James

Ziellos lief er über die Länderein von Hogwarts. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur eines blinkte vor seinen Augen immer wieder auf, wie eine der großen Reklametafeln bei den Quidditchspielen.

Was sollte das eben in der Bibliothek? Was hatte sich Lily nur dabei gedacht? Woher kam der plötzliche Sinneswandel von ihr?

Gestern, bei den Festvorbereitungen, war ihm aufgefallen, dass auch etwas Spaß machen konnte, was nicht unbedingt verboten war. Dann abends jedoch, hatte er sich so darüber gefreut, endlich mal wieder nachts durch Hogwarts zu schleichen. Aber nachdem sie später zum aberhundersten Mal nur mit Mühe und Not Filch entkommen waren, war ihm aufgefallen, dass sie immer sehr viel Glück hatten. Und: er hatte Lily in Gefahr gebracht. Das hatte ihn am meisten gewurmt.

Spät in der Nacht noch, hatte er einen Entschluss gefasst: Er wollte so werden wir Lily es war: ein verantwortungsvoller Schulsprecher, ein Vorbild für alle. Er hatte nun genug Abenteuer und Gefahren gehabt, sein letztes Jahr in Hogwarts sollte ganz anders aussehen. Vollmond jetzt einmal ausgenommen.

Nach einer kurzen Nacht war er heute morgen früh aufgestanden, und hatte alles in die Hand genommen. Er hatte die vier Hogwartsbanner in der Großen Halle aufgehängt, Aufgaben verteilt und alles überwacht. Er hatte es sogar, mit viel Mühe und Not, hinbekommen, ein großes Portrait von Dumbledore auf ein großes Stück Leinwand zu malen. Okay, er hatte es malen lassen, von dieser blonden Melanie Green aus Ravenclaw. Sein Jinxilia- Zauber war nie besonders gut gelungen, aber er wollte auch nicht Lily danach fragen, denn sie hatte noch geschlafen. Er war zu jeder Klasse aus Gryffindor gegangen, und hatte ihnen seine Hilfe angeboten. Er war freundlich zu allen Schülern gewesen, selbst zu denjenigen, die er nicht ausstehen konnte. Bis auf Severus Snape vielleicht. Nein, bis auf Severus Snape.

„Hallo James, was machst du denn hier?"

James blickte hoch. Er hockte am Rande des Sees, und plätscherte mit einem langen Stock in der grauen Suppe herum. Kein bisschen blauer Himmel spiegelte sich heute in dem See, und so sah er ziemlich schmutzig und gefährlich aus.

„Hallo Hagrid.", antwortete er und stand auf. „Ich gehe ein bisschen spazieren..."

„Alleine? Ohne deine drei Freunde? Is' ja ganz was neues." Hagrid hob seinen dichten Augenbrauen, und die schwarzen Augen darunter sahen besorgt aus.

„Aber alles is' in Ordnung, ja?"

„Klar, alles in Ordnung. Ich wollte nur-" James zögerte. „Ich wollte nur ein wenig weg- von dem Trubel." Es begann zu regnen. Hagrid sah nicht sehr überzeugt aus, aber er bohrte nicht weiter nach. Stattdessen fragte er:

„Lust auf 'n Tee?" James nickte zögernd. Eigentlich wollte er ein wenig allein sein, aber ihm war in seinem dünnen Umhang, der mehr und mehr nass wurde, ein wenig kalt. Ein kalter Herbstwind ließ ihn frösteln.

Kurze Zeit später saßen die beiden in der kleinen Blockhütte, und tranken Tee, welchen James nicht besonders lecker fand dafür aber schön heiß war.

Sie unterhielten sich lange, und James wurde von seinen Problemen angelenkt. Hagrid ließ die Sache auf sich beruhen und James war sehr dankbar darüber.

Er merkte wiedereinmal in dieser kleinen Hütte nicht, wie die Stunden verflogen und auf einmal bemerkte Hagrid, dass es draußen schon dämmerte.

„Oh, muss hoch zur Schule." Er packte die restlichen Felsenkekse wieder zurück in eine große, rote Blechdose voller Beulen, und stand auf.

„Hoffe, es hat dir geschmeckt?"

