererseits war ihnen der Kampf gegen eine Waffe wie Galen sie mit wirklich beunruhigender Schnelligkeit führte, nicht vertraut. Sie steckten beide heftige Schläge ein. Auch Galen kassierte einige Tritte und Schnitte der Schwertklingen.

„Ihr könnt uns nicht beide besiegen", keuchte Elrohir irgendwann in einer kurzen Kampfpause.

„Abwarten." Galen wischte sich seine blutbeschmierte Hand an der Hose ab und umfasste den Stab wieder beidhändig. „Auf jeden Fall  werdet Ihr damit aufhören, Enach und mich wie Landstreicher zu behandeln."

„Wir behandeln Euch nicht wie Landstreicher!" Bei jedem Wort hieb Elladan auf den anderen ein. Zuletzt stolperte Galen etwas zurück. „Aber Ihr, Galen, seid hochmütig und unfreundlich."

Der Rhûna drehte sich aus seinen Schlägen weg und schlug ihm den Stab gegen die Rippen. „Genau wie Ihr, Lord Elladan."

„Kein Grund, mich in diesen Schmetterlingen zu ersticken." Elladan wich dem nächsten Hieb mit dem Stab aus und hätte Galen fast den Kopf abgetrennt mit seinem Schwert.

Der Rhûna grinste trotzdem. „Gute Technik."

„Ich danke Euch."

„Warum hetzt Ihr mir Eriwen auf den Hals?" Galen schlug Elrohir gegen das Schienbein, als dieser ihm in den Rücken fallen wollte. Der Rhûna hatte sich nicht einmal umgedreht sondern einfach den Stab unter seinem Arm hinweg nach hinten gestoßen.

„Dann lässt sie uns zufrieden", ächzte Elrohir und ging in die Knie. „Irgendeiner muss dran glauben und Ihr seid noch unverbraucht."

„Dafür sollte ich Euch umbringen", grollte Galen kaum weniger erschöpft.

„ABER SICHER NICHT HEUTE!" donnerte eine wutentbrannte Stimme über die Lichtung.

Aragorn fiel vor Entsetzen fast vom Baumstamm als er seinen Vater entdeckte, der auf die drei Kämpfenden zu stürmte. Beim ersten Wort waren sie zusammen gezuckt und hatten die Waffen gesenkt. Elladan und Galen fassten hastig unter Elrohirs Arme und stellten ihn auf die Füße.

„Spreche ich nicht mehr eure Sprache?" Elrond schien eine dunkle Wolke des Verderbens zu folgen. Außerdem noch Bruchtals persönlicher Ringgeist, der vormals als Glorfindel bekannt war. „Was ist so schwer an dem Wort ‚Sieben' zu verstehen?"

Drei erwachsene Elben, die soeben noch ihre wirklich todbringenden Fähigkeiten eindrucksvoll demonstriert hatten, starrten den Elbenlord kleinlaut an.

„Sieben Tage!" brüllte Elrond unbeherrscht. „Sieben, nicht vier! Seht euch an! Als hätte ich keine anderen Sorgen als dauernd Kampfspuren zu behandeln, die völlig überflüssig sind. Und Ihr!" Galen wich vor der Hand zurück, die sich schnell nach ihm ausstreckte und ihn dennoch am Kragen erwischte. Aragorn wusste genau, wie er sich fühlte. Elronds Zorn zu spüren war ein einschneidendes Erlebnis. „Ihr seid Gast in meinem Haus."

„Wir haben angefangen", erklärte Elladan schnell.

„Nein, das stimmt nicht." Galen schüttelte wild entschlossen den Kopf. „Ich habe es drauf angelegt. Es kam schlechte Nachricht aus Rhûnar und ich wollte mich abreagieren. Eure Söhne können nichts dafür."

„Lügner", murmelte Elrohir kameradschaftlich.

