07: points of authority

Vor knapp zwei Tagen hatte es zu regnen angefangen. Inzwischen war aus dem sanften Getröpfel ein beständiges Rauschen geworden, hartnäckig und gleichmäßig fielen unzählbare Regenschnüre aus dickbäuchigen grauen Wolken, die so tief hingen, dass sie bereits das Dach des Nordturmes einhüllten. Der Wald, der See, das Schloß, alles wurde von der Nässe verschluckt. Eine unsichere Stille hatte sich über das Land und das Leben gelegt. Der Sommer war endgültig vorbei, der Herbst fing an. Es schien unsicher, was es für einer sein würde.

Und das Leben ging weiter. In allen Fächern wurde gewaltig angezogen. Man bekam doppelt soviel zu tun wie im Jahr davor, Aufsätze, Essays, Referate, Zusammenfassungen, Tests, Tests und nochmals Tests. Es konnte einem wirklich auf den Geist gehen. Jeder Lehrer schien davon auszugehen, dass sein Fach das wichtigste auf der Welt wäre; wer brauchte schon Freizeit?

Es war Harry, als bestünde das Leben nur noch daraus, von einem Raum in den anderen zu rennen. Wie eine Maschine durchlebte er die Tage.

Tat alles automatisch und ohne nachzudenken.

Er ging nicht mehr in die Bibliothek. Alles fühlte sich stumpf an und seltsam leer. Wenn der Unterricht vorbei war, tat er so, als würde er für die Tests lernen. Er saß stundenlang über ein Buch gebeugt im Gemeinschaftsraum der Gryffindors und starrte auf die Buchstaben. Eine andere Möglichkeit, lästigen Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Wenn man lange genug auf die Alten Runen starrte, vergaß man das Geschreie der anderen um einen rum, bekam irgendwann nicht mehr mit, wie Hermione einen alle halbe Stunde darauf ansprach, ob es einem gut ging...

Der "Vorfall" war nun schon einige Wochen her. Harry erinnerte sich nur fetzenartig daran. Es schien so unwirklich und undurchdringlich, wie das Wetter draußen. Was genau war eigentlich passiert?

Harry hatte bis zu jenem Tag kein einziges Mal über Sirius' Tod geweint. Und er konnte sich auch nicht erinnern, überhaupt in seinem Leben so geweint zu haben. So sehr, dass es einen von innen zu zerreißen schien, dass es die Tränen nur so tropfen ließ.

Und, seltsam genug, es hatte geholfen. Es hatte den Schmerz gelindert, dass ihn jemand einfach in den Arm genommen und festgehalten hatte. Dass er hatte weinen können.

Auch wenn es, von allen geistigen Blumenkohlen auf diesem Planeten ausgerechnet Draco Malfoy war, dem er sich anvertraut hatte. Auch jetzt noch, Wochen nach dem "Vorfall", kam es ihm schrecklich absurd vor. Nein, schlimmer, Harry konnte nicht daran zurückdenken, ohne dass es ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb.

An jenem Tag, irgendwo in der Dunkelheit der Besenkammer, irgendwo zwischen den nach Lavendel und Sommer duftenden Umhangfalten an Dracos Schulter, irgendwo zwischen Tränen und Schmerzen, war ihm eingefallen, WEM er sich da in die Arme geworfen hatte und heulte wie ein kleines Mädchen. Da stand sein größer Feind vor ihm. Der letzte Mensch, der ihn jemals so sehen sollte, umarmte ihn, hielt ihn fest und er hielt sich an ihm fest. Und fühlte sein Herz schlagen. Ganz dicht an seinem Körper. Und roch seinen Geruch, fühlte seine weiße Haut dicht an seiner Nase.

Es war einfach furchtbar. Und die einzige logische Reaktion auf sowas war Flucht. Panisch und abrupt. Und vermutlich waren auch einige Besen dabei umgefallen.

Seitdem hatte Harry den blonden Jungen gemieden, wo es nur ging. Und vermutlich war genau das auch auf der anderen Seite der Fall. Harry hatte zumindest das Gefühl, dass Malfoy ebenso peinlich darauf bedacht war, ihn nicht anzusehen, wenn sie im selben Raum waren. Und auch er saß bei den Mahlzeiten mit dem Rücken zu ihm. Und Worte wurden zwischen ihnen auch nicht mehr gewechselt. Das Angenehme an dieser Situation war, dass die dummen Sprüche des Slytherin zu 100% zurückgegangen waren. Wenn man es allerdings recht bedachte, war das in diesem Schuljahr schon die ganze Zeit so gewesen...

...aber nach dem "Vorfall"... Harry konnte es nicht leugnen, es ging ihm etwas besser.

Dieser schwarze, dumpfe Druck auf seinem Herzen, seine klumpige Trauer, fühlte sich weniger schlimm an. Als hätte die Flut heißer Tränen sie einfach weggewaschen. Übriggeblieben war nur dieses nicht benennbare Gefühl der Leere, das seine Tage ausfüllte.

