Der Tag brach unbarmherzig herein. Draco hatte kaum geschlafen, als ihn die schrecklich grelle Stimme von Mme Pomfrey aus dem Halbschlaf riss. Sie war auf ihrem Kontrollgang und checkte erst mal alles durch. Sie konnte nichts finden - er sah vollkommen gesund aus.

„Wie geht es uns denn? Fehlt dir irgendetwas?"

Draco fühlte sich grausig. Wie betäubt. Er war immer noch nicht ganz wach. Aber er wusste auch nicht woran es lag. Er musste kurz überlegen. Warum war er hier? Er erinnerte sich dunkel – gestern Abend, der Gang, Ginny. Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. Er war kein Schmerz, der ihm ein so schlechtes Gefühl gab, es war eigentlich etwas Komisches, Unbeschreibliches, Unbestimmbares. „Nee ist schon alles OK!"

„Dacht ich's mir. Steh auf und mach, dass du zum Frühstück kommst. Allez Monsieur!"

Sie ging in ihr Zimmer. Draco beeilte sich. Er mochte den Krankenflügel nicht.

Er wusch sich und machte sich auf zum Slytherin Tower, wo er eine neue Schuluniform und seine Schulsachen holte. Dort traf er auf Scrabbe und Goyle. Er hatte sie nicht treffen wollen, aber nun war es zu spät.

„Wo warst du gestern, Malfoy?" fragte Goyle. Draco überlegte, sollte er die beiden einfach ignorieren? Sie waren ihm schon zum Ende des letzten Jahres ziemlich auf die Nerven gegangen. Er konnte nichts tun, ohne dass sie ihm folgten. Er konnte nichts tun, nicht mal einem Mädchen konnte er sich in Ruhe nähern. Sechs Jahre hatten die beiden nichts anderes getan als ihm hinterher zu laufen. Er konnte das jetzt nicht mehr ertragen.

„Was haltet ihr beide eigentlich davon, wenn ihr mal langsam beginnt auf euch selbst aufzupassen. Ihr seid ja jetzt groß!" sagte er mit gespielt ernstem Ton. Scrabbe und Goyle sahen ihn mit verständnislosen Gesichtern an. Sie machten keine Anstalten, ihn in Ruhe zu lassen. „Seid ihr irgendwie schwerhörig? Euer Dienst ist beeendet. Sucht euch jemand anderes, der Euch 'rumkommandiert. Ich brauche keine Leibwächter mehr. Geht!"

Kopfschüttelnd gingen die beiden. Sie taten so, als hätten sie verstanden, doch die Wahrheit hatten sie nichts verstanden.

Draco sah ihnen noch eine Weile nach und ging dann in den Schlafsaal, um sich die Schuluniform anzuziehen.

Er hatte immer noch eine ziemlich seltsame Empfindung, wenn er an die Geschichte von gestern dachte. Er konnte sich das alles nicht erklären. Wie war es dazu gekommen? War er wirklich krank? Nein, so fühlte sich das Ganze nicht an. Er war gesund. Und trotzdem?

Er machte sich auf den Weg zum Frühstück.

Draco betrat die große Halle und atmete sogleich auf. Nahezu niemand war schon so früh aufgestanden. Er nahm sich seinen Stundenplan, machte sich seinen Grünen Tee und zwei Scheiben Toast zurecht. Dann begann er den Stundenplan zu studieren. Er enthielt keine Besonderheiten. Draco lehnte sich zurück und trank einen weiteren Schluck Tee. Nun hatte es schon fast begonnen, das neue Schuljahr.

Als er mit dem Frühstück fertig war, machte er sich auf den Weg zu Snape. Doch sein Büro war leer. Er hinterließ eine Nachricht und ging in den Gemeinschaftsraum. Nach zehn Minuten machte er sich auf, ins Gewächshaus zu kommen. Das Schuljahr begann mit Pflanzenkunde.

Doch den ganzen Tag konnte Draco keinen vernünftigen Gedanken fassen. Mehrmals erwischte er sich, wie er fast im Unterricht eingeschlafen wäre – geistig anwesend war er nie. Er musste über alles Mögliche nachdenken.