James nickte, stand ebenfalls auf und packte die Teekanne am Griff.

„Musst du nicht auch irgendwas aufführen?", fragte Hagrid, während er die beiden Tassen, zusammen mit der Kanne, in die Spüle stellte.

„Ich fürchte, das kann ich nicht... Ich war gar nicht mehr oben in der Schule. Mist, jetzt kann ich den Zauber gar nicht." Im Prinzip war James darüber aber gar nicht so traurig, denn nach feiern war ihm jetzt sowieso nicht zumute. Er machte ein betrübtes Gesicht, und verabschiedete sich dann schnell von Hagrid. Nach einigen Schritten auf dem nassen Gras, wandte er sich aber nach links ab, hinüber zum Verbotenen Wald. Er verschwand hinter einem Busch und duckte sich. Kurze Zeit später kam Hagrid vorbei. Er hatte sich ein großes Paket unter dem Arm geklemmt, und sah in der Dämmerung aus wie ein Riese der einen dicken Klops statt einen Arm an der Seite hatte. Als er in der Einganghalle verschwunden war, stand James auf, und streckte sich erleichtert. Sein rechter Fuß war eingeschlafen und so lief er eine Weile im Kreis.

Was sollte er jetzt tun? Ins Schloss zurück konnte er nicht, denn dort begann nun das große Fest. Somit ging er zurück zu Hagrids Hütte, und suchte sich einen Platz, an dem er nachdenken konnte. Weiter nachdenken, über sich selbst, sein Leben und natürlich über Lily.

Er lief um die Hütte herum und stand auf einmal mitten im Gemüsebeet. Er versank knöcheltief im Lehm, der vom Regen aufgeweicht war.

„So ein Mist..." Schnell ging er hinüber, zur Hintertür, und setzte sich unter dem Dachüberstand auf die Schwelle. Er griff nach seinem Zauberstab, und reinigte seine Schuhe. Lustlos ließ er seinen Zauberstab neben sich fallen. Einige Funken stoben aus der Spitze hervor, als würde der Stab sich gegen eine solche Behandlung wehren.

Er saß dort lange, und ihm wurde langsam immer kälter. Sein nasser Umhang durchweichte sämtliche Klamotten, die er darunter trug, und der kalte Wind tat ein Übriges, um James zu einem totalen Eiszapfen werden zu lassen.

Außerdem ließen ihn seine Gedanken nicht mehr los. In seinem Kopf schwirrte alles, und bald erkannter er nur einen Ausweg aus der Kälte und der Verwirrung:

Er musste Krone werden. Oder besser gesagt, eine Krone bekommen. Es war ihm egal, ob es nun verboten war, oder nicht, es war ihm egal was Lily davon halten würde.

James steckte seinen Zauberstab wieder ein, stand auf und konzentrierte sich ganz auf sein Vorhaben. Er schloss die Augen, und legte das Kinn auf die Brust. Ein kalter Windstoß ließ seinen Umhang hochwirbeln, und er dachte bei sich, dass er wohl ziemlich gruselig aussehen musste. In dem Moment begann seine Verwandlung. Er warf sich nach vorne auf die Hände, und spürte, wie seine Arme und Beine immer länger, dünner und kräftiger wurden. Seine Klamotten verschwanden, und auf seiner Gänsehaut bildete sich ein dichtes Fell. Er fühlte sich schlagartig besser.

Krone hob den Kopf, und gab ein lautes Röhren von sich. Der unglaubliche Drang zu rennen und nie mehr aufzuhören, machte sich in ihm breit. Elegant setzte er über den breiten Graben hinter dem Gemüsebeet hinweg, und der große Hirsch trabte in den Verbotenen Wald.

Er schaute sich um. Alle Gedanken waren aus seinem Kopf gestrichen. Alle Gedanken über den verantwortungsbewussten Schulsprecher, alle Gedanken über die Vorführung der Siebtklässler aus Gryffindor- selbst alle Gedanken über Lily Evans.

Oder fast alle Gedanken über Lily Evans. Zurück bliebt nur noch die große Zuneigung, die er ihr gegenüber verspürte. Nur noch dieses starke Band zwischen ihnen, was er gespürt hatte, als sie neben ihm auf einem kalten Parkettboden kauerte. Und ihr glockenhelles Lachen.

