Lily

„Nein, hier noch etwas höher! Nein, rechts... Nun macht schon!"

Lily rang mit einigen Zweitklässlern. Sie hatte das Gefühl, sie wollten einfach nicht das tun, was sie wollte. Lily versuchte gerade mit Hilfe von zwei Mädchen einen großen Stoffbanner anzubringen, auf welchem ein Portrait von Albus Dumbledore zu sehen war. Es sollte hoch oben, über den vier Bannern von Hogwarts an der Wand hängen. Außerdem sollte es eine Überraschung für den Schulleiter sein, der jeden Moment die Große Halle betreten konnte.

Es war morgens, halb elf Uhr, und Lily stand auf einen etwas wackelig aussehendem Podest, und wollte die Höhe anpassen. Die beiden Zweitklässler aus dem Hause Ravenclaw, die sie kurzerhand zu Helfern befördert hatten, machten sich offenbar einen Spaß daraus, absichtlich am falschen Ende zu ziehen, und hektisch auf und ab zu rennen.

Als das eine Mädchen mit langen, dunklen Locken gerade wieder einmal kräftig an dem einen Ende des Seiles zog, und als das Plakat so schief hing, dass Dumbledores Nase nicht nur ein großer Haken sondern auch ein gewaltiger Knick zierte, hatte Lily genug. Der Albus Dumbledore, auf dem Plakat, blickte auch nicht sehr zufrieden drein und strich sich mit seiner Hand immer wieder über die Nase, als ob er versuchen wollte, sie so glatt zu bekommen.

Blitzschnell griff sie in ihren Umhang und zog ihren Zauberstab hervor. Die noch immer kichernden Zweitklässler drehten ihr gerade den Rücken zu und sie hob die rechte Hand. In dem Moment blickten die beiden über ihre Schultern, wahrscheinlich weil das erwartete Donnerwetter ausgeblieben war. Die Sonne, die einige schwache Strahlen durch die hohen Fenster schickte, beschien nun den Zauberstab, und er blitzte ihn Lilys Hand auf. Etwas überrascht zog sie ihre Hand zurück, und das Grinsen verschwang aus den Gesichtern der Zweitklässler. Lily musste innerlich lachen. Denen würde sie jetzt erst mal einen Schrecken einjagen! Theatralisch fuchtelte sie mit ihrem Zauberstab herum, und richtete ihn auf die beiden. Sie starrten Lily entsetzt an, doch in dem Augenblick riss Lily den Zauberstab in die Höhe, und richtete ihn auf das schwankende Plakat, hoch über ihren Köpfen. Sie schrie:

„Portus Plakat!" und das Plakat schwebte hoch. Sie wirbelte ihren Zauberstab herum, und der nun grinsende Dumbledore, schraubte sich weit empor, bis fast unter die Decke. Lily holte weit aus, und mit einem lauten Knall klatschte das Plakat an der richtigen Stelle an die Wand.

„Fixus.", murmelte Lily, und das Plakat blieb dort hängen wo es sich gerade befand. Dumbledores Abbild zeigte ihr einen Daumen, und lächelte.

Lily sprang von dem Podest und landete direkt vor ihren Helfern. Sie grinste die beiden an, warf den Kopf zu Seite und ihre langen roten Haare flogen. Dann rauschte sie schnell davon, hinüber zu Alice, die- erstaunlicherweise einmal ohne Frank- in einer Ecke lehnte. Alice grinste anerkennend, und meinte:

„Wow, denen hast du es aber gezeigt."

Dieser Satz brachte Lily zurück in die Vergangenheit, und zurück zur letzten Nacht. Sie nickte nur abwesend, und verabschiedete sich schnell wieder von Alice, bevor Alice sie über Sirius und James ausfragen konnte. Denn das hatte sie bestimmt vor, so wie sie ihre beste Freundin kannte.