Irgendwie war es, als sei er, nachdem er gestern Ginny in die Augen gesehen hatte, mit seinen Gedanken nicht mehr ganz bei sich. Er schwebte in der Vergangenheit. Vergessene Bilder seiner Kindheit kamen in ihm hoch, Bilder aus freudigen Zeiten, Bilder aus traurigen Zeiten. Alles flog wahllos in seinem Gehirn umher. Geschichten, Spiele und Feste. Alles lange bevor er Hogwarts erreicht hatte.

Dann war da das letzte Fest vor dem Abschied. Sonne in dem großen Garten seines Elternhauses. Viele Menschen sind zu Besuch. Bekannte und Unbekannte. Ein Lachen und Schreien klingt aus allen Ecken – sie spielen. Doch er kann nicht mitspielen, ist nicht in Stimmung. Er hat Angst, Angst davor ganz allein zu sein. Fern von seinen Eltern, in eine unbekannte Umgebung. Er will nicht weg. Er wollte nicht weg.

Er hat schon lange gelernt, seine Tränen zu unterdrücken, aber jetzt ist er fast am Ende seiner Kräfte angelangt.

An diesem Tag hatte er Scrabbe und Goyle zum ersten Mal gesehen. Sie hatten damals schon die selbe tollpatschige Unterwürfigkeit, die ihn heute dazu bewogen hatte, sie sozusagen zu entlassen. Aber damals waren die beiden in gewisser Weise seine Rettung gewesen. Er fühlte sich ein wenig sicherer, dadurch dass er zumindest zwei Gleichaltrige kannte, die sein Schicksal teilten. Nur durch sie hatte er, als er am Gleis 9 ¾ stand, seinen Abschiedsschmerz durch seine Arroganz überspielen können. So war er nach Hogwarts gekommen.

Ja – mit Hogwarts hatte eine ganz neue Periode in seinem Leben begonnen. Er hatte begonnen, das richtige Zaubern zu erlernen. Sicher er konnte schon ein bisschen als er hier hinkam, aber kaum etwas Richtiges. Er musste lächeln, als er daran dachte, wie stolz er damals darauf war, dem Besen ohne Probleme das ,hoch' befehlen zu können. Und jetzt? Jetzt stand er dem Ende, dem NEWT-Examen, so nah.

Was war eigentlich das Besondere an seinem Leben in Hogwarts? Er fühlte irgendwie schon seit Beginn, dass er sich hier auf eine ganz eigene Weise verhielt – einen ganz eigenen Lebensstil. Was war aber die Ursache davon? Diese Frage hatte er sich schon oft gestellt, jedoch nie eine Antwort gefunden. Er hatte die Zeit hier – abgesehen vom Unterricht - wohl hauptsächlich damit verbracht, seine „Feinde" zu bekämpfen. Doch, es war nie ein richtiger Kampf gewesen. Es waren mehr oder weniger Streiche - alles in allem Albernheiten. Aber warum? Warum waren sie seine Feinde geworden?

Harry Potter - sein glühendes Feindbild. Sinnbild für genau den Charakter, den er nie haben wollte. Ja er konnte Potter nicht leiden. Er versuchte immer wieder ihm zu schaden – oder eher ihn betroffen zu machen. Er war bisher immer gescheitert. Sicher, er hatte so manchen Lacher auf seiner Seite gehabt, aber sonst?

Er hasste Potter wirklich tief. Aber warum eigentlich? Warum mochte er manche Menschen, warum hasste er andere? Draco suchte in seinen Erinnerungen. Was war die Wurzel seines Hasses gegen Potter? Immer wieder hatte der Vater ihm erzählt, was ihn von Harry Potter und den Muggelliebhabern unterscheide – zu unterscheiden habe. Vater. Aber war es der Grund? Nein, wohl eher nicht. Der Grund lag tiefer. Es war eher aus Enttäuschung geboren. Damals, als er Potter das erste Mal getroffen hatte, wusste er über den dunklen Lord, die Todesser und 'den Jugen der überlebte' nicht sehr viel. Er wollte jedoch an der Seite des berühmtesten Schülers des Jahrgangs stehen können, wollte sein engster Berater und Freund werden. Zwar hatte sein Vater ihm damals den Umgang mit Potter ausdrücklich verboten, doch über solche Verbote musste sich ein Erstklässler hinwegsetzen. Er hätte es für einen üblichen Bubenstreich gehalten, eben doch mit Potter befreundet zu sein.