„Es ist mir völlig egal, wer den ersten Schlag geführt hat." Elronds Stimme erreichte eisige Temperaturen. „Die Weisung galt für euch alle gleich."

„Eigentlich ist es meine Schuld." Alle Blicken richteten sich auf die alte Frau, die sich langsam erhob. „Noch weitere drei Tage zu warten, hätte die Spannung zu hoch getrieben. So war der Kampf noch harmlos, in einigen Tagen hätte es anders sein können."

„Euer Neffe.." Elrond atmete tief durch. „Euer Neffe hat noch genug Spinnengift im Körper, um damit zwei weitere Männer zu töten. Was dachtet Ihr Euch dabei, ihn diesen Kampf führen zu lassen?"

„Das werdet Ihr nie verstehen." Enach winkte Galen heran, der sich erleichtert von Elrond losmachte und zu seiner Tante stolperte. „Das hier war nichts zu dem Leben, das Rhûnar uns bereitet, Meister Elrond."

„Erspart mir das", erwiderte Elrond scharf. „Ich weiß, dass Euer Leben hart ist, aber Ihr müsst nicht diese Last auf seinen Schultern noch verstärken. Ihr seid eine grausame alte Frau, Enach."

„Dem kann ich nicht einmal widersprechen." Auf ihren Neffen gestützt, der im Moment viel eher etwas Hilfe hätte gebrauchen können, verließ sie die Lichtung.

Elrond wandte sich wieder seinen Söhnen zu. „Ich hoffe, jeder einzelne Knochen in eurem Körper schmerzt wie Feuer. Und denkt ja nicht, ich würde euch irgendwie helfen. Wenn ihr Heilung braucht, könnt ihr Enach fragen. Vielleicht stellt ihr dann fest, wie dieses Volk mit Schmerzen und Verletzungen umgeht."

Kaum hatten Elrond und Glorfindel, der die verkörperte schweigende Missbilligung war, die Lichtung verlassen, sanken die Zwillinge stöhnend auf die Knie. Langsam schlenderten Aragorn und Legolas zu ihnen hinüber.

„Na, was meint ihr, wer gewonnen hat?" erkundigte sich Legolas scheinheilig.

„Keine Ahnung", ächzte Elrohir. „Wenn ich danach gehe, wie ich mich fühle, müsste es Galen sein."

„Er ist gut", nickte Elladan. „Besser als ich dachte."

„Zu gut", sagte Legolas. „Zu schnell. So kämpft ein Elb seines Alters nicht."

„Nicht schnell genug." Elladan war nicht in der Stimmung für Grübeleien. „Ich schätze, es ist unentschieden. Jedenfalls werde ich ihn bestimmt nicht mehr einen ‚Bengel' nennen. Das nächste Mal verteidigst du die Familienehre, Estel."

„Bist du verrückt geworden? Ihr wart wenigstens zu zweit."

„Legolas kann dir helfen."

Der Waldelb tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. „Ihr habt mit diesem Blödsinn angefangen, dann beendet ihn auch alleine. Ich habe keine Lust, dass ein dreiseitiger Brief nach Düsterwald geschickt wird, indem mich euer Vater als Schandfleck des Elbentums beschreibt."

Elrohir rappelte sich mühsam wieder auf. „Thranduil wäre erfreut, wenn du Vater wütend machst."

Aragorn konnte seinem Bruder im Stillen nur zustimmen. König Thranduil würde vor Stolz platzen, wenn Legolas aus Bruchtal wegen schlechten Benehmens verbannt würde.

*

Am Ende war wieder Frieden über ihn gekommen. Die große Ruhe seiner Gesichtszüge verriet, mit welcher Erleichterung er den Ruf in Mandos Hallen schließlich gefolgt war.

