Kapitel 9 – Urteil und Sühne

Kasumi summte leise vor sich hin, während sie Schüsseln, Teller und andere Utensilien auf die Plätze rund um den Eßtisch verteilte. Irgendwie hoffte sie wohl, ihre trüben Gedanken dadurch vertreiben zu können.

Überrascht blickte sie auf, als sie das Öffnen und Schließen der Haustür hörte. Sie erwartete keinen Besuch, und sicher würde keiner der im Haus Anwesenden so verrückt sein, bei diesem Schneesturm einen Fuß vor die Tür setzen zu wollen.

Ihre Überraschung verwandelte sich in nacktes Entsetzen, als sie die abgerissene Gestalt erblickte, die wenig später im Hausflur erschien. Entsetzen, in das sich angesichts des erbärmlichen Zustands jener Gestalt mehr als nur eine Spur von Mitleid mischte. Dieses Wesen, das kaum noch an einen Menschen erinnerte, mußte die Hölle nicht nur gesehen, sondern der Länge nach durchquert haben. Und das wesentlich mehr als einmal. Und doch...irgendetwas an dieser Gestalt kam ihr sehr vertraut vor.

°Wenn ich doch nur wüßte, woher...°

"Ta...tadaima." krächzte die Gestalt mehr als das sie sprach.

Und plötzlich machte es Klick in Kasumis Kopf und sie begriff, wer da hereingekommen...nein, nach Hause gekommen war.

Akane zuckte vor Schreck heftig zusammen, als sie das laute Klirren hörte, mit dem der von Kasumi fallengelassene Teller auf dem Boden zerschellte. Ein solches Mißgeschick war bei Kasumi zwar recht ungewöhnlich, aber trotzdem nicht weiter bemerkenswert. Der anschließende entsetzte Schrei ihrer ältesten Schwester jedoch ließ sie so schnell den Kopf herumdrehen, daß sie durch die Heftigkeit ihrer Bewegung fast von der Leiter gefallen wäre, auf der sie stand. Fluchend schaffte sie es gerade so, das Gleichgewicht zu halten, während Nabiki – ebenfalls fluchend – es gerade so schaffte, die teure Lichterkette aufzufangen, die Akane fallengelassen hatte.

Die verblüfften Blicke der Beiden folgten dann jedoch Kasumi, die praktisch mit einem einzigen Satz den Eßtisch umrundete, und mit einem unglaublich erleichterten "Kami-sama, er ist wieder da!" auf den Lippen in den Hausflur raste.

Akane tauschte einen kurzen Blick mit Nabiki. Dann nickten Beide einander knapp zu und rannten hinter Kasumi her. Nodoka, durch den ganzen Trubel im Eßzimmer neugierig geworden, folgte ebenfalls.

"Was ist denn los, Kasumi-neechan?" erkundigte Akane sich besorgt. "Wer ist wieder da?"

°Bitte lass es Ranma sein.° dachte Akane halb hoffend, halb betend, und versuchte, an ihrer Schwester vorbeizuspähen, die ihr die Sicht auf den Neuankömmling versperrte. °Aber auch wenn ich froh bin, wenn er wieder da ist, werd ich ihm gehörig die Meinung zu seinem Verschwinden geigen.°

Kasumi drehte sich um. Tränen der Erleichterung gemischt mit solchen der Sorge standen in ihrem Gesicht, und dann lächelte sie.

"Ranma." stiess sie erleichtert hervor und trat dann zur Seite, um den Weg freizugeben.

"RANMA, WO ZUM TEUFEL..." Akane brach mitten im Satz ab, als sie ihren Verlobten erblickte. Tränen traten ihr in die Augen. "Was...Ranma, was ist...passiert?"

Ihre Stimme war zu einem entsetzten Flüstern geworden, und ihr Gesicht war ebenso bleich wie das von Nodoka, die verzweifelt versuchte zu verstehen, was mit ihrem Sohn, der ihr immer als gutaussehendes Musterbeispiel an Männlichkeit beschrieben worden war, Furchtbares geschehen sein mußte. Es mochte ihr nicht so recht gelingen.

"Wer..." Sie schluckte, um den Kloß aus ihrem Hals zu bekommen. "Wer hat das getan, mein Sohn?" fragte sie mit Zorn in der Stimme. Ihre linke Hand hielt die Scheide ihres Katanas so fest umklammert, daß die Knöchel weiss hervortraten, und mit der Rechten spielte sie nervös am Griff ihrer Waffe, doch sie bemerkte weder das Eine noch das Andere.

"Ich rufe Doktor Tofu an." verkündete eine sichtlich blasse Nabiki. "Sieht aus, als hättest du einen Arzt bitter nötig, Saotome."

"Das wird sicher das Beste sein." stimmte Kasumi zu.

Akane und Nodoka nickten abwesend. Ranmas Zustand beschäftigte sie zu sehr, um mehr Aufmerksamkeit auf ein Gespräch mit Nabiki oder Kasumi zu verwenden.

"Nicht...nötig." krächzte Ranma kopfschüttelnd.

"Hast du in letzter Zeit mal in einen Spiegel gesehen?" fragte Nabiki ihn in einem Tonfall, dessen Spott nur ihre Sorge kaschieren sollte.

"Ich weiss..." Er räusperte sich. "Ich weiss, wie ich aussehe und wie es mir geht. Aber Tofu zu holen...wäre Zeitverschwendung."

"Warum das?" fragten Akane und Nodoka alarmiert und besorgt zugleich.

"Ich bin hier, um mit meiner Mutter und mit...Akane zu reden." Er machte eine kurze Pause, in der er er den Anwesende nacheinander mit bei ihm ungewohntem Ernst in die Augen schaute. "Danach...werde ich keinen Arzt mehr brauchen. Aber Kasumi...wenn du uns etwas Tee ins Dojo bringen könntest..."

Kasumi lächelte, obwohl auch in ihren Augen deutliche Sorge stand.

"Aber gern, Ranma-kun."

"Und könntest du dafür sorgen, daß wir ungestört sind?"

Kasumi nickte, und Ranma führte Akane und Nodoka ins Dojo.

"Er benimmt sich seltsam, findest du nicht?" meinte Nabiki zu ihrer Schwester, während sie sich auf den Weg in die Küche machten.

"Er muß Furchtbares hinter sich haben, so wie er aussieht." erwiderte diese beruhigend. "Gib ihm etwas Zeit sich zu erholen und er wird wieder ganz der Alte sein."

"Ja." seufzte Nabiki. "Das fürchte ich auch. Der gleiche eingebildete, Akane beleidigende Macho-Trottel, der er früher war." Kopfschüttelnd verschwand sie im Eßzimmer, um mit ihrer Dekorationsarbeit weiterzumachen.

Kasumi sah ihr lächelnd hinterher.

°Sie hat ihn genauso vermisst wie wir alle, aber sie würde sich eher die Zunge abbeissen, bevor sie es freiwillig zugibt.°

"Ähm...Kasumi?"

Überrascht drehte sie sich um.

°Ach ja...ich bin ja nicht allein in der Küche.°

"Ja, Herr Saotome?"

"Habe ich das richtig verstanden? Mein Sohn ist wieder da?"

"Ja, er ist..."

"Wunderbar!" rief Soun überschwenglich. "Der Vereinigung unserer Schulen steht nun nichts mehr im Wege!"

"Sehr richtig, alter Freund." stimmte ein selbstzufriedener Genma zu, während er einen Krug aus dem Schrank holte. "Darauf sollten wir trinken."

"Wo steckt der Junge eigentlich gerade?" fragte das Oberhaupt der Tendo- Familie nachdenklich.

"Er ist im Dojo und..." antwortete Kasumi.

"Ah, das ist mein Sohn." protzte Genma. "Kaum wieder zu Hause, schon trainiert er wieder."

"Eigentlich redet er gerade mit Akane und Tante Nodoka." berichtigte ihn Kasumi mit unschuldigem Lächeln.

Genma wäre fast der Sake-Krug aus der Hand gefallen.