Aber er war damals bitter enttäuscht worden. Potter hatte ihn abblitzen lassen. Vor allen. Das hatte ihn tödlich gekränkt – und aus der Kränkung war der Hass geworden.

Dennoch kam ihm heute diese Kränkung, als Wurzel für den eigenen Hass, doch ein wenig lächerlich vor. Klar, es gab viele Differenzen, aber waren diese Grund genug? Der Vater gab ihm wohl Recht. Der Vater war auch Todesser, hasste Potter aus Solidarität zum dunklen Lord, aus bloßer Gefolgsschaft. Und er? Nein er konnte niemand hassen, nur weil der dunkle Lord ihn hasste. Er hasste Potter, daran konnte er nichts ändern. Trotzdem, es war einen Gedanken wert warum ...

Es war schließlich Abend geworden. Draco saß auf seinem Bett und sah in die Dämmerung hinaus. Die anderen saßen noch im Aufenthaltsraum. Er hatte heute keine Lust gehabt. Er saß noch eine ganze Weile da und dachte einfach nur über sich und seine Vergangenheit nach. Als der erste den Schlafraum betrat, legte Draco sich hin und schlief sofort ein. Er hatte an Schlaf einiges nachzuholen.

Als Ginny am anderen Morgen aufwachte, schien die Sonne schon bedrohlich hell in den Schlafsaal. Alle anderen waren bereits gegangen. Sie sah auf die Uhr - 26 Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Das Frühstück musste wohl flachfallen. Sie rannte ins Badezimmer und duschte sich schnell, putzte sich die Zähne und zog sich an. Was gestern geschehen war, ging in der Eile fast unter. Auch kämmen konnte sie sich nur flüchtig. Dann rannte sie in die große Halle, denn sie musste noch ihren Stundenplan ansehen. Sie guckte auf den Plan: Sie hatte jetzt Verwandlung. Oh Gott, das konnte sie an einem solchen Morgen echt nicht gebrauchen. Sie rannte los und schaffte es so gerade, den Verwandlungsraum von Prof. McGonagall zu betreten. Diese nickte Ginny nur stumm zu, als ob sie sagen wollte, ,hast ja noch mal Glück gehabt'. Sie setzte sich, atmete kurz durch, konzentrierte sich auf den Unterricht.

Zunächst besprach McGonagall den Stoff des sechsten Schuljahres. Danach machte sie deutlich, dass die Endjahresprüfungen bereits für den NEWT relevant wären. So informierte sie die Schüler und Schülerinnen darüber, wie die Prüfungen verlaufen würden und welche Bedingungen und Richtlinien beachtet werden müssten. Es war ein bedrücktes Schweigen in der Klasse. Alle wussten, dass der Spaß jetzt endgültig vorbei war.

Nun begann McGonagall mit dem Unterricht. Es ging um die Verwandlung von toten Gegenständen in Prokaryonten – also in einzellige Lebewesen ohne echten Zellkern. Nach den Einführungen von Prof. McGonagall waren alle besonders moutiviert, ein guter Abschluss war viel wert. Auch Ginny bemühte sich sehr. Und seltsamer Weise schien sie ein Talent für diese Art der Verwandlung zu haben. Sie erkannte schneller als sonst die Linien und Zaubersprüche, die nötig waren. Sie konnte sofort den Unterschied zwischen den Eukaryonten und Prokaryonten einordnen, während andere aus ihrer Klasse schwere Probleme damit hatten. Im Praxisteil schaffte Ginny es problemlos ein Blatt Papier in eine Zellkolonie von E.coli zu verwandeln. Auch Prof. McGonagall zeigte sich stark beeindruckt – so schnell hatte das noch kein Schüler geschafft. Es war eine der schwersten Lektionen Totes in Lebendes zu verwandeln, auch wenn die Prokaryonten nur der Anfang waren. Nach dem Unterricht rief sie Ginny zu sich.

"Ginny? Was war heute los mit dir? Hast du einen neuen Höhenflug?"

"Ich hab keine Ahnung. Heute klappte das einfach so."