Er hatte großartig gekämpft, nichts anderes war von einem Krieger seiner Klasse und Erfahrung zu erwarten gewesen. Vier Wochen vom Beginn der ersten Schwäche, Fieber und dann rasende Schmerzen. Andere waren weniger stark gewesen, hatten um Gnade gebettelt, um ein schnellwirkendes Gift, das sie erlösen konnte.

Dies waren die schlimmsten Momente für einen Heiler: Hilflosigkeit bei absolutem Wissen um den Krankheitsverlauf.

Caranir war keiner der Verzweifelten und es war ihr leicht gefallen, ihm mehr von ihrer Kraft zu geben als eigentlich gut war in diesen Zeiten.

Jetzt war sie alleine bei ihm in der Totenhalle. Eingehüllt in die Kühle dieses Felsendomes nahe bei der Hauptquelle konnte sie von ihm Abschied nehmen. Nur die Erinnerung an den großartigen Krieger war bei ihr und ein tiefer Schmerz, aus dem Verlust eines geschätzten Freundes geboren.

Varya saß erschöpft auf der obersten Stufe der kleinen Empore mit seinem aufgebahrten Leichnam. Sie lehnte an einer der vier Steinsäulen, auf denen Lichter in Form metallener Bäume leuchteten. Ein Ort des Friedens war dies, Verzweiflung fand sich hier selten. Die alten Rhûna betrachteten den Tod eher als eine Erlösung aus langer Qual, die sie sich bislang versagt hatten und die jüngeren Rhûna... Varya seufzte tief. Bis vor wenigen Monaten hatte es unter ihnen nur sehr selten Todesfälle gegeben. Nun griff die Dunkle Pest um sich und alles, was ihr die Rhûna entgegen zu setzen hatte, war Varya, die jüngste Heilerin ihres Volkes.

‚Sie hätten Rhûnar nicht verlassen dürfen', dachte sie und bittere Tränen sammelten sich in ihren seegrünen Augen. ‚Enach hat nicht Recht getan und sie hätte Galen niemals mit hineinziehen dürfen.'

Varya wusste sich hier mit Galen im Einklang wie in so vielen anderen Dingen auch. Er hatte die Quellstadt nicht verlassen wollen. Mit ihren gemeinsamen Kräften wäre es vielleicht gelungen, die Seuche zu besiegen, doch Enachs Einfluss war zu groß.

Im Stillen verfluchte Varya den tief verwurzelten Glauben der Ältesten an die Übermacht der anderen Elbenvölker. Was konnte schon ein Elrond im weit entfernten Imladris Gutes für sie bewirken? Er war nur ein gesichtsloser Name, eine Legende aus den Erzählungen der Alten und einiger Händler, zu denen sie gelegentlich Kontakt hatten.

Enachs dunkle Kräfte, Galens unglaubliches Talent und ihre noch lange nicht ausgereiften Fähigkeiten hätten sicher einen Weg gefunden. Stattdessen warteten sie verzweifelt auf ein Zeichen aus dem Westen. Die Heiler lebten noch, das war gewiss. Varya als Empfängerin von Galens Kräften hätte seinen Tod gespürt. So wie ihr Bruder im Herzen nun um Caranirs Ende wusste. Es würde ihn schmerzen, denn der Hauptmann der Quellstadt war dem jungen Heiler ein ebenso teurer Freund und treuer Beschützer wie ihr.

Diesmal flossen die Tränen ungehindert über ihr zartes Gesicht, das dem Galens geradezu unheimlich ähnelte. Nur gut, dass Galen die letzten Monate erspart geblieben waren, die Caranir eher wie ein Verlorener verbracht hatte, nachdem er seine Erfahrungen und Kenntnisse durch Enachs Kraft auf Galen übertragen hatte. Er hatte sich freiwillig dieser in ihrem Ursprung recht zweifelhaften Prozedur unterzogen – so wie sie alle – nachdem er einsehen musste, dass nichts den Ältestenrat vom Wahnsinn in Enachs Vorhaben überzeugen konnte.