"Er tut...WAS?!" ächzte er entsetzt. Dicke Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn, während er bereits die Klinge eines imaginären Katanas am Hals zu spüren glaubte.

"Ich hoffe für dich, daß Ranma deiner Frau nichts von dem Fluch erzählt, alter Freund." warf Soun mit nur äußerlicher Gelassenheit ein.

Innerlich tobte er jedoch.

°Wenn Ranma auspackt, ist die Vereinigung unserer Schulen in Gefahr.°

Genma schluckte nervös.

"Ich...ich werde etwas unternehmen."

"Ranma-kun hat gebeten, mit Akane und seiner Mutter allein und ungestört sprechen zu dürfen." warf Kasumi ein. "Und ich bitte euch, das zu respektieren." Ihr Tonfall lag irgendwo zwischen freundlich und neutral. Aber wer Kasumi Tendo kennt, weiss, daß eine Bitte aus ihrem Mund eine ganz spezielle Angelegenheit ist. Niemand, und das schließt ausdrücklich auch selbstgefällige, ignorante, egozentrische Dummköpfe ein, ignoriert eine Bitte von Kasumi Tendo. Nicht etwa, weil damit irgendeine Gefahr oder Unannehmlichkeit verbunden wäre, sondern weil es schlicht und einfach auf eine schwer zu beschreibende aber grundsätzliche Art und Weise falsch zu sein schien, auf eine Bitte von ihr nicht einzugehen.

Soun und Genma nickten niedergeschlagen, aber die Bitte akzeptierend, und bereiteten sich auf die Flucht in eine ihnen angenehmere Realität vor, so wie sie es immer taten, wenn ein Problem am Horizont auftauchte: Sie holten Board und Spielsteine hervor und begannen eine neue Partie Shogi.

Akane folgte Ranma erleichtert, aber zugleich besorgt ins Dojo. Ranma setzte sich in der Mitte des Dojos schließlich auf den Boden, woraufhin sie ihm gegenüber und neben Nodoka Platz nahm und auf eine Erklärung wartete.

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, daß Ranma praktisch sofort mit seinem vorlauten Hochgeschwindigkeitsmundwerk irgendeine halbherzige Erklärung über sein Verschwinden abgeben würde, die entweder einige seiner üblichen 'Ich bin der Größte'-Macho-Protzereien oder einige Beleidigungen entweder von Akanes Aussehen oder Kochkunst oder Kampffertigkeiten beinhaltete. Oder auch eine Kombination von alldem.

Doch stattdessen...schwieg er.

Ranma Saotome saß schweigend und gelassen vor seiner Mutter und seiner 'unhübschen Verlobten', und schien auf irgendetwas zu warten.

°Nicht, daß ich den Baka heiraten wollte.° dachte sie reflexartig. °Aber vielleicht, wenn er nur ein bißchen netter zu mir wäre...° setzte sie in Gedanken ehrlicherweise hinzu.

Sie schielte zu Nodoka herüber, die in der für Frauen traditionellen Haltung neben ihr saß, und geduldig wartete, ohne sich zu rühren. Bis auf ein leichtes Zittern.

°Das muß die Aufregung sein.° dachte Akane, korrigierte sich aber schnell, als sie bemerkte, daß sie ebenfalls zitterte, und das ganz sicher nicht vor Aufregung. °Verdammt, warum ist das hier drin so kalt? Und wieso kann Nodoka so einfach so ruhig bleiben?°

Akane begann ungeduldig hin und her zu wippen.

Ranma zog fragend eine Augenbraue hoch.

Akane warf ihm einen wütenden Blick zu.

Ranma lächelte beruhigend und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.

°Moment...Ranma versucht mich zu beruhigen?!° Fast hätte diese Erkenntnis Akane umgeworfen. °Und er hat mich seit er wieder da ist auch nicht beleidigt. Irgendwas kann doch mit ihm nicht stimmen.°

Bevor sie sich weiter an einer laienpsychologischen Studie versuchen konnte, kam Kasumi mit einem Tablett herein, auf dem drei Schälchen und eine Kanne mit heissem Tee standen. Sie stellte das Tablett zwischen den Dreien ab, lächelte allen noch einmal aufmunternd zu, und verließ das Dojo wieder.

Nodoka beugte sich vor und füllte erst für Ranma, dann für Akane und zuletzt für sich ein Schälchen mit dem Getränk.

"Danke, Mutter." Ranma griff nach seiner Schale mit dem dampfenden Gebräu, das plötzlich, innerhalb von Sekunden, aufhörte zu dampfen.

Akane runzelte verblüfft die Stirn und beäugte mißtrauisch den Tee in ihrem eigenen Schälchen.

"Es liegt nicht an dem Tee." bemerkte Ranma mit leiser Stimme und reichte ihr seine Schale. "Da, schau selbst."

Akane nahm das Schälchen, und hätte es vor Schreck fast fallengelassen.

"Du mußt mit dem teuren Porzellan besser aufpassen." meinte Nodoka im Tonfall milder Zurechtweisung, suchte dann jedoch selbst verblüfft nach Worten, als sie bemerkte, warum Akane die Schale fast fallengelassen hätte.

Die Schale war eiskalt, und der Tee darin war gefroren.

"Ranma, was?...Wieso?..." stammelte Akane auf der Suche nach einer Erklärung für das seltsame Phänomen.

"Du erinnerst dich an die Hiryu Shoten Ha-Technik?"

"Sicher. Aber was hat die Wirbelsturmtechnik DAMIT zu tun?" Sie deutete fragend auf das Schälchen.

"Um diese Technik anwenden zu können, muß man vorher eine andere Technik einsetzen."

"Die Seele aus Eis!" platzte es aus ihr heraus.

"Kann mir mal jemand sagen, wovon ihr redet?" fragte Nodoka verwirrt.

"Eine alte Kampftechnik der Amazonen, Mom." erklärte Ranma. "Der alte Ghoul hat sie mir beigebracht."

"Der alte...?" Seine Mutter runzelte verständnislos die Stirn.

"Er redet von Cologne, der Matriarchin dieser lästigen Amazonenbande." schnaufte Akane.

"Ich verstehe." erwiderte Nodoka in einem Tonfall, der deutlich machte, daß sie eigentlich gar nichts verstand. "Und du setzt diese 'Seele aus Eis'- Technik gerade ein?"

Ranma nickte.

"Aber wieso?" fragte Akane. "Erwartest du einen Kampf?"

Er schüttelte den Kopf.

"Warum dann?"

Voll Kummer blickte er sie an. "Weil es...weil es sonst so weh tut." wisperte er niedergeschlagen.

°Ranma gesteht eine Schwäche ein?° dachte Akane verblüfft. °Kami-sama, irgendwas muß wirklich furchtbar schiefgelaufen sein in den letzten Wochen. Ob er einen Gegner gefunden hat, der besser ist als er, und der ihn richtig vermöbelt hat?°

"Wo hast du Schmerzen, mein Sohn?" fragte seine Mutter besorgt. "Sollen wir nicht doch lieber Doktor Tofu rufen?"

Dann traf Akane jedoch die Erkenntnis.

°Augenblick mal...die Seele aus Eis hilft doch gar nicht gegen Schmerzen. Diese Technik dient doch nur dazu, Emotionen zu...oh mein Gott...deshalb ist er auch so ruhig.°

"Tante Nodoka, Ranma hat keine körperlichen Schmerzen. Er redet von Emotionen." erklärte sie bedrückt.

"Ist das wahr?" fragte Nodoka ihren Sohn.

Dieser nickte langsam.

"Und was passiert ohne diese Technik?"

Bei dieser Frage nahm der Kummer in seinem Blick noch einmal um eine Potenz zu, während er einen inneren Kampf auszutragen schien. Schließlich nickte er erneut.

"Ich werde es euch zeigen. Aber nur kurz."

Als er den Einsatz der Seele aus Eis beendete, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Im Dojo wurde es schlagartig wärmer, Ranmas Emotionen schossen über den Rand der internationalen Kummerskala hinaus, und im Dojo wurde es dunkler, als sich um Ranma eine gewaltige, schwarzglühende Aura zu formen begann. Die Aura war so stark, daß die bloße Nähe Akane und Nodoka Schauer der Furcht über den Rücken laufen ließ.

