Es war still geworden in den Gängen und Sälen der Burg zu Hogwarts. Es war der späte Abend des 6. August 2006. Eine Nacht trennte das Internat von einem neuen Schuljahr in all seiner Alltäglichkeit. Nahezu alle Schüler waren in den Betten – nur ein Slytherin aus dem siebten Jahrgang war noch wach. Sein Name war Draco Malfoy. Er hatte sich von seinen ständigen Begleitern abgesetzt und wollte noch einige Minuten durch die düster gewordenen Gänge wandern, um nachzudenken.

Seit seiner Ankunft vor etwa vier Stunden hatte ein seltsames Gefühl von ihm Besitz genommen. Man möchte meinen, es wäre eine leise Vorahnung. Es hatte ihn davon abgehalten, sich wie gewöhnlich zu Bett zu legen.

Ob es damit zusammenhing, dass er das letzte Mal vor dem Beginn eines Schuljahres in Hogwarts stand? Er blickte nun auf sechs Jahre an dieser Schule zurück und stand ein Jahr vor der NEWT Prüfung. Das letzte Jahr in Hogwarts. Danach drohte eine höchst ungewisse Zukunft.

Wie oft hatte er diese Schule mit all ihren Türmen, Treppen, Sälen und Klassenzimmern, mit all ihren Lehrern, Schülern und anderen Menschen hassen müssen, aber wie oft hatte er sie auch lieben können. Nun war der Abschied so nah.

Der Abschluss war nun in greifbare Nähe gerückt. Noch einmal verlangte die Schule den vollen Einsatz und die volle Kraft von ihren Schülern, ehe sie die Schüler in die Zukunft entließ.

Wie es wohl alle Schüler getan hatten, so hatte sich auch Draco vorgenommen, dieses Jahr besonders viel zu lernen, um schließlich besonders viel zu erreichen. Es sollte die Weichen für die Zukunft in der magischen Welt stellen.

'Zukunft'. Bei diesem Wort drehte sich Draco im Moment der Magen um. Er war was seine Perspektive anging, hin- und hergerissen zwischen zwei Möglichkeiten, die ihm beide nicht zusagten. Bis zum Ende dieses Schuljahres konnte er noch nachdenken, doch das machte die Tatsache kaum leichter.

Bei den Schullaufbahngesprächen mit Prof. Snape hatte er angegeben, er wolle für das Zaubereiministerium arbeiten, wie es sein Vater damals noch getan hatte. Sein Vater hingegen wollte ihn als Todesser und Diener des dunklen Lord sehen. Draco wollte beides nicht.

Das Ministerium hatte ihm zwar bereits diesen Sommer eine Stelle angeboten unter der Voraussetzung, er bestehe die NEWT-Prüfung erwartungsgemäß. Er sollte dann in der Abteilung für Internationale Kooperation arbeiten, genauer gesagt in Paris als Gehilfe des britischen Botschafters. Aber das reizte Draco reichlich wenig. Es war nicht mehr als Papierarbeit, Statistiken machen, Aufenthaltsgenehmigungen übermitteln, Informationen zusammenstellen – die Karrierechancen waren schlecht. Außerdem gefiel Draco Frankreich garnicht. Er konnte dieser Tätigkeit einfach nichts abgewinnen.

Aber auch die Tätigkeit für den dunklen Lord sagte ihm nicht zu. Zwar würde er sehr gerne, wie es sein Vater vorsah, an der magischen Universität in Leningrad studieren. Es klang faszinierend, wenn er daran dachte, dass es die größte rein-magische Stadt der Welt war, obwohl sie erst 1992 entstanden war. Überhaupt hörte es sich sehr gut an in einer großen, traditionsreichen Zaubergemeinschaft, wie es die sowjetische nunmal war, zu leben und zu lernen. Überhaupt gefiel ihm den Weg, den diese Magie-Nation eingeschlagen hatte, in dem sie nach Ende der Muggel-Sowjetunion trotzdem als ganze Union bestehen geblieben war und nun seit dem Rücktritt des letzten Muggel-Präsidenten Gorbatschow keine Verbindung mehr zwischen Muggels und Zauberern bestand. Es war keine Frage, das war eine interessante Perspektive.

Doch Draco wollte nicht Diener des dunklen Lords werden. Er konnte sich mit dessen Zielen vollständig – oder zumindest in weiten Teilen – identifizieren. Doch er hatte seinen eigenen Kopf. Er wollte selbst bestimmen, was er für richtig oder falsch hielt. Er wollte die Freiheit seines eigenen Willen nicht aufgeben, er konnte es nicht. In ihm lebte, das wusste er, ein Idee von geistiger Freiheit, die nicht unterdrückt werden durfte.

Weder der dunkle Lord noch sein Vater ahnten etwas von diesen Überlegungen. In den flüchtigen Kontakten, die Draco in das Versteck der Todesser hatte senden können, hatte er sich gehütet auch nur davon zu sprechen. Er fürchtete sich davor.

