Kapitel 5: 6. Oktober

Früh am nächsten Morgen, schlich Lily sich erneut in das Zimmer ihres Vaters, wie sie es jeden Tag tat. Als sie eintrat, hörte sie ihren Vater flüstern. Sie glaubte er wäre wach und trat lächelnd an ihn heran. Doch er schlief noch, schien zu träumen. Neugierig betrachtete sie ihn in der Dunkelheit des Zimmers.
Frodo war blass und unzählige kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner in Falten gelegten Stirn gesammelt. Seine Atmung war schwer. Krampfhaft umklammerte seine rechte Hand den weißen Edelstein an seiner Brust.
Lily bekam es mit der Angst zu tun. Was war mit ihm los? Plötzlich glaubte sie, sich daran zu erinnern, dass er schon einmal krank gewesen war. War das nicht auch um diese Jahreszeit gewesen? Oder war es Frühling gewesen? Furcht ergriff Besitz von ihr und sie griff nach seinem Arm, verzweifelt nach ihrem Vater rufend. Doch anstatt aufzuwachen schrie Frodo auf. Erschrocken wich Lily zurück. Sie konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Was war mit ihm geschehen? Warum wachte er nicht auf?
Tränen rannen über ihre Wangen, als sie immer wieder nach ihrem Vater rief.

Sam, durch Lilys verzweifelte Rufe aufgewacht, eilte in das Zimmer. Er wusste genau, was geschehen war und schalt sich selbst, dass er nicht früher aufgewacht war, um Lily davon abzuhalten zu ihrem Vater zu gehen.
Pure Verzweiflung stand in Lilys Augen, als sie auf ihn zurannte.
"Was ist mit ihm, Sam? Warum hört er mich nicht?", rief sie ängstlich und vergrub das tränenüberströmte Gesicht in seinen Armen.
Sam trug sie ins Wohnzimmer und versuchte, sie zu beruhigen, doch Lily weinte immer heftiger. War er nicht schon öfter plötzlich krank geworden? War das nicht sogar im Herbst und im Frühjahr der Fall gewesen? Warum sagte Sam ihr nicht, was los war?
Sam hielt sie im Arm, redete sanft auf sie ein und schließlich beruhigte sie sich doch. Erschöpft schloss sie die Augen. Inzwischen war Rosie zu ihnen gekommen. Im Flüsterton, da er glaubte, Lily würde wieder schlafen, berichtete Sam, dass es wieder die Schulter wäre, die Frodo Schmerzen bereitete. Rosie machte sich sofort auf, Wasser zu kochen, während Sam Lily zurück in ihr Bett trug.

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, schlug Lily die Augen auf.
Seine Schulter? Er hatte sie gestern auf den Schultern getragen, kurz bevor er zusammengebrochen war. War sie also schuld, weshalb es ihrem Vater nun so schlecht ging?
Erneut traten Tränen in ihre Augen. Natürlich war sie schuld daran, deshalb reagierte er auch nicht, als sie nach ihm gerufen hatte. Bittere Tränen weinend, wickelte sie sich in ihre Decke ein.

"Lily", Rosies sanfte Stimme drang an ihr Ohr. Verschlafen schlug sie die Augen auf. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wusste was geschehen war. Doch kaum hatte sie die letzten Bilder eines Traumes abgeschüttelt, erinnerte sie sich an das schmerzverzerrte Gesicht ihres Vaters. Sie fuhr hoch, wäre am liebsten sofort in sein Zimmer gerannt, um zu sehen, ob es nicht vielleicht doch nur ein Traum gewesen war, aber Rosie hielt sie auf.
Flehend sah sie zu ihr auf, in der Hoffnung, eine Antwort auf ihre ungestellte Frage zu erhalten.
"Keine Angst, morgen wird es ihm wieder gut gehen", versicherte Rosie.
Lily schluckte ihre Tränen und sah sie fragend an. "Ich bin schuld daran, nicht wahr?"
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Rosie war sprachlos, sah sie fassungslos an. Tränen brannten in Lilys Augen. Wenn Rosie nicht antwortete, konnte das nur heißen, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte. Sie war schuld.
Rosie schüttelte den Kopf, nahm das Kind in ihre Arme, drückt es an ihre Brust.
"Aber nicht doch, Lily", sagte sie, als sie ihre Stimme endlich wieder fand. "Wie kommst du denn darauf?"
"Sam,... Sam hat gesagt, dass es die Schulter ist und...", stammelte sie, "und er hat mich doch gestern..."
Alle weiteren Worte wurden von Tränen verschluckt.
Rosie versuchte sie zu beruhigen. Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, wusste sie doch, dass Frodo ihr noch nicht die ganze Wahrheit sagen wollte.
"Du kannst nichts dafür, Lily."
Lily sah zu ihr auf, hörte einen Augenblick auf zu schluchzen.
"Was hat er dann? Gestern ging es ihm doch noch gut", sagte sie traurig.
Rosie strich ihr durch die dunklen Locken. "Das kann ich dir auch nicht so genau sagen, aber Sam weiß bestimmt mehr darüber. Sollen wir ihn fragen?"
Lily nickte und Rosie lächelte ihr aufmunternd zu, strich ihr mit den Fingern die Tränen aus den Augen.