"Oh mein Gott! Was erzählst du da?"

"Das ist ja furchtbar!"

Hektische Aktivität um ihn herum riss Harry aus seinen Gedanken. Es kam ihm fast gelegen. Die Gedanken fingen wieder an anstrengend zu werden. Sein Blick folgten seinen Kameraden, die plötzlich alle aufgesprungen waren und am Eingang zum Gemeinschaftsraum eine aufgeregte Traube bildeten. Zwischen all den laut durcheinander schnatternden Gryffindors machte Harry Rons roten Kopf aus, um den sich alle geschart hatten. Offensichtlich war irgendetwas passiert, und Ron hatte die Nachricht überbracht, aber in dem ganzen Durcheinander konnte man nicht heraushören, was eigentlich.

Harry dachte schon daran, aufzustehen und sich, entgegen seiner neuentwickelten Antisozialen Ader zum Rest zu gesellen, um zu erfahren was los war, als Ron ihm die Arbeit abnehm. Unwirsch befreite sich der Prefect von den Umstehenden mit einigen mehr oder weniger sanften Ellenbögenstößen und eilte schnurstracks und mit fahlem Gesicht auf Harry zu.

"Lies das hier.", sagte er nur und klatschte die neueste Ausgabe des Tagespropheten auf den Tisch. Er war sehr blass unter seinen Sommersprossen.

Harry blickte seinen Freund fragend an, und registrierte beiläfig, wie sich nun sämtliche Gryffindors um seinen Tisch scharten und er aus vielen ängstlichen Augen angestarrt wurde.

Verdammt, er hasste es, wenn sowas passierte. In seinem Magen breitete sich wieder dieses gruselige Gefühl aus, unbestimmtes Wissen, dass etwas passiert war, was gar nicht gut war. Dasselbe Gefühl, dass ihn jedes Mal beschlich, wenn jemand mit schlechten Nachrichten Voldemort betreffend bei ihm angerannt kam. Und alle ihn anstarrten, als wäre er das verdammte achte Weltwunder.

Seufzend faltete er die Zeitung auf und las die fettgedruckten Zeilen auf der Titelseite.

"Blutbad in Hogsmaede"

Na, das fing ja gut an.

Hastig überflog er die Zeilen.

"...wurden in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in dem Restaurant "StinkyPinky-Yummiyummi-BigRick's Snooze-O-Stop" der Geschäftsinhaber, seine Frau und seine Kinder brutal ermordet. Berichten der ermittelnden Auroren zufolge handelt es sich bei der Frau um einen Muggel. Da des Weiteren Nachts das Dunkle Mal über dem Tatort zu sehen war, handelt es sich offensichtlich um das Werk von Todessern."

Der Bericht an sich war schon schrecklich. Brutal ermordet. Todesser in Hogsmaede.

Was Harry aber viel verstörender fand, war das Bild vom Tatort. Es zeigte nur eine Wand, deshalb bewegte es sich so gut wie nicht; aber die Schrift auf der Wand verstärkte das beklemmende Angstgefühl in Harrys Magengegend.

"KAUFT NICHT BEI MUGGELN!" war da hingeschmiert worden, blutrot und tödlich. Und dann noch: " DER JUNGE IST ALS NÄCHSTES DRAN!"

Irgendwie konnte sich Harry ein Augenrollen nicht verkneifen.

Da war sie wieder, die tödliche Bedrohung. Sie meldetete sich zurück, als wollte sie sagen, hier, ich bin auch noch da.

Verdammte, dämliche Todesser. Als hätte die Welt nicht schon genug am Hals. Sie machten ihm keine Angst mehr, sie machten ihn nur noch zornig. Sie nervten, sie waren unerträglich. Sie töteten Menschen und verbreiteten Angst und Schrecken. Was machte sie besser als die Muggelverbrecher und Weltbrandentfacher, von denen er gelesen hatte? Woher nahmen sie diese Arroganz? Was hatte er mit solchen Kriechern zu tun? Er hatte sie so satt. Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen und ihre schwarzen Messen woanders feiern?

Und!

Wieso starrten ihn jetzt alle so an? Als wäre das Ganze auch noch seine Schuld!

In einem plötzlichen Anfall von Wut, Verachtung und noch einigen Restemotionen, die gerade in seiner Seelensuppe herumschwammen, packte Harry den Tagespropheten, riss ihn, mit einiger Anstrengung, in Fetzen und warf sie den Umstehenden entgegen.

"WAS!?" schrie er sie an. "WAS IST DENN??"

Und dann ließ er sie stehen und ging langsam hinaus.

Er hatte vergessen, wie nervig es war, er zu sein. Er. Der Junge, der überlebte. Irgendwie war es ihm entfallen, während er in seinem Selbstmitleid gebadet hatte. Was fast schon Ironie besaß. Wäre er nicht Harry Potter, gäbe es diese ganze Voldemort-Todessersache gar nicht, Sirius hätte nicht sterben müssen, er hätte sein sonniges Gemüt nicht verloren und hätte nicht vergessen, dass er der Junge der überlebte war... halt nein, an dieser Kausalkette stimmte irgendwas nicht.