Nach ein paar Sekunden setzte er die Technik erneut ein, und die Zwei entspannten sich wieder, während die Temperatur im Dojo wieder um einige Grade sank.

"Das war...heftig." kommentierte Akane. "Und wie lange machst du das schon?"

"Fast ununterbrochen während der letzten vierzig Tage." antwortete er ruhig. "Seit ich die Idee hatte, die Technik dafür zu benutzen. Inzwischen habe ich mich so sehr dran gewöhnt, daß ich sie sogar im Schlaf aufrechterhalten kann."

Nodoka nippte nervös an ihrem Tee.

"Also hängt diese Technik mit dem Grund für dein Verschwinden zusammen." vermutete sie.

"Ja." antwortete er knapp. Dann atmete er einmal tief durch und straffte sich etwas. "Und ich bin wieder hier, weil ich dich darum bitten möchte, etwas zu tun, wozu ich selbst nicht in der Lage war." erklärte er mit fester Stimme.

"Und was wäre das, mein Sohn?"

Sein Blick heftete sich auf ihr Katana.

"Hilf mir, Seppuku zu begehen." bat er mit leiser Stimme, die jedoch keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit zuließ.

"WAS?" riefen Akane und Nodoka gleichzeitig.

In Akanes Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur eine Frage tauchte deutlich aus dem Wirbelsturm ihrer Gefühle auf: Warum?

Nodoka hielt sich da ein wenig besser, aber auch nur, weil sie das starre Gerüst ihrer Traditionen verinnerlicht hatte. Und in einer solchen Situation gehörte es sich ganz sicher nicht, sich wie eine aufgescheuchte Henne zu benehmen. Also zwang sie ihren Geist zur Ruhe, zumindest weit genug, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können, und atmete ein paar mal tief durch.

Ranma hatte seine Bitte inzwischen wiederholt, und damit demonstriert, daß es ihm damit absolut Ernst war.

"Das ist ein sehr drastischer Schritt, mein Sohn." stellte sie das Offensichtliche fest, nur um überhaupt etwas zu sagen.

"Ich weiss, Mutter." erwiderte er ernst. "Aber nur so kann ich meine persönliche Ehre wiederherstellen."

Akane keuchte schockiert.

°Was ist ihm bloß zugestossen?°

Nodoka nickte ernst.

"In dem Fall gebietet mir meine Pflicht, dir zu helfen." stimmte sie zu.

"Aber Tante Nodoka..." protestierte Akane entsetzt, doch die Matriarchin des Saotome-Clans schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.

"Zuvor jedoch muß ich genau wissen, was eigentlich passiert ist." stellte sie klar. "Ich nehme an, deshalb hast du uns ja auch hergebeten. Um darüber zu reden."

Ranma nickte bestätigend.

"Alles begann damit, daß Akane mich mit ihrem Hammer aus dem Haus in den Stadtpark befördert hat, weil ich mich über ihre Unfähigkeit zu kochen lustig gemacht habe."

Akane warf ihm einen giftigen Blick zu, doch Ranma ignorierte es und erzählte von seinem Training im Park.

"...und dann traf ich auf Ucchan." Seine Stimme geriet ins Stocken.

°Was ihm passiert ist, muß mit ihr zu tun haben.° mutmaßte Akane nachdenklich.

"Hat dein Verschwinden mit ihr zu tun?" fragte Nodoka.

"Ja." Ranma nickte. "Wenn ich geahnt hätte, was passiert, hätte ich mich doch nie darauf eingelassen." lamentierte er. Sein Blick machte deutlich, daß es nicht wünschenswert gewesen wäre, wenn er die Seele aus Eis in diesem Moment aufgegeben hätte. Vermutlich hätte die Kraft seiner Aura dann das Dojo gesprengt.

"Was ist passiert?" schnappte Akane, deren Gedanken sich ganz eindeutig in die falsche Richtung bewegten. "Sag bloß, ihr Zwei habt..."

"Nein." entgegnete Ranma. "Nicht was du wieder denkst. Sie hat mich zu einer Entscheidung gedrängt, und was ich gesagt habe...es hat ihr nicht gefallen, und dann fing sie an zu weinen, und sie drehte sich um und rannte einfach los, aber dann war da dieser Lastwagen..." Ranma schniefte und wischte sich mit einer Hand über die Augen. Seine Stimme überschlug sich fast, während er weitersprach. "...es ging alles so schnell, und dann flog sie durch die Luft, und ich bin zu ihr hingerannt, und alles war voller Blut, und wenn ich gewußt hätte was passiert, hätte ich es ihr doch nie gesagt, aber so ist es halt passiert." Er machte eine kurze Pause, in der er in die betroffenen Gesichter von Akane und seiner Mutter schaute. "Aufgrund meiner Worte hat Ucchan die Fassung verloren und ist vor den Lastwagen gerannt." fasste er alles zusammen. "Also bin ich verantwortlich für das, was passiert ist. Es ist mein Fehler, und es ist unverzeihlich."

"Aber...das war vor fünfzig Tagen." rief Akane. "Was hast du in der ganzen Zeit getan?"

"Naja, ich muß wohl einen Schock gehabt haben, und bin einfach so durch die Stadt gelaufen." antwortete er ein wenig verlegen.. "Als ich wieder zur Besinnung kam, stand ich auf irgendeiner der Brücken über den Fluß."

"Und dann?" fragte Nodoka.

"Ich bin in den Fluß gesprungen."

"Du bist wegen Ukyos Unfall in den Fluß gesprungen?" rief Akane ungläubig. "Was hattest du vor? Wolltest du dich umbringen?"

"Ja."

"W-was?"

"Ich bin in den Fluß gesprungen, weil ich sterben wollte." fauchte er genervt. Warum mußte dieses Machoweib bloß immer so begriffsstutzig sein? "Aber ich hab nur das Bewußtsein verloren, und bin irgendwo in der Wildnis wieder ans Ufer gespült worden."

"Und die Zeit bis jetzt hast du für deine Rückkehr gebraucht." vermutete seine Mutter.

"In fünfzig Tagen könnte ich Japan einmal komplett durchqueren, wenn ich wollte." widersprach er kopfschüttelnd.

"Was hast du dann solange getan?" wunderte sich Akane.

°Aber vielleicht will ich es gar nicht wissen.°

"Nachdem der Fluß mich nicht wollte, habe ich andere Methoden ausprobiert." entgegnete er deprimiert. "Aber sie haben auch nicht funktioniert." fügte er mit einem bitteren Lachen hinzu.

Akane schauderte.

°Hätt ich besser nicht gefragt.°

"Andere Methoden?" hakte Nodoka nach.

"Einmal hab ich versucht, mich von einer Klippe zu stürzen. Knapp fünfzig Meter tief, und auf dem Boden gab es jede Menge spitze Felsen."

"Und?"

"Ich sprang. Und als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem kleinen Krater und hatte keinen verdammten Kratzer am Leib."

Nodoka starrte ihn ungläubig an.

"Muß ein Nebeneffekt meines Trainings sein." vermutete er grummelnd. "Entweder die Prügeleien mit Schweinebacke Ryoga oder der Hammer von dem Machoweib hier."

"Hör auf, auf mir und Ryoga rumzuhacken." motzte seine Verlobte. "Ich bin kein Machoweib, und Ryoga ist ein netter Kerl. Er hat nur einen schlechten Orientierungssinn, und dafür kann er nichts."

"Er ist außerdem ein feiges Schwein." schnaubte Ranma bitter. "Für alles, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, gibt er mir die Schuld. Dabei bin ich nur an seinem Fluch schuld, und selbst DAS war ein Unfall."

"Fluch?" fragte Akane überrascht. "Was für ein Fluch?"

Für einen Moment sah Ranma aus wie der kleine Junge, der von seiner Mutter mit der Hand im Bonbonglas ertappt worden war, doch dann gab er sich einen Ruck.