Sie trat aus dem Gebäude hinaus, und lief hinunter zum See. Sie wollte, ein wenig abseits vom Trubel, in Ruhe über die Vorkommnisse der letzten Nacht nachdenken. Und vor allem wollte sie eines: sich über ihre Gefühle klar werden.

James. James- James, nie hätte sie sich träumen lassen, das sie mal über ihn nachdenken würde, ohne sich über ihn zu ärgern. Auch gestern Abend hätte sie es nicht gedacht, bevor sie aufgebrochen war, um in der Bibliothek schon mal einige Ideen zu suchen. Eher hatte Sirius sie beschäftigt, mit dem sie sich am Nachmittag so gut verstanden hatte. Über James hatte sie nur am Rande nachgedacht. Doch als sie zusammen unter diesem Tarnumhang, was auch immer das genau war, saßen, und sie diese Furcht überkam, hatte sie sich in seinem Arm einfach wohl gefühlt, dass konnte sie nicht bestreiten. In seinem Arm hatte sie keine Angst mehr gehabt. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er dafür sorgen würde, dass sie alle heil aus der Sache herauskämen. Selbst als sie vor Filch auf dem Boden kauerten, hatte sie nicht damit gerechnet, bestraft zu werden. Und als sie ihm gegenüber gestanden hatten, war sie sich sicher. In dem Moment, da Filch und James gleich groß waren, Remus und Sirius sogar noch größer, schien die Situation nicht mehr ganz so ausweglos zu sein.

Im Nachhinein wunderte sie sich, warum sie anschließend im Gemeinschaftsraum so ruhig geblieben war, sie hätte allen Grund gehabt, sich aufzuregen. Vielleicht war sie immer noch so beeindruckt von dem perfekten Vergessenszauber gewesen, den James und Sirius Filch auf den Hals gejagt hatten? Oder vielleicht war dieser Zauber zwischen James und ihr noch nicht verflogen gewesen? Zwischen ihnen war einfach etwas. Was es war, vermochte sie nicht genau zu beschreiben, aber sie spürte es.

Etwas, dass ihr die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu zeigen schien. Etwas, dass sie verstehen ließ, warum die Jungs immer soviel Mist bauten. Etwas, dass, tief in ihr, nach mehr verlangte. Nach mehr Spaß, nach mehr Abenteuer. Dass sie zu einer neuen Lily machte, die nicht mehr die brave Schulsprecherin sein wollte, nicht mehr diejenige, welche die Schwachen beschützte- nicht mehr das Vorbild für alle.

Auch jetzt, in diesem Moment, obwohl James gar nicht da war, auch jetzt spürte sie es noch. Sie wollte ihr Leben ändern, sie wollte sich abheben von der Masse.

Sie wollte am Ende ihres Lebens nicht erkennen, dass sie gar nicht gelebt hatte.

Auf einmal erkannte sie, dass sie den See fast ganz umrundet hatte, und mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass es schon kurz vor zwölf war. Um zehn war ein Treffen der Gryffindors aus der siebten Klasse in der Bibliothek. Die ersten Schritte rannte sie noch, dann verlangsamte sie auf einmal ihre Schritte.

Dann würde sie heute also zum ersten Mal in ihrem Leben zu spät kommen.

Um viertel nach zwölf betrat sie die Bibliothek, und sie erkannte überrascht, dass ihre Klassenkameraden, auch ohne sie, etwas auf die Beine stellen konnten. Die anderen sieben Klassenmitglieder waren damit beschäftigt, in einigen Büchern zu blättern, oder neue herauszusuchen. Sie schaute sich um. Das war tatsächlich der gleiche Raum, in welchem sie keine acht Stunden zuvor in einer schmalen Nische gehockt und vor Filch gezittert hatte. Jetzt, beim Anblick des sonnendurchfluteten Raumes, kam ihr das alles wie ein Traum vor.