So wusste er ihn wenigstens als Krieger einer gefährlichen Reise gewappnet. Mit ihm zusammen hatte Liuntol sich seiner Stärke begeben, auch er jetzt nur noch ein Abklang des großen Kriegers, der er einstmals gewesen waren. Allerdings reichte es immer noch, um mit Leichtigkeit viele der Jüngeren in ihre Schranken zu verweisen.

Varya dachte an die letzten Stunden, die Caranir auf dieser Welt verbracht hatte. Sie war bei ihm gewesen. Nicht nur an seinem Sterbebett sondern tief verbunden mit dem versiegenden Strom seines Lebens. Eine Gratwanderung für jeden Heiler – zu schnell konnte die eigene Seele fortgetragen werden. Ohne Galens Teil in ihr hätte sie es wohl kaum gewagt, nicht in ihrem Alter.

„Ach, Heilerin, ich wünschte, ich hätte Euch Trost zu bieten." Liuntol hatte sich unbemerkt genähert. „Störe ich Eure Trauer, Varya Ithilfin?"

„Setzt Euch zu mir", forderte sie ihn mit einer knappen Handbewegung auf. „Euer Verlust wiegt noch größer, denn er war so lange Euer Freund und Kampfgefährte."

Er neigte dankend den Kopf, bevor er sich mit der ihm eigenen Eleganz auf der Stufe unter ihr niederließ. Trotzdem waren sie beide in Augenhöhe. Wie fast alle der Rhûnar-Geborenen war Varya von nur geringer Körpergröße, grazil bis fast zur ätherischen Zerbrechlichkeit und mit silbernem Haar gesegnet.

Liuntol betrachtete sie lange mit seinen alten, in letzter Zeit so müden Augen, um schließlich mit einem kleinen Lächeln nach einer Strähne ihrer langen Haare zu greifen und sie durch seine Finger gleiten zu lassen. „Wisst Ihr, wie Caranir Euch nannte, nachdem mit Galen der erste seiner Art geboren wurde?"

„Unserer Art?" echote sie verwundert.

„Kinder aus Mondlicht geschaffen. Später wurde daraus-"

Eine kleine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Ithildrim – den Namen meint Ihr doch wohl? Ich wusste nicht, dass Caranir dafür verantwortlich ist!"

„Ihr hört ihn nicht gerne", amüsierte sich der Ältere. „Keiner von Euch. Dabei reden wir Alten fast nur so von Euch. Was stört Euch daran, Heilerin?"

„Ihr grenzt uns damit aus."

„Eher umgekehrt."

„Das verstehe ich nicht, Liuntol."

„Eines Tages schon." Er schwieg einen Moment. Neuer Kummer verdunkelte seine edlen Züge. „Es schmerzt mich, dass ich einen letzten Wunsch meines Freundes nicht erfüllen kann."

Unwillkürlich ergriff sie tröstend seine Hand. „Vermag ich Euch vielleicht zu helfen?"

„Die Frage ehrt Euch, doch betraf Euch eben dieser Wunsch." Er stand auf und trat an die Seite seines aufgebahrten Weggefährten. Varya folgte ihm, auch wenn der Anblick der leblosen Hülle, die mit allen Würdezeichen des Hauptmanns der Quellstadt versehen war, ihr noch immer tief ins Herz schnitt.

„Ich vermochte ihn nicht zu finden", raunte der Lebende dem Toten zu. „Er muss beim Angriff dem Feind in die Hände gefallen sein. Verzeih mir, alter Freund."

„Liuntol?" Sie berührte sanft seinen Arm. „Wovon redet Ihr?"

„Caranirs Familienring", sagte er nach kurzem Zögern.

Varya erschrak. Der Ring war alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Als Kind hatte er sie oft mit diesem exquisiten Schmuckstück aus Mithril und Smaragden herumspielen lassen, ihn aber nach einer Weile immer wieder sorgfältig in einer Schatulle verschlossen.

