Kapitel 7 – Misery

Nach einer Ewigkeit, wie es schien, erhob sich Ranma Saotome von der Stelle am Eingang des Stadtparks, an der er zuvor niedergekniet war, und setzte sich mit langsamen Schritten, die einen auffälligen Kontrast zu seinem früheren energiegeladenen Selbst bildeten, wieder in Bewegung. Nach und nach fiel dabei der Mantel aus Eis und Schnee, der sich während seiner Andacht über ihm ausgebreitet hatte, von ihm ab, so daß man erkennen konnte, daß der unbarmherzige Griff des kalten Elements ihm offenbar nichts hatte anhaben können. Er sah nicht armseliger aus als zuvor. Aber auch nicht besser. Urteilte man nach dem Anblick, den er bot, konnte Ranmas Zustand jedoch nur als überaus mies beschrieben werden.

Aber Entschlossenheit kann einen Menschen zu Leistungen befähigen, die weit über denkbare physische Grenzen hinausgehen. Und tatsächlich war es auch an puren Fanatismus grenzende Entschlossenheit, die den vom Schicksal so arg Gebeutelten vorantrieb.

Wäre er nicht wegen eben jenem Schicksal so verzweifelt gewesen, daß es kaum in Worte zu fassen war, hätte er jedoch trotz seines fürchterlichen Erscheinungsbilds einen Grund zur Freude gehabt, denn er hatte das große Ziel ganzer Generationen von Kampfsportlern erreicht. Wenn auch ohne Absicht. Aber es war ein Ziel, das zwar alle ernsthaften Studenten der Kampfkünste anstrebten, das aber nur von einer verschwindend geringen Minderheit am Ende eines langen und entbehrungsreichen Lebens erreicht wurde: Die völlige Herrschaft des Geistes über den Körper.

Sicherlich mußte es als bittere Ironie des Schicksals angesehen werden – oder als ein gigantischer Anfall von schwarzem Humor bei irgendeinem geistesgestörten Kami – , daß Viele ihr Leben erfolglos mit dem Versuch verbrachten, dieses Ziel zu erreichen, während es bei Ranma nur ein unbeachtetes Nebenprodukt seiner unzähligen erfolglosen Selbstmordversuche gewesen war. Und eine Folge der Tatsache, daß er durch die Erfolglosigkeit seines Tuns keine Möglichkeit gehabt hatte, der Konfrontation mit dem Schmerz, der Verzweiflung und vor allem mit seinen Schuldgefühlen zu entkommen.

Aber Ranma Saotome findet immer einen Weg. Und da offenbar irgendein Wesen aus der Allmächtigkeitsbranche alle seine Versuche sich das Leben zu nehmen, um seine Ehre wiederherzustellen und für Ukyos Tod zu büßen, zum Scheitern verurteilt hatte, war Ranma gezwungen gewesen, auch dafür einen Weg zu finden. Und dieser neue Weg, der so neu eigentlich gar nicht war, würde auch ein weiteres Problem lösen, das er inzwischen erkannt hatte: Wenn er sich einfach irgendwo im Nirgendwo das Leben nahm, würde niemand davon erfahren. Möglicherweise würde aber jemand sein Verschwinden mit Ukyos Tod in einen Zusammenhang bringen. Cologne oder Nabiki besaßen seiner Ansicht nach den nötigen Scharfsinn dazu. Und wenn er verschwunden blieb, weil sein toter Körper in irgendeinem namenlosen Wald verrottete, würde man ihn vielleicht für einen Feigling halten. Damit wäre nicht, wie beabsichtigt, seine Ehre wieder hergestellt, sondern sie wäre erst recht ruiniert.

Das durfte auf keinen Fall geschehen, und deshalb mußte jemand von seinen Gründen erfahren.

Seine Mutter würde ihm gewiss helfen können.

Bei beiden Problemen.

In ihrem Haus war sie nicht gewesen, doch von einer Nachbarin hatte er erfahren, wo sie sich zur Zeit aufhielt.

°Und wieder spielt das Schicksal ein komisches Spiel mit mir.° dachte Ranma bitter. °Um im Tod meine Ehre wiederzufinden, muß ich vorher noch dem Mann begegnen, dessen gedankenlose Dummheit mein Leben in ein Chaos verwandelt hat. Und ich muß mich noch einmal dem Mädchen stellen, das ich liebe.°

Ein wenig staunte er selbst darüber, daß es ihm nicht mehr schwer fiel, sich diese Wahrheit einzugestehen. Eine Wahrheit, die er schon vor langer Zeit tief in sich gespürt hatte. Damals, als er Akane das erste mal hatte lächeln sehen.

Aber wenn man fast fünfzig Tage lang nichts anderes zu tun hat, als über sich selbst nachzudenken und den eigenen Tod zu planen, kommt es schon mal vor, daß man plötzlich beginnt, einige Dinge ernst zu nehmen, die nichts mit Kampfsport zu tun haben.

Wenn der dumme, alte Mann, der sich als sein Vater bezeichnete, hören würde, daß er Akane liebte, würde er alles andere ignorieren, jubelnd durch´s Dojo der Tendos hüpfen, und augenblicklich mit den Hochzeitsvorbereitungen beginnen. Dies war schon immer der Hauptgrund dafür gewesen, daß Ranma alles getan hatte, was nötig war – und mehr als das – um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, er könnte in irgendeiner Form romantische Gefühle für das jüngste Mitglied der Familie Tendo hegen.

Aber davon würde er sich nun nicht mehr aufhalten lassen. Akane würde in Kürze erfahren, was sie erfahren mußte. Ebenso wie Nodoka, seine Mutter. Und ihr Urteil, gefällt mit dem Familienkatana, würde Ranmas Leidensweg endlich beenden.

Endgültig.