Rosie nahm Lily bei der Hand und ging mit ihr den Gang entlang, zu Frodos Zimmer. Sie klopfte und ging hinein. Lily selbst sollte draußen warten. Dennoch konnte sie einen Blick in das Innere des Zimmers erhaschen.
Frodo lag noch immer, in viele Decken eingepackt, in seinem Bett. Ob er schlief oder wach war, konnte sie nicht sagen. Sam saß an seiner Seite, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.
Lily konnte ihn flüstern hören, verstand jedoch nicht, was er sagte. Ihr fiel auf, dass Sam Frodos linke Hand fest in seiner eigenen hielt und immer wieder darüber strich, als wollte er sie wärmen.

Die Zeit, die sie wartend vor dem Zimmer ihres Vaters verbrachte, kam ihr wie eine Ewigkeit vor, obschon es sich nur um Sekunden handeln konnte. Als Sam schließlich heraus kam, bat er sie, ins Wohnzimmer zu kommen. Er setzte sich in seinen Sessel, während Lily es sich auf seinem Schoß gemütlich machte. Verwirrt und mit furchtsamem Blick sah sie zu ihm auf.
Sam seufzte. "Ich weiß, was du wissen willst, kleine Lily, aber ich kann dir die Antwort auf deine Frage nicht geben. Das liegt ganz allein bei Herr Frodo."
"Aber du musst mir doch sagen können, weshalb er krank ist!", verlangte sie verzweifelt.

Sam seufzte erneut. Seine Augen blickten in die Ferne. Ein gequälter Ausdruck schlich über sein Gesicht, als würden dunkle Erinnerungen in ihm wach.
Lily fürchtete diesen Ausdruck, hatte sie ihn doch schon oft bei ihrem Vater gesehen. Immer dann, wenn sie ihm Fragen über seine Narben stellte und sich mit seiner Antwort nicht zufrieden zeigte. Etwas Schreckliches musste bei seinem Abenteuer geschehen sein, dessen war sie sich sicher. Viele lange Nächte hatte sie schon darüber nachgegrübelt und war zu dem Entschluss gekommen, dass sie herausfinden würde, was genau ihrem Vater widerfahren war.
Lily war jung, doch keineswegs dumm. Sie wusste, wann etwas vor ihr verheimlicht wurde und setzte alles daran zu erfahren, um was es sich dabei handelte. Allerdings dachte sie nie soweit, dass es einen Grund geben könnte, weshalb Dinge vor ihr verheimlicht wurden. Sie glaubte nicht daran, dass es besser sein könnte, manche Sachen erst später zu erfahren. Und so war es auch dieses Mal.