Es hallte in seinem Kopf wieder und es trieb James an, immer schneller zu laufen. Er galoppierte durch Dickicht, durchbrach Zweige und spürte die Schrammen an seinen Beinen kaum.

Der Hirsch rannte immer tiefer in den Wald hinein, schlug Haken und sprang so hoch er konnte. Irgendwann blieb er völlig erschöpft auf einer kleinen Lichtung stehen, und bemerkte, dass er noch nie so tief in dem Wald gewesen war, wie jetzt. Und ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal allein im Verbotenen Wald war. Zumindest Sirius hatte ihn immer begleitet.

James stellte jedoch fest, dass dieses Wissen ihm keine Angst machte, eher fühlte er sich selbstständiger und erwachsener als zuvor. Er schaute nach oben, um zu sehen, ob der Mond schon aufgegangen war. Doch dicke Wolken schirmten das weiße Licht des Mondes ab.

In dem Moment hörte er etwas. Er drehte sich blitzschnell um sich selbst, und spitzte die Ohren. Zu seinen ohnehin schon guten Reflexen von Quidditch, kamen nun noch die eines erfahrenen Hirsches hinzu. Jeder Muskel in ihm spannte sich, und er schaute angespannt in die Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen.

Er wartete, und ihm wurde wieder einmal bewusst, was so ein Hirsch doch für ein gutes Gehör hatte. Lange bevor der ‚normale' James es hatte wahrnehmen können, hatten bei ihm schon die Alarmglocken geläutet. Er erkannte nach und nach, das es sich um den schnellen Trab einiger Huftiere handeln musste. Und da Zentauren die einzigen Huftiere waren, die diesen Wald bewohnten, zumindest von welchen James wusste, war er nicht weiter überrascht, als drei Pferde mit Oberkörpern von Männern über den Vorderbeinen, aus dem Dickicht hervorbrachen und vor ihm anhielten. Zwei hatten kastanienbraunes Fell. Einer von ihnen hatte rotes Haar und einen roten Vollbart, der andere dunkelbraunes Haar und Bart. Der dritte hatte einen weißen Körper und hellblondes Haar.

James hatte gelernt, Zentauren mit Respekt entgegenzutreten, und senkte andächtig sein mächtiges Geweih vor ihnen.

„Ah, Mr James Potter.", sagte einer der beiden braunen Zentauren, den James unter dem Namen Ronan kannte. James hörte die Stimme in seinem Kopf, und antworte in Gedanken:

„Guten Abend, Ronan. Wie geht es ihnen?"

„Merkwürdige Dinge passieren-" Natürlich- die Antwort kannte James schon. Die bekam er so ziemlich immer, wenn er auf einen Zentauren traf. Diese, oder-

„- und noch merkwürdigere Dinge werden passieren." Genau, eben diese, dachte James bei sich.

„Guten Abend, James Potter." Milane, der andere braune Zentaur, verneigte sich leicht vor dem Hirsch.

„Auch ihnen wünsche ich einen guten Abend, Milane." Die Zentauren legten auf Höflichkeit und auf genaue Anrede mit ihren Namen großen Wert, und James hatte nicht vor, sich mit ihnen anzulegen. Er wandte sich dem hellen Zentauren zu, und senkte sein Geweih erneut vor ihm. Er hatte ihn noch nie gesehen.

„Mein Name ist James Potter, Sir. Ich bin Schüler der Hogwarts-Schule, und sehr erfreut sie zu treffen." James war genauestens darauf bedacht, höflich und langsam zu sprechen. Der Weiße verneigte sich ebenfalls und antwortete:

„Mein Name ist Firenze. Ich wohne noch nicht lange in diesem Wald. Ich stelle fest, dass wir es hier mit einem Schüler zutun haben, der das Fach Verwandlung gut beherrscht. Sind sie ein Animagus?"

James war überrascht. Nie hatte ein Zentaur sich näher mit der Welt der Zauberer auseinandergesetzt, geschweige denn, dass er einen getroffen hatte, der wusste welche Fächer in Hogwarts gelehrt wurde noch einen, der wusste was ein Animagus ist.

„Sie kennen sich gut in unserer Welt aus, Mr Firenze. Sie haben recht, ich bin ein Animagus."