"Es hat tatsächlich einen Vorteil, wenn man seine persönliche Ehre verloren hat." stellte er mit einem trockenen Kichern fest. "Ich kann dir endlich die Wahrheit sagen, Akane, weil mein Schwur jetzt hinfällig ist."

"Wahrheit? Schwur? Von was redest du, Ranma?" fragte sie verwirrt und auch ein wenig ängstlich, da sie so eine Ahnung hatte, daß ihr die Antwort nicht gefallen würde.

"Ich erfuhr von Ryogas Fluch wenige Minuten bevor du seiner Fluchform begegnet bist." erklärte Ranma mit einem tiefen Seufzer. "Er ließ mich auf meine persönliche Ehre schwören, daß ich alles in meiner Macht stehende tun würde, um seinen Fluch geheim zu halten, und da ich es gewesen bin, der ihn versehentlich in die verfluchte Quelle gestossen hat, war es selbstverständlich für mich, ihm zu helfen. Nur hatte ich da noch keine Ahnung, wie sehr er seinen Fluch ausnutzen würde."

"Ich soll seiner Fluchform schon begegnet sein?" fragte Akane zweifelnd.

"Akane, warum glaubst du, nenne ich Ryoga Schweinebacke?" seufzte er.

"Keine Ah...nung..." Die Erkenntnis traf sie mit der Schockwirkung eines Eimers voll Eiswasser und mit derselben Wucht wie ein Zusammenstoss mit dem Shinkansen bei Vollgas.

"P-chan?" wisperte sie entsetzt.

Ranma nickte traurig.

"Ich hätte es dir früher gesagt, aber mein Schwur..." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Plötzlich ergab alles für sie einen Sinn. P-chans Aggressivität gegenüber Ranma. Ranmas ebenso offensichtliche Eifersucht auf das süße, kleine, harmlose Ferkel.

Und dann dachte sie daran, wie oft sie Ranma geschlagen hatte, wenn er mit dem armen, unschuldigen, kleinen Ferkel gestritten hatte. Wie oft sie ihn deswegen beschimpft hatte. Wie oft das Ferkel mit ihr im Bett gelegen hatte. Daß das Ferkel sie nackt gesehen hatte.

Und die ganze Zeit über hatte Ranma gewußt, daß es Ryoga war, aber er hatte nichts dagegen tun können. Wegen eines Schwurs auf seine persönliche Ehre.

Erst jetzt wurde ihr klar, was er die ganze Zeit über durchgemacht hatte.

Akanes Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, während sie gleichzeitig vor Wut bebte. Eine leuchtendrote Aura begann sich um sie herum zu bilden.

"Dieses...dieses SCHWEIN!" grollte sie.

Sie war außer sich vor Wut.

°Irgendwas muß ich jetzt schlagen.° dachte sie. °Ranma...nein. Das hat er diesmal nicht verdient.° Also ließ sie ihre Wut an dem Nächst-nächstliegenden in Reichweite aus. Sie hämmerte mit der rechten Faust ein Loch in den Holzfußboden.

"Könnte mir jemand erklären, was los ist?" fragte Nodoka irritiert.

"Sicher." brummte Akane immer noch wütend. Dann erzählte sie Nodoka von ihrem Haustier P-chan, erklärte, was es mit den Quellen von Jusenkyo auf sich hatte, ohne dabei Ranmas und Genmas Flüche zu erwähnen, und endete mit der Feststellung, daß P-chan die verfluchte Form eines Jungen namens Ryoga war. Ein Junge, dessen Beziehung zu Ranma man als eine Mischung aus Freundschaft und Rivalität beschreiben konnte.

Am Ende der Erzählung lag auch um Ranmas Mutter eine rotleuchtende Aura.

"Dieser Perverse." meinte Nodoka schockiert. "Das ist ein Affront gegen deine persönliche Ehre, Akane. Und damit gegen die Ehre der ganzen Tendo- Familie. Und da du mit meinem Sohn verlobt bist, ist es auch ein Affront gegen die Ehre des Clans Saotome." Ihre Hand wanderte zu ihrem Katana.

"Außer Akane haben alle hier im Haus Bescheid gewußt."

Dieser Einwurf Ranmas ließ Nodoka augenblicklich verstummen.

"Alle hier haben es gewußt?" fragte Akane geschockt. "Sonst noch wer?"

"Nun ja...Cologne, Shampoo, Mousse, Ucchan, Happosai..."

"Gab es IRGENDJEMANDEN außer mir, der es NICHT gewußt hat?" Bitterkeit lag in ihrer Stimme.

Ranma machte ein nachdenkliches Gesicht. "Ich bin nicht sicher, aber Kuno hat es möglicherweise nicht gewußt. Mikado Sanzennin und Azusa Shiratori auch nicht."

"Na, wie beruhigend."

Tief getroffen sank sie zurück.

Nodoka beschloß, ihre eigenen Gefühle erstmal zurückzustellen, als sie Akanes Gesichtsausdruck bemerkte. Es mußte so ziemlich das Schlimmste sein, wenn man sich von der eigenen Familie verraten fühlte.

Tröstend legte sie ihre Arme um das Mädchen.

"Lasst uns später über Akanes Problem reden." schlug sie vor. "Wenn wir Ranmas Probleme zu Ende beredet haben."

Akane nickte matt.

"Danke für die Wahrheit, Ranma." murmelte sie mit der Spur eines Lächelns auf den Lippen.

"Es tut mir wirklich leid, daß ich es dir nicht früher..."

"Schon gut. Ich mach dir keine Vorwürfe."

"Danke." Er schaute ein wenig unsicher. "Wo war ich?"

"Du hattest erzählt, daß du deinen Sprung von der Klippe überlebt hast, Sohn." informierte Nodoka ihn sanft.

"Ah. Richtig. Also ein paar Tage später traf ich auf Schweinebacke. Er hat mich sofort angegriffen, und da er ja immer verkündet hat, daß er mich umbringen will, dachte ich, warum nicht? Ich habe mich also nicht gewehrt, aber Schweinebacke hat das leider nach dem ersten Treffer, den er gelandet hat, spitzgekriegt. Hat mir zwei Rippen gebrochen, aber mehr ist nicht passiert."

"Darf ich fragen, warum du jemanden, der dich umbringen will, als Freund bezeichnest?" erkundigte Nodoka sich verwundert.

"Ach, Mom." Ein flüchtiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. "Um mich wirklich umzubringen ist Ryoga nicht gut genug. Er ist stark, und er ist ausdauernd, und er ist immer mal wieder für eine neue Spezialtechnik gut. Und wegen dieser blöden Vendetta, in die er sich reingesteigert hat, kann ich sicher sein, daß er nach jeder Niederlage gegen mich versucht, besser zu werden, was mich zwingt, bis dahin ebenfalls besser zu werden."

"Also ist er für dich so etwas wie ein Trainingspartner."

"Yep. Sonst brüllt er immer, ich sei an allem Schuld, was ich natürlich immer abstreite, weil´s Blödsinn ist. Aber diesmal hab ich ihm Recht gegeben, und hab gesagt, er soll ein Ende machen."

"Was er offenbar nicht getan hat."

"Der blöde Schweinearsch meinte, er würde nicht gegen mich kämpfen, wenn ich mich nicht wehre, weil es unter seiner Würde wär." schnaubte Ranma. "Und dann hat er nur gelacht und gemeint, wenn ich mir den Tod wünschen würde, wär es viel befriedigender für ihn, mich am Leben zu lassen. Und dann ist er abgehauen."

"Du würdest auch keinen Gegner angreifen, der sich nicht wehrt." erwiderte Akane darauf. "Das wäre gegen den Kodex."

"Hey, bist du jetzt wieder auf seiner Seite, oder was?" murrte er.

"Ich sage nur die Wahrheit." verteidigte sie sich.

"Jaja." schnappte er säuerlich. "Jedenfalls bin ich dann weitergewandert. Lag ja schon Schnee, also wollt ich mir ´ne Höhle suchen. Und die nächste Höhle, die ich fand, war vom größten Bären besetzt, den ich je gesehen hab."