Natürlich war Sirius– wie sollte es auch anders sein – von Kathryn und Sue belagert. Die beiden hatten Lily noch nicht gesehen, denn sie standen mit dem Rücken zu ihr. Alle drei standen neben einem hohen Regal, und unterhielten sich. Lily beschloss, Sue und Kathryn erst mal zu zeigen, dass sie sich ein wenig mit den Jungs angefreundet hatte. Sie zwinkerte Sirius kurz zu, und ging geradewegs auf ihn zu. Sie meinte fröhlich:

„Hi, Sirius.", und umarmte ihn.

Er reagierte sofort, erwiderte die Umarmung.

„Hi Lil', na, gestern Nacht noch gut ins Bett gekommen?" Lily nickte. Sirius war einfach großartig, er verstand sofort worauf sie hinauswollte.

„Ihr auch?"

„Klar..." Lily ließ sich nichts anmerken, weidete sich jedoch ausgiebig an den nahezu entsetzten Gesichtern von Kathryn und Sue.

Die beiden sahen aus, als hätte man ihnen soeben erklärt, dass Hexe Heute, verantwortlich für sämtliche Schminkartikel in ihrem Zimmer, pleite gemacht hätte, und sie nun eine dicke Farbschicht im Gesicht herumlaufen müssten.

„Und sonst- ausgeschlafen?", fuhr Sirius mit unschuldiger Miene fort, und drehte sich kaum merklich von den beiden weg.

„Na ja- es geht." Lily strich sich die Haare aus dem Gesicht, und schaute sich im Zimmer um. Ein sanfter Schlag durchfuhr sie, als sie James einige Meter weiter weg stehen sah, der mit dem Rücken an ein Regal gelehnt war und alleine in einem alten Buch blätterte. Seine dunklen Haare standen wie immer nach allen Seiten vom Kopf weg, und seine Stirn war vor Anstrengung verzogen. Seine braunen Augen bewegten sich hastig. Sie wollte gerade zu ihm gehen, als ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem gefangen wurde.

Sirius, der sich nun an einen Tisch gesetzt hatte, vertiefte sich nun in ein Buch. Die blonde Sue näherte sich von hinten, und beugte sich zu ihm hinunter. Ihre langen Haare streiften über Sirius' Arm, als sie sich wieder aufrichtete, und sich rücklings an den Tisch lehnte. Lily sah es mit einem Blick in Sirius' dunkle Augen: er war nicht interessiert. Er erhob sich rasch, und stellte sich wieder dicht neben Lily, die nun ihrerseits neben dem hohen Regal stand.

„Wie findest du diesen Zauber?", fragte er, und legte seinen Arm um ihre Hüfte. Lily schaute ihm in die Augen, und er blickte sie bittend an.

„Hhm, nicht schlecht, aber den von gestern Nacht.. ups!", sagte sie laut. Sie kicherte und schlug die Hand vor den Mund. Sie hoffte, dass sie sich nicht so affektiert anhörte, wie Sue und Kathryn bei ihren Gesprächen. Sie war überzeugt, dass die beiden es gehört hatten.

„Weißt du noch...", prustete Sirius nun laut los. Er deutete mit seinem Daumen hinter sich, und Lilys Blick wanderte in die Richtung. Ihre Augen waren nun auf eine Zimmerecke gerichtet. Auf die eine Zimmerecke. Lily nickte grinsend, und schmiegte sich in einem – ihrer Meinung gut gespielten- Lachanfall kurz an Sirius.

RUMMS.

Die Bibliothektür war zugefallen. Zuerst dachte Lily, Sue oder Kathryn wären gegangen, aber als sie den Blick wieder hob, hatten sich die beiden zwar zum anderen Ende des Raumes bewegt, und sie feindselig anstarrten, aber jemand anderes musste aus der Tür gestürmt sein. Sie blickte umher.

Der Platz, an dem James gerade noch gestanden hatte, war nun leer. Betroffen ließ Sirius seinen Arm sinken. Und Lily hörte schlagartig auf zu lachen.