James warf Ronan und Milane einen schnellen Seitenblick zu und bemerkte die Blicke von ihnen. Offensichtlich waren sie nicht mit der beinahe freundschaftlichen Art zufrieden, die Firenze James gegenüber an den Tag legte.

Firenze warf den Kopf in den Nacken, und gab ein wieherndes Lachen von sich.

„Natürlich habe ich recht, Mr Potter. Das weiß ich."

James wünschte sich, ein Hirsch könnte ermutigend lächeln, denn er war sich sicher, das der nette Firenze gleich noch einiges von seinen Freunden zu hören bekommen würde. Aber er konnte es nicht, und somit beließ er es bei einem Kopfnicken.

Er unterhielt sich noch einen Weile mit Ronan, Milane und Firenze, doch bald mussten die drei gehen.

„Passen sie auf sich auf, junger James Potter. Merkwürdige Dinge geschehen.", Milane verneigte sich zum Abschied.

„Und merkwürdige Dinge werden noch passieren, vergessen sie das nicht, Mr Potter." Ronan tat es ihm gleich.

„Auf Wiedersehen." Die Zentauren trabten davon.

Auch James machte sich wieder auf seinen Weg ohne Ziel, jedoch in die Entgegengesetzte Richtung. Noch so ein Gespräch voller Höflichkeit würde er heute Abend nicht durchstehen.

James fand, dass Firenze zu menschlich für einen Zentauren war. Er schloss daraus, dass er noch sehr jung sein musste. Auch sein Bart hatte, im Gegensatz zu den der anderen, noch ziemlich dünn ausgesehen. James trabte durch dichtes Unterholz.

Firenze würde schnell, dazu lernen, da war sich James sicher. Er hatte gehört, dass Zentauren ziemlich überzeugend sein konnten. Doch gerade als er bekannte, dass Firenze ihm ziemlich leid tat, kam er auf eine neue Lichtung.

Die Lichtung war in einen merkwürdigen schwarzen Nebel getaucht und, obwohl sich keine Bäume im Umkreis von zehn Meter befanden, konnte James kaum etwas erkennen. Obwohl im sein Instinkt – ob es jetzt der menschliche oder der tierische war, vermochte er nicht zu sagen – ihn warnte umzukehren, wehrte sich seine unschlagbare Neugierde dagegen. Er beschloss, sich zurückzuverwandeln, und sich mit seinem Zauberstab ein wenig Licht zu verschaffen.

Eine Minute später kniete ein junger Mann auf dem Fleck, wo eben noch ein ausgewachsener Hirsch gestanden hatte. James hob den Kopf, und zog seinen Zauberstab aus dem Umhang. Eine Welle der Kälte umklammerte ihn, und er war dankbar dafür, dass er endlich gelernt hatte seine Klamotten mitzuverwandeln.

„Lumos.", flüsterte er und die Spitze seines Zauberstabes glühte hell auf. Doch das Licht konnte die dunklen Nebelschwaden fast gar nicht, nur schwach, durchdringen. James blinzelte, als ob er etwas im Auge hatte, und tastete sich vorwärts. Als Hirsch hatte er doch noch besser sehen können.

Auf einmal fühlte er einen warmen, fast heißen Luftzug. Es roch auf einmal sehr unangenehm. Er hob seinen Zauberstab hoch über seinen Kopf, und versuchte in der Richtung, aus der dieser heiße Luftstrom kam, etwas zu erkennen. Auf einmal teilte sich die Schwärze vor ihm, und es erschien etwas großes vor seinen Augen. Eine Art Torbogen, ebenfalls pechschwarz, mit verschlungenen Muster auf dem Rand. James betastete vorsichtig den Rahmen. Er war aus Stein, und eiskalt, trotz der warmen Luft, die auf dem Innern zukommen schien. Angestrengt blickte er in die Tiefen des Bogen. Er erkannte eine kleine Flamme im Innern lodern, und es war ihm als vernahm er auf einmal einen schwachen Laut. Es kam ihm so vor, als ob er die Stimme kennte.

Er richtete sich kerzengerade auf. James trat todesmutig vor.

Entschlossen betrat er das geheimnisvolle Portal.