„Er hat ihn über die dunkle Zeit in Mordor gerettet, seit seiner Gefangennahme jedoch nie wieder getragen. Schon vor langer Zeit bestimmte er, dass Ihr ihn erhalten sollt." Tränen schimmerten in Liuntols eisblauen Augen. „Ich habe ihn jetzt seit Stunden gesucht, aber er ist verschwunden."

„Und Ihr meint, die Ostlinge haben ihn gestohlen?"

„Er ist nicht das einzige Schmuckstück, das seitdem verloren ist."

„Aber das ist sonst nicht ihre Art. Sie nehmen Nahrung und Waffen. Unser Schmuck hat sie doch noch nie interessiert. Er ist ihnen zu feingliedrig, zu leicht."

„Sie haben zuvor auch nie Spielzeug unser Kinder entwendet", sagte er bitter. „Das war kein üblicher Angriff, Heilerin. Sie kamen, um uns in unseren Herzen zu treffen."

„Unsinn!" Varya vergaß einen Moment, wo sie sich befand. „Ostlinge denken nicht so tief. Wenn sie uns in unseren Herzen treffen wollen, rammen sie ein Messer hinein. Spielzeug sagtet Ihr?"

Wacher als in den vergangenen Wochen ruhten seine kristallklaren Augen auf ihrem schmalen, blassen Gesicht. „Was geht Euch durch den Kopf, Heilerin?"

„Ich bin mir nicht sicher. Könnt Ihr mir die Listen mit den Schäden des Angriffs besorgen?"

„Ich denke schon. Sie werden im Archiv sein."

„Bitte beeilt Euch." Am Ärmel zog sie ihn mit sich. „Ihr findet mich bei der Lebensquelle. Ich muss in Enachs Büchern etwas nachschlagen."

Unwillkürlich verzog er leicht das Gesicht.

„Ich weiß", nickte sie. „Ihre Sammlung trägt den Hauch dunkler Magie in sich, aber ich werde vorsichtig sein."

Sie verließen die Totenhalle, gingen noch würdevollen Schrittes an den Soldaten der Quellgarde vorbei, die die Totenwache hielten und beschleunigten erst dann zu sonst wohl unangebrachter Hast, als sie außer Sichtweite waren. Nur einen Teil des Weges gingen sie noch gemeinsam.

Die Totenhalle lag in der Nähe der Hauptquelle, die mitten im einzigen Felsenhügel Rhûnars entsprang. Auf und in diesem riesigen Steinbrocken war die Quellstadt vor langer Zeit errichtet worden. Die Lebensquelle, in deren Nähe die drei Heiler wohnten und wirkten, lag am Südhang der Stadt.

Das Archiv hingegen genau im Norden, in einer trockenen geschützten Höhle, die der Archivar mit einen Gehilfen wie ein Heiligtum schützte und pflegte. Die Rhûna hatten seit Beginn ihres Zusammenschlusses eine eher unelbische Tendenz zu akribischer Buchführung und Archivierung. Dort eine Liste aller beim letzten Angriff entstandenen Schäden zu finden, war eine ganz natürliche Sache.

Varya sah nur eine winzige Verbindung und eigentlich wünschte sie sich zu irren. Beinahe widerwillig verließ sie den hellen Sonnenschein dieses Sommertages und tauchte ab in die dunklere Welt, in der Enach nahe der Lebensquelle schon so lange als Heilerin wirkte.

Etwas zittrig fingerte sie an dem großen Schlüsselbund herum, bis sie den passenden Schlüssel zu Enachs privatem Studierzimmer gefunden hatte. Ihre Lehrerin hatte ihr strenge Auflagen bei seiner Übergabe gemacht. Sie sollte sich von den Scripten fernhalten, nur die großen Almanache dürfe sie benutzen und auch nur im Notfall.