"Sag es mir", bat sie noch einmal und sah Sam flehend an. "Bitte."
Sam nickte. Er wusste, dass er ihr etwas sagen musste, dazu hatte sie ein Recht, doch er würde seine Worte geschickt wählen, sodass er das Kind nicht erschreckte und gleichzeitig Frodos Wunsch nachkam, ihr nichts von dem Ring und der Reise zum Schicksalsberg zu erzählen.
"Du weißt von seinem Abenteuer, nicht wahr?", fragte er.
Lily nickte, erleichtert, dass Sam ihr nun doch sagen wollte, warum ihr Vater krank war.
"Dein Vater ist auf dieser Reise schwer verwundet worden", sagte er, ohne sie jemals aus den Augen zu lassen, um sicher zu gehen, dass sie mit seinen Worten umgehen konnte.
Lily verzog keine Miene. Sie nickte nur traurig, denn von den Verletzungen hatte sie gewusst. Woher sonst sollte er die Narben haben?
"Seine Wunde an der Schulter hat er sich am sechsten Oktober zugezogen."
"Heute", rief Lily überrascht.
Sam nickte. "Heute, vor genau sechs Jahren."
Er schauderte bei dem Gedanken an die Ringgeister und die Nacht auf der Wetterspitze.
"Diese Wunde macht ihn jetzt krank", sagte er schlicht und verbarg die Gedanken und Gefühle, die sich in ihm regten.
"Und warum?", fragte Lily und sah ihn eingehend an, doch Sam schüttelte den Kopf.
"Du wirst sehen, morgen geht es ihm wieder gut. Mach dir keine Sorgen."
Mit diesen Worten stellte er sie wieder auf den Boden und ging zurück in Frodos Zimmer.

Lily sah ihm hinter her.
Heute vor sechs Jahren war er verwundet worden und trotzdem war er noch krank? Wer oder was könnte ihn so schwer verletzt haben?
Sie schluckte weitere Tränen, die in ihr aufstiegen. Keiner wollte ihr sagen, was ihrem Vater geschehen war, doch was sie viel schlimmer fand, war, dass sie ihm nicht helfen konnte.

Rosie wusste, dass sie die Kleine ablenken musste. Nach einem ausgiebigen Frühstück zog sie ihre beiden Kinder und Lily warm an und ging mit ihnen in den Garten. Sam würde sich alleine um Frodo kümmern. Er wusste am Besten, was nötig war, um die Dunkelheit jener Nacht vor sechs Jahren zu vertreiben.
Sie hoffte, Lily würde sich nicht weiter den Kopf um den Zustand ihres Vaters zerbrechen, hoffte, sie würde es beim Spielen mit Elanor vergessen.
Ihre Hoffnung erfüllte sich und binnen kürzester Zeit, rannten Lily und Elanor lachend durch den Garten. Rosie war zufrieden und kümmerte sich in aller Ruhe um ihren Sohn Frodo, der schlafend in ihren Armen lag.

Der Tag verging schnell. Keines der Kinder bemerkte, dass Rosie ab und an in die Höhle verschwand, um nach Herrn Frodo und ihrem Mann zu sehen. Frodo war inzwischen aufgewacht, war aber noch immer nicht wirklich bei sich.
Erst als sie beim Abendessen alle zusammensaßen, wurde Lily wieder betrübt. Frodo war nicht bei ihnen und sie wusste, dass Sam und Rosie ihr nicht erlauben würden zu ihrem Vater zu gehen, umso verwunderter war sie, als Sam sie nach dem Essen bat, mit ihm zu kommen.

Beladen mit einem großen Tablett ging Sam in Frodos Zimmer. Lily folgte ihm. Zögernd spähte sie in das Zimmer hinein, wagte es nicht einzutreten.

Frodo hatte sich aufgerichtet, lehnte jetzt mit dem Rücken am Kopfende seines Bettes. Er war noch immer kreidebleich. Sein verschwitztes Hemd klebte an seinem Körper. Er war wach, doch seine Augen blickten ins Leere. Seine rechte Hand umklammerte noch immer den Edelstein.

Lily durchlief ein Zittern, als sie ihn so sah. Tränen traten in ihre Augen. Am liebsten wäre sie zu ihm gerannt und ihm um den Hals gefallen. Nicht um ihn zu trösten, vielmehr, um selbst Trost zu finden, denn sein Anblick machte ihr Angst. Jeder versicherte ihr, dass es ihm morgen wieder gut gehen würde, doch weshalb waren sie sich da so sicher? Was, wenn dem nicht so war?

"Herr Frodo?", Sam griff vorsichtig nach der Hand seines Herrn. Frodo zuckte zusammen.
"Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht."
Langsam drehte Frodo den Kopf, sah ihn lange an, ehe er auf das Tablett blickte, das auf dem Nachtkästchen stand.
"Sam", der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht, doch seine Stimme klang kraftlos und verängstigt. "Wer soll denn das alles essen?"
"Du natürlich, Herr Frodo", meinte Sam. "Du hast schon den ganzen Tag nichts gegessen. Du musst bei Kräften bleiben."
Sam griff nach dem Tuch, das auf dem Nachtkästchen lag und tupfte Frodo den Schweiß von der Stirn.
"Deine Hand wird schon wieder wärmer", verkündete Sam schließlich erfreut.
Frodo nickte, obwohl er nicht den Anschein machte, wirklich zuzuhören.
"Hier ist jemand, der dich sehen möchte."
Sam führte Lily, die inzwischen zu ihm gekommen war, näher an das Bett heran.