"Du musst mir nichts vormachen. Ich habe gesehen und gemerkt, dass du wohl in den Ferien viel getan hast. Dafür brauchst du dich nicht schämen - vor allem nicht vor mir. Ich wollte dir nur sagen, dass ich das gut finde, und dass du auf dem richtigen Weg bist. Und jetzt lauf zum nächsten Unterricht."

"OK - Danke"

Ginny rannte los. Sie wusste wirklich nicht wie ihr geschehen war. So einfach war Verwandlung noch nie gewesen. Es lief alles so einfach von der Hand, einfach so. Überhaupt schien sie auf alles heute einen ganz anderen Blick zu haben. Sie war nie eine gute Schülerin gewesen. Sie hatte immer viel arbeiten müssen, um schließlich im oberen Mittelfeld mithalten zu können. Aber sie hatte auch immer viel Zeit für sich -

?

Case Steppenwolf; Ls3#2

?

Sie war nach langem Kampf mit sich selbst zu dem Punkt gekommen, an dem sie niemanden mehr brauchte. Sie wurde weitgehend mit allem fertig, was der Schulalltag und das sonstige Leben so mit sich brachten. Sie war gefroren. Fest gefroren. Sie wusste sehr genau, dass es gefährlich war, so isoliert zu leben. Mitten unter Menschen zu sein und doch isoliert. Sie war sich schon seit langem bewusst, dass das nicht sein durfte. Sie wollte auftauen.

Sie versuchte immer wieder aus der Isolation auszubrechen. Immer wieder hatte sie sich in irgendwelche Beziehungen gestützt. Aber das hatte nie geholfen. Sie war immer isoliert geblieben. Ihre Freunde hatten Ginny nie verstehen können, nie begreifen können. Sie konnte, sie musste mit der Isolation leben. Natürlich sprach sie mit den anderen, aber sie hatte keinen Draht zu ihnen gefunden. Den anderen Mädchen, die so um sie lebten, war es gar nicht bewusst, wie allein Ginny war. Sie erkannten ihre Isolation nie. Ginny war es auch lieber so. Sie hatte eine immer gegenwärtige Angst ausgelacht zu werden - wegen jedem Problem. Das war eine Angewohnheit die als einziges Mädchen unter so vielen Brüdern, zwangsläufig entstanden war. Genau diese Angst war es, die Ginny so übervorsichtig gegenüber neuen Kontakten machte. Und das war überhaupt nicht gut.

Sie war einsam, soviel stand fest. Sie machte sich viele Gedanken. Sie suchte immer wieder Lösungen für ihre Lage, doch sie fand keine. So lange sie auch nachdachte, ihr fiel keine ein. Klar, sie suchte einen Freund, einen richtigen Freund. Sie hatte früher geglaubt, Harry zu lieben. Doch es war keine richtige Liebe gewesen. Sie hatte es in ihrem Tagebuch einmal 'Liebe auf Distanz' genannt. Es war etwas vollkommen abstraktes, was sie oft stark beschäftigte. Sie liebte ihn mehr oder weniger 4 Jahre lang, obwohl sie wusste, das sie nie mit ihm zusammenkommen würde. Später hatte sie tatsächlich Beziehungen geführt, aber das waren bloß Fluchtversuche, die zum Scheitern verurteilt waren.

Manchmal war diese Illusion schön - jemanden zu lieben. Dieses Lieben überkam sie immer mal in Phasen - sie machte sich hauptsächlich am Äußeren fest. Aber schon lange hatte Ginny begriffen, dass es sich hier nicht um mehr handelte, als um eine bloße Wunschvorstellung. Aber diese Wunschvorstellung war teilweise sehr stark. Teilweise war sie so stark, dass sie von Harry oder den anderen geträumt hatte. Diese Träume hatten sie immer sehr bewegt. Aber im Grunde war die Liebe bloß ein Produkt von Ginnys Isolation. Reines Wunschdenken.

Ginny fühlte auch heute deutlich die Isolation. Doch sie hatte einen Lichtblick erfahren. Sie klammerte ihre Hoffnung an die Augenblicke. Sie wusste nicht warum - für sie ergab das alles keinen Sinn. Aber dennoch schöpfte sie eine seltsame Hoffnung daraus.