Über was redeten sie gerade?

Es war echt zum kotzen.

Da standen sie alle in Dumbledores Büro, das wie eh und je mit lauter Klimbim, den niemand brauchte, zugemüllt war; der Orden, geschart um den großen Schreibtisch des alten Mannes. Redeten alle durcheinander. Taten gewichtig. Gestikulierten. Deuteten abwechselnd auf die Zeitung auf dem Tisch, Fotos und anderes, was Auroren so als Beweismaterial mit sich rumschleppen, und auf ihn, der unbeteiligt auf einem Stuhl neben dem Phönixkäfig hockte.

Jetzt redeten sie wieder in der dritten Person über ihn. Als wäre er gar nicht da. Der Junge. Harry. Der Junge. Blablabla.

Klar, dass sie jetzt beraten mußten, was man mit ihm machen sollte. Jetzt, da Voldemorts Partypossi mehr oder weniger seinen baldigen Tod angedroht hatte. Obwohl das auch sehr offen formuliert war. "Dran" sein konnte alles mögliche heißen.

Dennoch. Gab es nichts wichtigeres als diese elende Sache, dieses dumme Voldemort-Ding, dass ihm nebenbei seine Jugend, nein, sein ganzes Leben versaute? Warum fingen nicht alle stattdessen an, Geld in die Dritte Welt zu spenden oder Müll zu recyclen?

Erwachsene sind alle furchtbar und dämlich.

"...ist Hogwarts noch sicher?"

"... -esser so dicht an die Schule gewagt. Was ist wenn..."

"... -berhaupt nicht gesagt, d..."

"...er hierbleiben kann. Ich würde sagen, wir schicken ihn zu seinen Verwandten zurück."

Bei diesem Satz spitzte Harry die Ohren. Klar, dass das wieder von Dumbledore kam.

"Und da ist er sicher? Im vorletzten Sommer sind Dementoren in dieser Gegend aufgetaucht!"

"Im Haus seiner Tante selbst ist er sicher." kam es von Dumbledore. "Bis auf weiteres bin ich wirklich der Meinung, dass seine Sicherheit an diesem Ort am meisten gewährleistet ist..."

Alle schreckten herum, als sie das Poltern des Stuhles hörten als Harry aufstand. Er fühlte schon wieder Wut in sich aufsteigen. Spürte sie in den Eingeweiden, wie es in seinem Mund plötzlich metallisch schmeckte und alles in ihm zu beben begann.

"Sagt..." begann er gepresst. "Habe ich nicht vielleicht auch noch ein bißchen da mitzureden?"

"Mr. Potter, ich glaube kaum, dass sie in der Lage sind, zu beurteilen..."

Doch er hörte dem Rest nicht mehr zu. Er drehte sich einfach um und ging, ließ die alten Leute an ihrem Schreibtisch mit ihren Plänen stehen. Mochten sie planen, soviel sie wollten. Er würde nicht mehr mitmachen.

Zu seinen Verwandten! Ha! Die würden sich bedanken!

Wahllos landeten einige Kleidungsstücke in seinem Rucksack. Eines seiner Bücher flog hinterher. Es war ein Roman über irgendeine obskure Geheimorganisation mit einer Obsession für die Zahl 23.

Warum meinten sie eigentlich, ihn ständig überwachen und bevormunden zu müssen?

Warme Socken, eine Tafel Schokolade. Was brauchte er noch? Taschenmesser? Warum nicht, wer wußte, wozu es gut war. Vielleicht, um ein Schloß oder sowas aufzubrechen.

Jahrelang hatte er gelitten, wegen dieser Leute! Elf Jahre unter der Treppe seines Onkels verbracht! Zu seinem Schutz, hatte Dumbledore gesagt. Schön, Schutz. Aber Elf Jahre solchen Schutzes konnten einiges mit einem Kind anstellen. Der Alte mußte ja nicht unter der Treppe leben und sich erniedrigen lassen.

Verdammte Erwachsene! Verdammte Todesser! Verdammter Krieg!

Er hatte keine Lust mehr. Keine Lust mehr auf Zauberer, keine Lust mehr auf Pläne, keine Lust mehr auf Schutz. Er würde es einfach nicht mehr mitmachen. Sollten sie doch ihr kindisches Hin und Her weitermachen. Diese blöden Todesser würden ihn nicht finden, auch ohne dass der verdammte Orden ihm dabei behilflich sein würde. Er war gut darin, unterzutauchen und sich klein zu machen. Unauffällig zu sein. Das hatte ihm der jahrelange "Schutz" seines Onkels und seiner Tante eingebracht.

Vielen Dank auch Dumbledore. Aber nun ist Ende.

Ihr könnt mich.