Nun ja, dachte Varya. Dies war sogar mehr als ein Notfall. Wenn Rhûna reihenweise starben, kam es eher einer Katastrophe gleich.

Mutig schloss sie die dicke Eichentür auf und betrat den großen Raum, der nur etwas Licht aus einem Schacht zur Lüftung erhielt.

Sie hatte sich in Enachs Studierzimmer nie wohlgefühlt. Da half es auch nicht, dass sie nach und nach alle Öllampen entzündete. Der Raum erdrückte sie, die Atmosphäre machte ihr immer noch Angst. Jeder Winkel war vollgestellt mit Schränken und Tischen, auf denen sich Bücher und Papiere türmten. Gläser mit Präparaten füllten einen ganzen Regalschrank. Den Anschauungsunterricht hatte sie immer gehasst. Ohne Galens mutigeren Teil in ihr hätte sie jetzt wohl wieder kehrt gemacht.

Varya schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch, bis sie an Enachs hohem Lehnstuhl angekommen war. In den würde sie sich sicher nicht setzten. Stattdessen nahm sie aus der Schublade des dazugehörigen Lesepultes das kleine Chirurgenmesser ihrer Lehrerin und machte sich entschlossen am Scripturschrank zu schaffen. Es war ein deckenhohes Möbelstück aus dunklem Holz. Massiv wie ein Fels und genauso schmucklos.

Den Schlüssel dazu hatte Enach an einer Kette um den Hals. Varya blieb nichts anderes übrig, als das Schloss aufzubrechen. Es brauchte mehrere Versuche, bis der innere Mechanismus unter knirschendem Protest nachgab. Die beiden Türen schwangen auf und enthüllten den Giftschrank geschriebener Medizin. Das Licht der Öllampen versagte vor der Dunkelheit des hier versammelten Wissens. Nur die vielen, einfach gebundenen Manuskripte schimmerten im milchigen Weiß alter Knochen.

Mit einem unguten Gefühl griff Varya wahllos hinein und zog ein Bündel Papiere heraus. Enachs Handschrift war ihr vertraut und sie blätterte schnell, aber aufmerksam durch die Seiten. Heilsprüche, nah an der Grenze zur dunklen Magie, entrollten sich vor ihren staunenden Augen. Faszinierend, abstoßend und in keiner Weise hier zutreffend.

Sie zwang sich, systematischer vorzugehen. Einen Stapel nach dem anderen, Regal um Regal kämpfte sie sich durch die Geheimnisse, die sie eigentlich gar nicht erfahren wollte. Es waren alles Übersetzungen, doch nirgendwo wurde eine Quelle genannt. Varyas Beine gaben nach, als sie schließlich eine dünne Schrift in den Händen hielt, die sich schon durch den Titel verriet. Nun sank sie doch in Enachs Stuhl.

So fand sie Liuntol wenig später. „Was ist mit Euch?" fragte er alarmiert.

Stumm hielt sie ihm die Seiten hin.

„Der Ferne Tod", las er und wölbte fragend die Brauen. „Was soll das bedeuten?"

Varya bezwang ihre Übelkeit. „Es ist Enachs Übersetzung einer magischen Schrift. Offenbar gibt es einen Weg, den Tod über jemanden zu bringen, der weit entfernt ist. Man braucht nur einen Gegenstand, der eng mit ihm verbunden ist."

„Wie einen Familienring", vermutete er nach langem Schweigen. „Eine Puppe, ein besonderes Haarband, einen Ohrring..."

„Sind das die Dinge, die geplündert wurden?"

„Einige davon, ja." Liuntol atmete schwer. „Steht darin auch, wie man die Gefahr wieder abwenden kann?"

Varya hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Sie nahm wieder das Script zur Hand und blätterte es nochmals durch. „Man muss die Dinge zurückholen."

„Wir wissen nicht einmal, wo sie sind."

„Der Verfasser meint auch, dass irgendwann die Entfernung zu groß wird."