"Bist du weggerannt?" fragte Akane.

"Hey, schon vergessen? Ich wollte sterben." rief er ihr in Erinnerung. "Außerdem laufe ich vor keiner Herausforderung davon, was du eigentlich wissen solltest. Ich hab den Bären angebrüllt, hab ihn gereizt, so gut ich konnte, aber das dumme Vieh hat mich erst angeknurrt, dann rumgeschnüffelt, und ist dann panisch weggerannt."

"Der Bär ist vor dir weggerannt?" fragte Akane ungläubig.

"Hattest du da auch schon diese 'Seele aus Eis'-Technik aktiv?" erkundigte Nodoka sich nachdenklich. "Andernfalls hatte er vielleicht Angst vor der Aura."

"Nein. Die Technik hatte ich schon aktiv." antwortete er sofort. "Wie gesagt...drei Tage lang war ich wirklich mies drauf, nachdem ich am Flußufer wieder zu mir gekommen bin. Hab Rotz und Wasser geheult wegen...Ucchan." Er schniefte erneut. "Seitdem habe ich die Seele aus Eis eigentlich ständig benutzt. Rumzuheulen wie ein Mädchen macht ja auch nichts ungeschehen."

"Verstehe." meinte seine Mutter nur und bedeutete ihm, fortzufahren.

"Dann hab ich versucht, zu verhungern, aber das hat auch nicht geklappt."

"Du und verhungern?" Akane klang mehr als ungläubig. "Wer war das noch, der für Essen fast alles tun würde?"

"Ich habe seit Donnerstag nichts mehr gegessen." erklärte Ranma daraufhin ungerührt.

Und heute war Mittwoch.

"Das ist ja schon fast eine Woche her." rief Nodoka mitleidig.

"Nein, nein. Den Donnerstag davor." berichtigte er sie gelassen.

Nodoka war sprachlos, und Gleiches galt für Akane.

"Und wisst ihr, was das Seltsamste daran ist?" fragte er.

Seine Zuhörer warteten gespannt auf die Antwort.

"Das Seltsamste ist, daß ich eigentlich Hunger haben müßte. Aber ich habe keinen Hunger."

"Das ist wirklich seltsam." gab Akane ihm Recht. "Aber vielleicht hat die Seele aus Eis auch Einfluß auf dein Hungergefühl. Vielleicht hast du Hunger, merkst es aber nicht. Oder es ist so wie bei diesen asketischen Einsiedlermönchen in den Legenden." schlug sie vor. "Immerhin warst du ja ziemlich lange allein in der Wildnis unterwegs."

"Ja. Möglicherweise." meinte er skeptisch.

"Dein Ausflug scheint dich auch sonst sehr verändert zu haben." stellte sie lächelnd fest.

"Was meinst du?"

"Wir sind jetzt seit über einer halben Stunde im gleichen Raum zusammen, und du hast mich eigentlich noch kein einziges Mal beleidigt."

"Du mich aber auch nicht." bemerkte er trocken.

"Solange du nicht damit anfängst, habe ich ja auch keinen Grund."

"Es gab genug Gelegenheiten, bei denen du keinen Grund brauchtest." stellte er fest. "Aber vergiß nicht, daß ich hier bin, weil Mom mir helfen soll, Seppuku zu begehen. Das hier ist keine Wiedersehensparty."

Akane sah bedrückt zu Boden.

°Irgendwie muß ich ihn davon abbringen. Aber ich weiss einfach nicht wie ich das anstellen soll. Vielleicht sollte ich kurz rausgehen und Nabiki um Rat fragen.°

"Mir ist da draußen klar geworden, daß mir mein Tod meine Ehre nur zurückgeben kann, wenn ich vorher jemandem erklärt habe, warum ich eigentlich sterben will." fuhr er fort. "Wenn alles klappt, wird heute der letzte Tag meines Lebens sein. Glaubst du, ich würde diese Zeit damit verschwenden, mich mit dir zu streiten, Akane?"

"Ich...weiss nicht." brachte sie etwas unsicher hervor. "Sonst schien dich nichts davon abhalten zu können, mir Beleidigungen an den Kopf zu werfen."

"Sonst", entgegnete er ernst, "mußte ich ja auch befürchten, daß unsere Väter uns in Nullkommanichts verheiraten, wenn ich auch nur den Verdacht aufkommen lasse, daß ich dich mögen könnte. Diese Gefahr besteht ja nun nicht mehr."

"Dann war das alles nur Show?" stiess sie ungläubig hervor. "Damit du mich nicht heiraten mußt?"

"Naja...ein bißchen fand ich es auch lustig, daß du so leicht reizbar warst. Und die Schläge, vor allem mit deinem Hammer, waren ein gutes Widerstandstraining." gestand er etwas verlegen. "Und manchmal waren die Beleidigungen auch Ergebnis von Mißverständnissen oder Überreaktionen von mir, oder von dir. Aber meistens war es wirklich nur Show. Zumindest ab diesem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal hab lächeln sehen."

Akane errötete und blickte verlegen zur Seite.

"Du...magst mein Lächeln?" fragte sie unsicher.

°Ich glaube, diese Frage hatten wir schonmal.° fiel ihr plötzlich ein. °Damals hat er mich mit seiner Antwort auf die Palme gebracht, und ich hab ihm eine gescheuert.°

"Es ist...atemberaubend." erklärte er und blickte ebenfalls verlegen zur Seite.

"Aber du wußtest doch, daß ich mit der Entscheidung unserer Väter auch nicht einverstanden war. Warum hast du nicht mit mir geredet, wenn du eine Show für die beiden Idioten veranstalten wolltest? Dann hätten wir uns nicht so oft streiten müssen...und du hättest mein Lächeln viel öfter sehen können."

"Du hast mich so oft angebrüllt, beschimpft oder nach mir geschlagen." hielt er vorwurfsvoll dagegen. "Da willst du doch nicht behaupten, daß du das alles nicht ernst gemeint hast, oder?"

Akane schwieg einen Moment nachdenklich.

"Es gab Momente, da habe ich es wirklich ernst gemeint." gestand sie. "Aber viel häufiger habe ich bedauert, daß wir nicht besser miteinander klar gekommen sind."

"Ich habe den Eindruck, Soun und mein Gemahl haben durch den Versuch, euch zusammenzubringen, nur erreicht, daß ihr Zwei trotz eurer Gefühle füreinander alles in eurer Macht stehende getan habt, dies zu verhindern." stellte Nodoka mit einem wehmütigen Lächeln fest.

Ranma und Akane sahen einander einen Moment lang nachdenklich an, dann blickten sie zu Nodoka und nickten.

"Also was genau ist dein Problem, Sohn?"

"Mein Problem ist, daß ich noch viel zu jung bin, um zu heiraten. Außerdem will ich mir meine Frau selbst aussuchen. Aber Pops mischt sich ständig in alles ein." klagte Ranma. "Er macht aus meinem Leben ein Chaos, und ich kann dann sehen, wie ich die Probleme loswerde, die ER verursacht hat."

"Und du, Akane-chan?"

"Im Prinzip dasselbe wie bei Ranma." entgegnete die jüngste Tendo-Tochter. "Mein Vater hat mich von einem Tag auf den anderen verlobt. Und ich hasse es, wenn jemand Entscheidungen für MEIN Leben trifft, ohne mich vorher auch nur zu fragen."

"Ich hab von der Verlobung erst eine halbe Stunde vor unserem Eintreffen bei euch erfahren." warf Ranma ein.

"Nun gut." verkündete Nodoka ernst. "Als Matriarchin des Saotome-Clans bin ich zu der Entscheidung gelangt, daß es das Beste ist, wenn eure Verlobung vorerst aufgehoben wird, bis ihr die Schule beendet habt, oder ihr von euch aus zu dem Schluß kommt, daß ihr bereit seid, zu heiraten."

Akane lächelte glücklich.

"Endlich jemand, der meine und Ranmas Meinung zu diesem Thema akzeptiert."