Frodo sah sie an, doch seine Augen schienen durch sie hindurch zu blicken.
"Papa", wisperte sie und Tränen traten in ihre Augen.
Frodo reagierte nicht und sie war kurz davor, aus dem Zimmer zu laufen, als er plötzlich den Edelstein los ließ, den er um den Hals trug und nach ihrer Hand griff.
"Lily", antwortete er leise und wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als seine Augen sie endlich wahrnahmen.

Lily nickte eifrig, trocknete ihre Tränen und umklammerte seine Hand fester.
"Setz dich zu mir", forderte er und Lily kletterte sogleich auf die Bettkante. Frodo strich ihr mit zittrigen Fingern über die Wange. "Wie geht es dir?"
"Sehr gut", antwortete Lily. Sie hätte noch mehr gesagt, doch gerade, als sie zu einem weiteren Satz ansetzen wollte, hatte sie seine linke Hand berührt. Diese war eiskalt, stand im vollkommenen Gegensatz, zur warmen, rechten Hand ihres Vaters.
Verwirrt sah sie erst Sam, dann Frodo an, doch sie entschied, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, solche Fragen zu stellen.
"Das ist gut." Frodo schloss seine Augen für einen Augenblick. "Solltest du nicht schon im Bett sein?", wollte er plötzlich wissen.
Lily wollte den Kopf schütteln, ihm sagen, dass die Sonne noch nicht einmal untergegangen war, doch sie behielt es für sich.

Sie war sich nicht sicher, was es war, doch in gewisser Weise spürte sie, dass sie froh sein musste, dass er sie überhaupt erkannte.
"Du hast Recht. Ich sollte wohl besser gehen", sagte sie nur. "Gute Nacht!"
Es war ungewohnt, ihn auf die Stirn zu küssen und nicht geküsst zu werden, doch dieses kleine Ritual gehörte zum Abend dazu.

Sie winkte ihm noch, als sie aus dem Zimmer ging und, zu ihrer eigenen Verwunderung, in ihr eigenes Zimmer verschwand und sich in ihr Bett legte. Sie lächelte zufrieden. Es ging ihm bereits besser und morgen würde er bestimmt wieder gesund sein.


"Siehst du, du bist schon so gut wie gesund", meinte Sam, als Lily das Zimmer verlassen hatte. Er hatte die beiden lächelnd beobachtet. Es war nicht das erste Mal, dass er feststellte, dass Frodo die Wahrheit gesprochen hatte, als sie vor drei Jahren auf die Elben trafen und zu den Anfurten gingen Lily gab ihm die Kraft, die er brauchte, um für sie da zu sein.
Frodo nickte schwach, doch Sam konnte erkennen, dass er sich seiner Umgebung wieder bewusst war.

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Spät in der Nacht erwachte Lily. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie ihren Vater, der mit einer Kerze in der Hand, an ihr Bett trat.
"Papa!", rief sie überrascht.
Frodo lächelte, stellte die Kerze auf das Nachtkästchen und setzte sich auf die Bettkante. Lily fiel ihm um den Hals.
"Wie geht es dir", fragte sie und sah besorgt in seine Augen, fürchtete, dass er noch immer ins Leere blickte. Doch das tat er nicht. Nun waren seine Augen klar, frei von der Angst, die sie noch am Abend in ihnen gesehen hatte.
Sie fiel ihm erneut um den Hals und seine Antwort war nicht mehr von Nöten.
Frodo drückte sie an sich und strich ihr durch die Haare.
"Du solltest jetzt wieder schlafen", meinte er lächelnd. "Schließlich wollte ich dich eigentlich gar nicht aufwecken."

Lily grinste und legte sich wieder zurück in ihr Bett. Frodo deckte sie ordentlich zu und küsste sie auf die Stirn. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, ehe sie die Augen schloss und einschlief.

~tbc~