Aber er wusste, irgendwann mussten sie es erfahren. Ihn quälte der Gedanke. Schon oft hatte er sich die Reaktion des dunklen Lords oder seines Vaters ausgemalt, wenn der Vater den Brief las, in dem er ihm mitteilte, dass er kein Todesser werden wolle. Er konnte das Gesicht vor sich sehen. Ungläubig, er würde zunächst nicht verstehen, dass es ernst gemeint war, dann aber von einem tiefen Zorn verzerrt. Kreideweiß würde er sein, wenn er die Nachricht an den dunklen Lord weitergeben musste. Wie der Ausbruch des dunklen Lords sein würde, vermochte Draco nicht zu sagen. Es was eigentlich keine Frage, das ihn die Todesser für immer verbannen würden, dass er nicht mehr mit seinem Vater sprechen konnte. Auch das bedrückte Draco sehr. Er wollte doch noch weiterhin mit dem Vater reden können. Er mochte den Vater sehr. Aber er konnte und wollte auf das bißchen Freiheit, Freiheit im Denken und Handeln, nicht verzichten.

Aber was sollte er tun, wenn er diese unselige Schule beendet hatte. Sollte er einfach nach Leningrad gehen und von da aus, versuchen den Todessern zu entkommen. Aber ...

„Draco?" - Dieser Gedanke sollte nicht zu Ende gedacht werden. Die sanfte Stimme eines ihm bekannten und doch unbekannten Mädchens riss ihn aus der Finsternis seiner Gedanken. Der Strom stand still, die Zeit verlor sich. Der Augenblick wurde zur Ewigkeit. Draco erstarrte. Seine Augen sahen jetzt nur noch die Augen des Mädchens, sahen nur noch ein helles Gesicht, alles andere war verflogen.

Und das Mädchen sah ihn an. Die Augen hatten sich getroffen, seine Augen sahen direkt in ihre.

Sein Herz begann zu pochen. Er war unfähig zu reden, unfähig nur ein Wort zu sprechen, unfähig nur einen Schritt zu tun, unfähig nur einen Gedanken zu denken. Er sah nur sie an.

Er sah sie - sah ihr Gesicht. Sah das unbefangene, warme Lächeln ihres Mundes. Das glatte, goldrötliche Haar - über Schultern und Rücken fließend. Sah die Nase, die Hände, die kleinen Ohren. Sah ihre sanften roten Lippen. Sah ihren Schatten an der Wand zittern. Sah ihre großen hellen und leuchtenden, unschuldigen Augen, die unendlich viel Zärtlichkeit, Freiheit, Leben ausdrückten.

Es war der Sonnenaufgang nach einer jahrhundertealten Nacht. Ein heißer Schauer drang in sein Inneres ein. Ein Bild in solch vollkommener Schönheit hatte er noch nicht sehen, noch nicht spüren dürfen. Sehnsucht entflammte in seiner Seele, Widerstand in seinem Geist. Heiß das Herz in seine Brust.

Magisch waren die Blicke, die diesen Moment beherrschten. Die starren kalten Augen Dracos verwandelten sich zu Augen, die die Schafe weiden konnten. Aller Hass, aller Spott verlor sich in seinem Unterbewusst sein. Er empfand Wärme in den Augen gegenüber.

Aber sie drehte sich um und ging.

Draco blieb stehen, angewurzelt. Er sah ihr nach und starrte noch lange verwirrt in die Richtung, in der sie verschwunden war. Nur langsam kam er wieder zu sich.

Was war denn das? Draco, wo bleibt dein Ich? Er zuckte zusammen. Wo war deine Kühnheit? Wo war deine Vernunft? Wo war dein Hass? Das ist eine Weasley! Eine Weasley! Eine kleine, dreckige, nichtsnutzige Weasley!

Nein. Er sank in sich zusammen. Ist sie nicht.

Draco war tief geschockt. Und wenn er eben zweifelnd über die Flure gelaufen war, so war er nun verloren und unwissend. Er hatte die unglaubliche Wärme nicht begriffen. Hatte nicht verstanden, was ihn derart gelähmt hatte. Er konnte es nicht verstehen. Doch er wollte verstehen. Er lief Stunden durch die Flure und suchte nach Gründen und Ursachen für seine Reaktion – die Wärme hatte er schon bald wieder vergessen. Immer wieder blieb er stehen. Starrte in die Leere der dunklen Gänge, als suche er die Erkenntnis in der Dunkelheit. Es war kalt.

Es war spät in der Nacht als ihn Prof. Snape und Prof. Flitwick fanden. Er stand wie eine Statue auf der Treppe und bewegte sich nicht - so sehr war er in Gedanken. Snape brachte ihn in den Krankenflügel.