"Ähm...vergesst ihr da nicht etwas?" fragte Ranma irritiert.

"So?" fragte seine Mutter.

"Du wolltest mir dabei helfen, Seppuku zu begehen."

"Wenn es gerechtfertigt ist." stellte sie fest. "Aber was ich hier vor mir sehe ist jemand, der die Verantwortung für sein Handeln zu tragen bereit ist und fest zu seinen Prinzipien steht. Ein starker und mutiger junger Mann, den ich voller Stolz meinen Sohn nenne."

"Aber Ucchan..."

"Du sagst, du mußt die Verantwortung für dein Handeln tragen, mein Sohn." unterbrach seine Mutter seine Erwiderung mit fester doch gleichzeitig sanfter Stimme. "Aber muß dann nicht auch Ukyo-chan die Verantwortung für ihr Handeln selbst tragen? Inwiefern bist also dann du für den Unfall verantwortlich? Was ist damals genau zwischen euch vorgefallen?"

Ranma seufzte.

"Na schön. Ucchan hat mich gezwungen, ihr etwas zu verraten."

"Gezwungen? Wie?" fragte Akane.

"Und was?" wollte Nodoka wissen.

"Sie sagte, ich solle ihr sagen, für wen ich mich entscheiden würde, wenn ich gezwungen wäre, eine Verlobte zu wählen." seufzte er schwermütig. "Andernfalls würde ich ihre Freundschaft verlieren."

"Sie muß davon ausgegangen sein, daß du sie wählen wirst." meinte Akane nachdenklich.

"Aber warum sollte er denn Ukyo als Verlobte wählen?" wunderte seine Mutter sich.

"Muß sie wohl." stimmte Ranma Akane zu. "Als ich...ihr gesagt habe, daß ich sie nicht wählen würde, war sie am Boden zerstört."

"Vermutlich dachte sie, du würdest dann Shampoo nehmen."

Ranma musterte sie genervt.

"Was habt ihr bloß alle mit Shampoo?" fauchte er. "Sie ist zwar hübsch, kämpft gut und kann gut kochen, aber ich will nichts von ihr."

"Und warum sollte er diese Shampoo wählen?" warf Nodoka verblüfft ein.

Sie hatte nicht gewußt, daß ihr Sohn die Bedienung ihres Lieblings- Ramenrestaurants näher kannte.

"Dann also Kodachi." tippte Akane mit gespieltem Ernst.

Ranma durchbohrte sie förmlich mit finsteren Blicken.

"Zum letzten Mal, Akane: Kodachi ist eine gemeingefährliche Irre, die sich nur einredet, daß ich an ihr interessiert sei. Was auch immer sie von mir will, es beruht ganz sicher nicht auf Gegenseitigkeit."

"Und wer ist diese Kodachi?" fragte Nodoka mit wachsender Ungeduld. "Ich wußte nicht, daß mein Sohn so viele Verehrerinnen hat."

Ranma seufzte, gab aber keine Antwort.

"Schon gut." beruhigte Akane ihn. "Du hast Ukyo also gesagt, daß du mich wählen würdest, und das hat sie nicht verkraftet." Sie war fast außer sich vor Freude. Sie hatte es im Stillen immer gehofft, aber nun bekam sie endlich die Bestätigung. Wenn sie ihm doch jetzt nur diese verrückte Seppuku-Idee ausreden könnte...

"Genau." Er nickte traurig. "Und deswegen ist sie tot."

Akane und Nodoka starrten ihn verblüfft an, aber Ranma war wieder in seinen Erinnerungen an jenen furchtbaren Augenblick versunken und bemerkte es nicht.

"Aber Ranma..."

"Du kannst jetzt Entschuldigungen suchen, soviel du willst, Akane." unterbrach er sie mit matter Stimme. "Aber wenn ich es ihr nicht gesagt hätte, wenn ich stattdessen einfach akzeptiert hätte, ihre Freundschaft zu verlieren, wäre sie noch am Leben."

"Aber du verstehst nicht."

"Nein. Du verstehst nicht." widersprach er heftig. "Meine Worte haben sie dazu gebracht, vor den Lastwagen zu rennen. Ich trage die Verantwortung dafür, also muß ich auch die Konsequenzen tragen. Ich habe ihren Tod verursacht. Nicht mit meinen Händen, aber mit meinen Worten, doch das macht keinen Unterschied. Abgesehen vom Verlust meiner Ehre verdiene ich die Strafe dafür, und welche Strafe wäre für Mord angemessener als die Todesstrafe?" Er erhob sich und wandte sich an seine Mutter. "Ich bin hergekommen, um mich mit Akane auszusprechen, und um dich um deine Hilfe bei meinem Seppuku zu bitten, Mutter. Und nun frage ich dich: Hilfst du mir, oder muß ich einen Anderen finden, der das übernimmt?"

"Was soll Tante Nodoka übernehmen?" kam plötzlich eine Stimme aus Richtung der Verbindungstür zwischen Haus und Dojo. Eine Stimme, die Ranma unmöglich hören konnte, ganz einfach, weil es diese Stimme nicht geben konnte.

Langsam drehte Ranma sich um, und als sein Blick auf die Gestalt fiel, die da in der Tür stand, wurde sein Gesicht aschfahl. Plötzlich gaben seine Beine nach, und er krachte zu Boden. Sein Mund öffnete und schloß sich immer wieder, doch es kam kein Laut hervor.

Das Mädchen, das nun den Dojo betrat, hatte braune Haare, die hinten zu einem Zopf gebunden waren, und trug einen hübschen Kimono Marke Nodoka, aber das Gesicht gehörte unverkennbar zu...einem Geist.

"Uc...chan." ächzte Ranma ungläubig.

Sein Kopf zuckte nach links zu Nodoka, die ihn nur warmherzig anlächelte, und dann nach rechts zu Akane.

"Das habe ich versucht, dir gerade zu sagen, Ranma." schnaufte seine 'unhübsche Verlobte'. Auch sie lächelte breit.

Das Mädchen – Ucchan? – blieb stehen und legte nachdenklich den Kopf schief, während sie das bleiche, zitternde Häufchen Elend, das da auf dem Boden kniete, musterte, bis...sie in seinen Augen etwas Vertrautes fand.

In dem Augenblick begann sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht auszubreiten.

"Ranchan?" murmelte sie ungläubig.

Auf Ranmas Gesicht spiegelte sich deutlich das Hin und Her der Emotionen wieder. Schock. Unglaube. Erleichterung. Hoffnung. Freude.

"Ucchan? Bist du´s wirklich?" stiess er hervor. Tränenströme liefen ihm über die Wangen. "Aber wie...?"

Tief in seinem Innern spürte er, wie ein unglaubliches Gewicht von seiner Seele verschwand. Der Unterschied ließ ihn für einen Moment glauben, er könne fliegen. So leicht fühlte er sich.

Bei dem Mädchen schienen nun die letzten Zweifel beseitigt zu sein.

"RANCHAN!" Sie stürmte mit freudigem Lachen auf ihn zu, die Arme ausgebreitet, um ihn zu umarmen.

Ranma spürte, daß Akane ihm das sicher nicht übel nehmen würde, erhob sich wieder und breitete die Arme aus, um seine Freundin aus frühen Kindheitstagen in Empfang zu nehmen.

Ukyo sprang das letzte Stück auf ihn zu. Seine starken Arme würden sie sicher auffangen.

Umso überraschter war sie, als sie krachend und ein wenig schmerzhaft auf dem Boden hinter ihm aufschlug.

"Was..." stammelte Ranma.

Nodoka und Akane keuchten überrascht und starrten ungläubig auf den jungen Mann in ihrer Mitte.

Dieser drehte sich zu Ukyo um und reichte ihr eine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

"Sorry. Keine Ahnung, wie das passiert ist." entschuldigte er sich verlegen.

Ukyo ergriff seine Hand. Das heisst, sie wollte sie ergreifen. Ihre Augen weiteten sich jedoch vor Schreck, als sie wieder und wieder durch sie hindurchgriff.