„So wie zwischen Rhûnar und Imladris?" Liuntol stieß bei ihrem Nicken einen heftigen Fluch aus. „Dann hat sie uns alle betrogen, die alte Hexe. Ich wusste immer, dass sie irgendwann die Grenze überschreiten würde."

„Aber warum?" rief Varya verwirrt. „Sie hatte doch keinen Grund."

Liuntol warf ihr die Liste in den Schoß. „Lest die letzte Seite. Es ist übrigens eine Zweitschrift, die nur durch Zufall existiert. Ein Gehilfe musste sie strafweise anfertigen für seine Unpünktlichkeit. Das Original ist kurz vor Enachs Abreise verschwunden."

Varyas Blick glitt über die sauber aufgelisteten Gegenstände und die Namen ihrer Besitzer. Fast am Ende der Aufzählung stöhnte sie leise. Ein silbernes Feinlot aus Enachs Apotheke war dort festgehalten. Noch einige Zeilen weiter dann fand sich ein Name, den Varya mit purem Entsetzen erkannte.

„Galen", wimmerte sie. „Sie haben sein Jagdmesser gestohlen."

„Versteht Ihr nun? Es gibt keinen Toten, der nicht in dieser Liste steht. Enach ist geflohen und hat Galen durch eine List mit sich genommen. Fast ein Viertel der Rhûna dort sind bereits gestorben. Am Ende werden es vierhundert sein." Liuntol rieb sich die Schläfen. „Wenn wir die gestohlenen Dinge nicht zurückerhalten, ist das Unglück nicht zu vermeiden. Wenigstens seid Ihr außer Gefahr, Heilerin, denn Euer Name fehlt dort."

„So wie der Eure", nickte sie erleichtert. „Wir müssen Galen warnen, Liuntol. Enach hat nicht vor, ihn heimkehren zu lassen. Doch wir brauchen hier seine Kraft. Auch muss er die Eure wieder abgeben."

„Bereitet Euch vor", sagte er ernst. „Ich werde die Ältesten zusammen rufen. Es gilt, über einen Verrat zu richten."

Tbc

@amlugwen: Pech für Ork *kicher* Etwas Haue ist gut, aber doch nicht gleich die Zwillinge zerlegen. Nö, Galen hat zumindest nicht verloren, mehr kann man nicht verlangen, wenn er beide gleichzeitig nervt.

@Mystic Girl: Ich wiederhole mich nur ungerne, aber Saufen rächt sich eben. Das werden die Zwillis auch noch feststellen. Dafür fällt einem dann nicht so auf, dass der eigene Bruder aussieht wie eine Müllhalde. Estel lernt bis zur Krönung nicht. Egal, als König war er trotzdem prächtig. Zwork schreibt man mit ‚K' so wie eine seltsame Mischung zwischen Zwerg und Ork, nicht zu verwechseln mit Zwelb.

@Dani G: Wer hätte gedacht, dass Schmetterlinge so fies sein können.

@Amélie: Ich hoffe, du bist nicht vom Baumstamm gefallen, als Ada die Lichtung gestürmt hat. Böser Elrond = echt schlechte Zeit für Zwillinge.

@Shelley: Blattschuss, du hast recht. Ich sollte Vater gegen Elrond austauschen, dann dürfte es funktionieren. Noch eine andere Sache ist mir selbst aufgefallen: wenn mich nicht alles täuscht, benutzen Elben keinen Sattel. Legolas kann eigentlich nicht darin zusammensinken. Nein, ich tausch das Kapitel nicht aus. Nicht nach zwei Tagen Renoviererei, in der mein Schreibtisch mindestens zehn Mal durch den Raum gewandert ist.

@fenaen: Schön, wenn es lustig war.

Schöne Weihnachten allesamt! Macht euch nicht zuviel Stress, kassiert eine Menge Geschenke.