Es ist wohl kaum verwunderlich, dass auch Ginny Weasley – deren Gesicht Malfoy so sehr erstarren liess - durch diese abendliche Zusammenkunft einer gewissen Verstörung und Verwirrung verfallen war. Zwar hatte das Mädchen diese seltsame Wärme nicht vergessen, doch mehr als eine dunkle, ungewisse Ahnung war auch ihr nicht geblieben. Sie wollte diese Augenblicke unbedingt festhalten, um auch später noch darüber nachdenken zu können. Sie sah in einem Tagebuchbericht das einzige Mittel jenen Augenblick der tiefen innigen Stille und Ruhe richtig festzuhalten. Sie wartete bis der Aufenthaltsraumraum ganz leer war, nahm den Füller und kramte ihr neues Tagebuch aus der Schultasche. Sie wollte ansetzen, doch wie sie sich die Worte auch im Kopfe zurecht legte, sie schienen dem Geschehen nie gerecht zu werden. Es schien ihr, als seien sie falsch und würden diesen Momenten nicht im Geringsten gerecht.

Es waren Erfahrungen, die sich tief in ihrem Innern verwurzelt hatten. Ja, sie fühlte die starke Wirkung dieser Augenblicke. Sie war jedoch gänzlich unfähig dies zu bewerten oder in Worte zu fassen. Immer wieder begann sie, doch wie sich die Buchstaben auch auf das Papier legten, sie waren niemals das, was sie suchte. Soviel auch ihre Feder niederschrieb, es waren nicht die Worte, die Ginny gesucht hatte. Es waren eben nur bloße Worte. Sie wurden ihrem Gefühl, jener universellen Erfüllung, nicht gerecht. So viel Ginny auch mit sich rang, nie fand sie die Worte. Schließlich musste sie aufgeben.

Ermattet und erschöpft sowie innerlich unzufrieden ging sie in den Schlafraum und wollte sich einfach in ihr Bett fallen lassen und schlafen. Doch auch der Schlaf wollte ihr heute nicht helfen. Sie hörte die langen, ruhigen Atemzüge, die neben ihr getan wurden. Und obgleich Ginny auch völlig ruhig da lag und ruhig atmete, wollte die nächtliche Ruhe nicht auf sie überspringen. Ihre Seele arbeitete immer noch. Sie schloss die Augen - und sie sah es. Sie sah das Bild von Draco, wie er da stand, gänzlich versteinert. Sie sah es immer wieder, aus allen Blickwinkeln - manchmal klar und deutlich, manchmal schwach und verschwommen. Doch sie sah es die ganze Nacht. Es wollte nicht von ihr gehen. Sie wälzte sich, lag still - öffnete die Augen und schloss die Augen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Immer nur sein Bild gegenwärtig, Draco die Statue. Das Bild des Suchenden, das Bild des Verwirrten, das Bild des Einsamen. Was sollte das alles bedeuten?

Was sagte ihr dieses Bild? Dieses kreidebleiche Gesicht, das plötzlich gar nicht mehr zu ihm passte. Es passte gar nicht in jenes Bild rein, welches Ginny von Draco hatte. Die hellblonden, fast weißen Haare und jene Augen. Der Körper kerzengerade. Sie hatte seine Verwirrung und Erstarrung gespürt. Es war schön gewesen. Einfach nur da zu stehen und ihn anzusehen. Doch es war auch unheimlich. Sie hatte es nicht gewagt, seine Erstarrung zu brechen – war geflohen. Warum?

Sie hatte sich noch ernsthafte Gedanken über Draco gemacht. Sie wusste so gut wie nichts über ihn. Alles was sie wusste, hatte sie aus Gesprächen entnommen. Sie wusste wohl, dass ihr Vater immer Streit mit Dracos Vater hatte. Aber selbst hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken über ihn gemacht. Dieser jahrelange Rückstand sollte in dieser Nacht problemlos aufgeholt werden.

Sie fragte sich immer wieder, was dieser Augenblick mit ihm für einen Sinn, für eine Bedeutung hatte. Was machte ihn so besonders? Sie konnte sich einfach nicht erklären, was sie dazu brachte, ihn für besonders zu halten. Er war besonders – das fühlte sie tief in ihrem Innern, es bestand keine Frage - doch warum?

Hatte ein Zauber, vielleicht ein böser Zauber, sie ergriffen? Hatte er sie benutzen wollen? Hatte er die Absicht sie auszunutzen? Ihre Gefühle und Gedanken zu verwirren? Sie musste über sich selbst lächeln. Sie hatte zwar keine Beweise dafür, dass dem nicht so war, doch spürte sie tief in ihrem Innern, das auch Draco dies nicht geplant hatte – und niemand sonst in dieser Burg. Sie tat den Gedanken schnelle ab. Das Gefühl sagte ihr deutlich, dass es etwas anderes war. Nur was, das konnte sie beim besten Willen nicht entschlüsseln.

So schlief die Arme, indes nicht minder verwirrt und erschüttert als Draco, die ganze Nacht nicht. Sie dachte nach. Die Gedanken überschlugen sich - und sie kam doch nie an den Punkt, dass sie auch nur einen Zipfel ihres eigenen Gefühlshorizonts verstehen konnte. Sie sah immer nur sein Bild. Fühlte. Weinte. Lachte. Doch die Erkenntnis blieb aus. Sie war in jenem Zustand, den Muggel wohl als magisch bezeichnen würden. Sie verstand weder sich, noch Draco noch die Geschehnisse. Erst im Morgengrauen schlief sie endlich ermattet ein.