"Was...was passiert hier?" stiess Ranma fassungslos hervor.

"Ich glaube, ich kann das erklären." erklang eine Stimme wie jahrhundertealtes Pergament vom Verandaeingang des Dojo her. Die vier Anwesenden wirbelten herum und erblickten vor der geöffneten Tür einen gnomgroßen Schneemann, der einen verkrüppelten Holzstab in der rechten Hand hielt.

Einen Ranma sehr bekannt vorkommenden verkrüppelten Holzstab.

"Was hast du schon wieder getan, alter Ghoul?" schnappte er aufgebracht.

Der Schneemann schüttelte den Schnee ab und betrat das Dojo.

"Ich sagte, ich kann es erklären, zukünftiger Schwiegersohn." brummte sie. "Ich sagte nicht, daß ich dafür verantwortlich bin."

"Das muß wieder einer deiner Zaubertricks sein." fauchte Ranma. "Also mach das wieder rückgängig."

"Oder was?"

In ihren Augen blitzte es herausfordernd.

"Oder ich werde mich diesmal nicht zurückhalten, und dir die Abreibung deines Lebens verpassen, alter Ghoul."

Cologne lachte trocken und hüpfte auf ihrem Stab heran.

"Schlag zu."

"Was?"

"Schlag zu. Ich werde nicht ausweichen."

"Ich schlage niemanden, der sich nicht wehren will."

"Davon, daß ich mich nicht wehre, war nie die Rede. Also los."

"Na schön." knurrte Ranma und ging in Angriffsposition.

Nach einem Moment des Zögerns ließ er einen wahren Schlaghagel auf die Matriarchin der Joketsuzoku-Amazonen los. Cologne wich keinem Schlag aus, wie sie gesagt hatte. Aber sie blockte auch keinen der Schläge.

Das war unnötig, weil jeder Schlag durch die alte Frau hindurchging.

Schließlich sah Ranma die Unsinnigkeit seines Vorhabens ein und beendete seinen Angriff.

"Was haben sie mit meinem Sohn angestellt?" erkundigte Nodoka sich, bereit ihr Katana zu ziehen, wenn ihr die Antwort nicht gefallen sollte.

"Nichts. Wie gesagt."

"Was ist dann mit mir los?" fragte Ranma skeptisch.

"Nun...du bist tot. Was sonst?" entgegnete Cologne ruhig.

"Mach dich nicht lächerlich." fauchte der junge Kampfsportler. "Ich fühle mich ziemlich lebendig."

"Soll ich es nun erklären, oder nicht?"

Ranma nickte. Die Anderen ebenfalls.

"Ich habe von draußen gehört, wie du von deinen Selbstmordversuchen berichtet hast, zukünftiger Schwiegersohn."

"Und?" schnappte er.

"Spätestens den Klippensturz hättest du nicht überleben können. Ungeachtet dessen, wozu du dich für fähig hältst, erfordert es den Einsatz seiner Kräfte, um einen solchen Fall zu überleben. Da du sterben wolltest, hast du dein Ki nicht eingesetzt, um den Fall zu dämpfen. Das heißt, du hast nicht überlebt, sondern nur deine Seele. Ich vermute allerdings, daß schon der Ausflug in den Fluß deinen Tod bedeutet hat. Wärst du erst an der Klippe gestorben, hättest du deinen physischen Körper dort vorfinden müssen."

"Und warum kann mich jetzt niemand berühren? Das ging doch vorher auch."

Cologne nickte.

"Das liegt daran, daß das Gewicht, das deine Seele auf der Ebene der Sterblichen gehalten hat, nicht mehr da ist."

Vier Augenpaare starrten sie verständnislos an.

"Seine Schuldgefühle haben seiner Seele das Fortbestehen in materieller Form erlaubt." schnaufte die alte Amazone. "Jetzt, wo er gesehen hat, daß Ukyo überlebt hat, sind seine Schuldgefühle fast völlig verschwunden, und das schwächt die Verbindung zu unserer Existenzsphäre."

Nacheinander nickten die vier Zuhörer verstehend.

"Moment mal!" keuchte Akane entsetzt. "Heisst das, er wird ganz von hier verschwinden?"

"Bedauerlicherweise...ja." Die alte Amazone nickte betrübt. "Wenn ihr genau hinseht, könnt ihr erkennen, daß sein Körper schon ein wenig transparent wird."

"Gibt es denn gar keinen Ausweg?" fragte Akane fast schon bettelnd. Bisher hatte Cologne noch immer Rat gewußt – was meistens daran gelegen hatte, daß sie derartige Probleme selbst verursacht hatte, aber das änderte nichts daran, daß die alte Amazone über ein schier unglaubliches Maß an spirituellem Wissen verfügte.

"Der Saotome-Clan wird für immer in ihrer Schuld stehen, wenn sie meinen Sohn retten können." fügte Nodoka hinzu.

"Ich will Ranchan nicht schon wieder verlieren." verkündete Ukyo.

"Und ich will hier auch nicht weg." stellte Ranma fest.

"Du bist selbst Schuld." wandte Cologne sich an ihn. "Hättest du abgewartet, hättest du erfahren, daß Ukyo nach ihrem Unfall nicht gestorben ist, sondern nur im Koma lag. Das verdankst du alles deiner Voreiligkeit, zukünftiger Schwiegersohn."

"Ich weiss." gab er zu. "Aber wenn Schuldgefühle mir zu Anfang ermöglicht haben, hier zu bleiben, müßte es doch jetzt auch wieder funktionieren."

"Sehr scharfsinnig. Aber du mußt ehrlich und aus dem tiefsten Innern deiner Seele Schuldgefühle empfinden." erwiderte Cologne. "Sonst funktioniert es nicht."

"Das kann ich."

"Aber kannst du das für einen unbegrenzten Zeitraum?" fragte sie zweifelnd.

"Das muß ich." entgegnete er entschlossen.

"Du wirst nie wieder in deinem Leben glücklich sein können." warnte sie ihn.

"Schweinebacke Ryoga ist auch nie glücklich, und er lebt auch."

°Noch.° ergänzte Akane seine Worte in Gedanken.

"Ich bewundere deine Entschlossenheit. Aber es gibt eine Alternative. Ein uraltes Artefakt meines Stammes..."

"Warum überrascht mich das jetzt nicht?" warf Ranma trocken ein.

Akane und Ukyo tauschten erleichterte Blicke mit Nodoka. Die Amazone hätte das Artefakt nicht erwähnt, wenn sie nicht bereit wäre, zu helfen.

"Dieses Artefakt darf nur benutzt werden, um in Zeiten größter Not den Seelen unserer größten Krieger zu einem Neuanfang zu verhelfen." erklärte Cologne ernst. "Wenn ich dieses Artefakt benutze, um einem Außenseiter zu helfen, jemandem, der keinerlei Bindung zu unserem Stamm hat,...", sie machte eine kurze Pause, damit Ranma ihren Wink auch wirklich begriff, "...bekäme ich sehr große Schwierigkeiten mit unserem Stammesrat."

"Hmm...ich verstehe." murmelte er. "Du verlangst sehr viel von mir."

"Dafür bekommst du auch sehr viel." entgegnete sie unbeeindruckt.

Ranma schaute fragend von Nodoka über Ukyo zu Akane, und alle drei nickten ihm zu. Akane zwar zögerlicher, dafür aber mit einem unmißverständlichen Ausdruck von Gewißheit.

"Cologne...ein Wort unter vier Augen, bitte."

Ranma verschwand mit der Matriarchin in einer Ecke des Dojos und tuschelte dort einige Minuten mit ihr. Dann kniete Ranma vor ihr nieder. Die alte Amazone schien ihm einige Fragen zu stellen, auf die Ranma jeweils eine Antwort gab. Schließlich nickte Cologne, offenbar zufrieden mit dem Frage- Antwort-Spiel, und die Zwei kehrten zu den drei Wartenden zurück.