„Das tut mir leid...", brummte Sirius.

Gerade wollte Lily ‚Mir auch' sagen, als sich etwas in ihr wehrte. Ihr tat doch nichts leid! Nicht mehr.

„Ach, der soll sich mal nicht so anstellen.", meinte Lily leise, aber irgendwo tief drinnen bereute sie es doch, dass sie so ausgelassen mit Sirius herumgealbert hatte.

„Lass uns jetzt einen Zauber aussuchen, sonst haben wir keine Zeit mehr: wir müssen ihn auch noch üben."

Die beiden gingen nun zu Alice, bei der auch Remus und Peter saßen. Lily hörte gar nicht richtig zu, als Alice, Peter und Remus ihnen die Zauber vorstellten, die sie herausgesucht hatten.

Vor einer halben Stunde erst, hatte sie den Entschluss gefasst, ihr Leben umzukrempeln, und anders zu leben. Sie wollte so leben, wie die Rumtreiber. Den Namen hatte sie auf der merkwürdigen Karte gelesen, als sie neben James in der dunklen Ecke gehockt hatte. James. Der Gedanke an ihn, versetzte ihr nun einen Stich. Sie hatte sich so benommen, wie er es getan hätte. Zumindest so, wie sie es vermutet hatte. Sie hatte es alle nicht zu ernst genommen, hatte lockere Späße mit Sirius gemacht. Sie hatte ihre Freundinnen gehörig auf den Arm genommen. Sie hatte die Rumtreiber beeindrucken wollen. Und jetzt war James rausgerannt.

Was empfand sie für James? Vor den neusten Ereignissen, gerade eben in der Bibliothek, hatte sie gedacht, er wäre nur eine Art Inspiration für sie, ihr Leben neu zu formen.

Doch konnte sie mit Sicherheit sagen, dass es nicht Liebe war? Dieser Gedanke wurde ihr auf einmal schlagartig bewusst. Sie konnte nicht behaupten, in ihrem Leben jemals verliebt gewesen zu sein.

Klar, die üblichen Schmetterlinge im Bauch, bei irgendeiner Schwärmerei für einen älteren Schüler, in der zweiten Klasse, hatte sie natürlich gehabt. Aber das dieses Gefühl keine Liebe war, wusste sie natürlich schon lange. Die Erkenntnis, das sie wirklich nie richtig geliebt hatte, verwirrte Lily sehr, denn so konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, was sie nun wirklich für James empfand. Sie hatte eigentlich gedacht, dass sie Sirius näher stand als James. Aber über ihre Gefühle zu Sirius, dem Schwarm der Mehrheit der anderen Mädchen, war sie sich zumindest klar. Natürlich sah er gut aus, war unheimlich nett und hatte dieses mitreißende Lachen- aber James war anders.

Etwas faszinierte Lily seit einigen Tagen an ihm. Es war diese merkwürdige Verschlossenheit, mir der er sich umgab. Früher hatte sie immer gedacht, sie würde ihn von den Streiterein während des Unterrichts oder in den Fluren kennen, doch ihr wurde bewusst, das James viel in sich gekehrter war, als er auf den ersten Blick schien.

In dem Moment klappte Peter das dicke Buch zu. Lily schrak hoch.

„Gut, dann nehmen wir diesen Zauber.", sagte Sirius. Sie schaute um sich. Alle anderen standen um sie herum um nickten.

„Wir treffen uns in einer halben Stunde... hat einer ne Idee wo wir ungestört üben können?" überlegte Sirius.

„Im Klassenraum für Verwandlung. Professor McGonagall hat es uns zum Üben zur Verfügung gestellt.", meinte Remus.

„Okay. Bis gleich, also." Während alle anderen den Raum verließen, tippte Lily Remus an, und bat ihn, ihr alles zu erklären.