"Ich werde so schnell wie möglich wieder hier sein, Ranma. Aber bis dahin mußt du etwas finden, was bei dir genügend Schuldgefühle erzeugt, um deine Seele hier zu halten. Noch besser wäre es, wenn du es schaffen könntest, wieder die materielle Form zu erreichen."

Ranma nickte.

"Ich werde mich bemühen, alter G...ehrwürdige Älteste."

In Colognes Augen blitzte es.

"Und später werden wir ein wenig an deinen Manieren arbeiten." versprach sie, drohend mit ihrem Stock wedelnd. "Aber jetzt muß ich mich beeilen. Sonst gibt es für dich kein Später mehr."

Mit diesen Worten verschwand sie hinaus in den abendlichen Schneesturm.

Ranma starrte Cologne noch für einen Moment schweigend hinterher, bevor er sich wieder seiner Mutter und seinen Verlobten, der Hübschen und der Unhübschen, zuwandte.

Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Irgendwer ´ne Idee, wofür ich mich schuldig fühlen könnte?" fragte er in die Runde.

"Dafür, daß du dich immer über meine Kampffähigkeiten lustig gemacht hast." schlug Akane vor.

"Hey, verglichen mit mir bist du absolut unfähig. Und Ukyo und Shampoo sind auch besser als du." erwiderte er mit einer lässigen Selbstverständlichkeit, die nur um Haaresbreite neben Arroganz lag.

In Akanes Augen blitzte es wütend.

"Du machst dich auch immer über meine Kochkunst lustig." motzte sie.

"KochKUNST? Willst du vielleicht abstreiten, daß du nicht kochen kannst?" gab Ranma zurück. "Dafür, daß ich die Wahrheit sage, kann ich mich ja wohl schlecht schuldig fühlen, oder?"

"BAKA!" fauchte sie ihn an. "Ich versuch doch nur, dir zu helfen."

"Aber nicht sehr erfolgreich." erwiderte er hitzig. "Was ich zu dir gesagt habe, war immer die Wahrheit."

"So?" schnaubte sie. "Und wenn du mein Aussehen kritisiert hast, war das dann auch die Wahrheit?"

Jetzt senkte Ranma den Blick.

Als Ukyo das merkte, signalisierte sie Akane, auf dem Punkt weiter rumzureiten, und Akane tat dies.

"Du hast doch gar keine Vorstellung davon, wie mies ich mich durch deine ständige Kritik gefühlt habe." warf sie ihm vor.

Aufgebracht tigerte sie im Dojo hin und her, während sie sich immer weiter in Rage redete.

"Ich weiss schon nicht mehr, wie oft du mich ein unhübsches Machoweib genannt hast. Wie oft du behauptet hast, ich sei flach wie ein Brett. Oder daß ich null Sex-Appeal hätte." brachen die Vorwürfe aus ihr hervor.

Jedes ihrer Worte war wie ein zuckender Peitschenhieb, unter dem Ranma mehr litt, als wenn er mit einer echten Peitsche geschlagen worden wäre.

"Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich auf ein nettes Wort von dir gehofft habe. Aber jedesmal bin ich enttäuscht worden. Jedesmal."

Die Tränen in Akanes Augen waren mehr noch als ihre Worte Vertreter ihrer Anklage. Stumme Vertreter zwar, aber deswegen nicht weniger wirkungsvoll.

"Und das Schlimmste war, daß ich am Ende selbst angefangen habe, dir zu glauben. Ich habe mich so...so...wertlos gefühlt..." Über sich selbst den Kopf schüttelnd brach sie ab. Endlich hatte sie in Worte fassen können, was sie so lange belastet hatte, und nun fühlte sie sich richtiggehend erleichtert.

Ein Blick in Ranmas traurige Augen bewies ihr, daß ihre Botschaft ihren Empfänger erreicht hatte, und nur mit Mühe unterdrückte Akane den Impuls ihn zu trösten. Später würde sie dazu genug Gelegenheit haben, aber jetzt würde es nur ihre Anstrengung zunichte machen, bei Ranma möglichst starke Schuldgefühle zu verursachen.

Nachdem Akane offenbar nichts mehr zu sagen hatte, trat Ukyo vor und griff prüfend nach Ranmas Körper. Ihre Hand glitt noch immer hindurch, aber sie meinte dabei einen leichten Widerstand zu spüren. Das gab ihr Mut für ihr Vorhaben.

"Ich hatte deinetwegen auch mehr als genug Ärger, Ranchan." erklärte sie mit einer Kälte in der Stimme, die sie selbst schaudern ließ, obwohl sie nur gespielt war. "Für fast drei Wochen lag ich seit dem Unfall im Koma. Und mein linkes Knie und mein rechtes Handgelenk funktionieren heute noch nicht richtig."

Ranma wäre jetzt am Liebsten im Boden versunken. Ukyo war zu Recht stolz auf ihr Können als Martial Arts Okonomiyaki-Köchin gewesen. Aber mit diesen Behinderungen...

"Aber noch schlimmer ist, daß ich die letzten elf Jahre meines Lebens aus meinem Gedächtnis verloren habe." spie sie haßerfüllt. "Jedes Rezept, jede Technik...alles, was ich gelernt habe. Alles, was ich erlebt habe...ist weg. Wahrscheinlich für immer."

Ranma wurde bleich – was man wegen der Semi-Transparenz seines Körpers allerdings nicht sehen konnte – und sank kraftlos zu Boden.

"Dein...dein Restaurant..."

"Geschlossen." knurrte sie bitter. "Ich beherrsche gerade mal die einfachsten Rezepte, die ich als Kind von meinem Vater gelernt habe. Wie soll ich damit ein Restaurant führen?"

"Das...das tut mir so leid, Ucchan." murmelte Ranma betroffen. "Wenn ich irgendwas tun könnte..."

Während Ranma traurig Löcher in den Boden starrte, prüfte Ukyo noch einmal unauffällig den Zustand seines Körpers. Leicht frustriert stellte sie fest, daß sie ihn, wenn auch mit ein wenig Kraftaufwand, noch immer mit der Hand durchgreifen konnte.

Mehr war offenbar nicht zu erreichen, und es war fraglich, ob das bisherige Ergebnis reichen würde. Ukyo tauschte hilflose Blicke mit Akane und Nodoka, die aber auch nicht weiterwußten. Akane hatte bereits ihr Pulver verschossen, und was hätte Nodoka, die ihren Sohn kaum kannte, ihm vorwerfen können?

Plötzlich hatte Akane eine Idee.

"Ranma."

Er blickte traurig zu ihr auf.

"Gibt es in deinem Leben vielleicht irgendetwas, was du dir noch vorwerfen könntest?" fragte sie drängend. "Etwas, was du bisher vielleicht auch deiner Mutter verschwiegen hast?"

Ranma blinzelte verblüfft. Natürlich. Wie hatte er das vergessen können?

"Ja." gestand er mit einem Kloß im Hals. "Da gibt es tatsächlich etwas."

"Ranma?" fragte Nodoka unsicher.

"Es gibt da...eine große Lüge, Mom." Seine Stimme klang nun mehr als bedrückt.

"Du hast mich tatsächlich in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, schon belogen?" Nodokas Stimme klang zutiefst verletzt und enttäuscht, und anders als bei Ukyo war das nicht gespielt.

Ranma fühlte sich, als würde ihm ein Dolch ins Herz gestossen.

Er nickte stumm, da er seiner Stimme nicht mehr so recht traute.

"Darüber werden wir zu reden haben." entschied seine Mutter. "Aber erst, wenn Cologne-san wieder da ist. Bis dahin solltest du darüber nachdenken, was du mir mit diesem Verhalten antust."

Die Tränen in ihren Augen brachten schließlich das Faß zum Überlaufen.

°Ich hab Mom zum Weinen gebracht.° schoß es plötzlich durch Ranmas Kopf. °Alles meine Schuld.°

Und nun geschah, was Akane durch ihren Wink mit dem Zaunpfahl zu erreichen gehofft hatte, und was auch Ukyos und Nodokas Wünschen entsprach. Ranmas Körper verlor seine Transparenz und wurde wieder fest.