Liebe Ginny,

Ich glaube, dass auch du jene Augenblicke, an denen wir uns so unvorbereitet und unverhofft in die Augen sahen, als seltsam und unerklärlich empfunden hast. Ich jedenfalls, habe ich es so empfunden. Darum würde ich gerne auch mit dir darüber zu reden. Ich halte es dabei für sehr wichtig, dass wir die Baierre überwinden und versuchen ohne Vorurteile gegenüber dem anderen zu reden.

Ich weiß eigentlich kaum, wie ich dir beschreiben soll, was ich empfunden habe. Dennoch will ich die Möglichkeit schaffen, unbeschwert zu reden. Vielleicht hilft es mir mich selbst zu verstehen – vielleicht hilft es dir ebenso.

Ich denke ein ausreichend ruhiger Ort (und damit ein ausreichend ungestörter Ort) dürfte die Muggelbibliothek sein. Wäre es dir Recht, wenn wir uns am Donnerstag in der Mittagspause treffen - direkt nach Unterrichtsschluss. Nimm nichts als ein freies Gewissen mit. Lass uns einfach miteinander reden.

Ich hoffe du verstehst meine Absichten. Bitte signalisiere mir, ob du kommst.

Vielen Dank

Draco

Ginny saß am Frühstückstisch, als der Brief mit der gewöhnlichen Post gekommen war. Sie hatte sich etwas gewundert, da sie keine Post erwartet hatte. Als sie den Absender gelesen hatte, war ihr Herz fast stehen geblieben. Wenn das jemand gesehen hätte. Sie hatte den Brief wortlos weggesteck und hatte schweigend weitergegessen. Erst abends nach dem Unterricht hatte sie sich nun getraut den Brief wieder herauszuholen und zu lesen. Sie saß nun in einer ganz abgelegenen, kaum beleuchteten Ecke des Gemeinschaftsraum und versuchte erst einmal zu verdauen, was in dem Breif geschrieben war. Wollte Draco sich wirklich mit ihr treffen? Ein Slytherin? Das galt hier im Gemeinschaftsraum fast als Todsünde. Und sie hatte Draco immer für so sehr abgehoben und arrogant gehalten.

Sie las den Brief wieder und wieder, als ob sie prüfen wollte, ob sie sich nicht vielleicht doch verlesen hatte. Er hatte sich auch nicht erklären können, was diese Augenblicke waren. Konnte er sie vielleicht verstehen?

Es schien Ginny sehr sonderbar, dass ausgerechnet ein Slytherin die Möglichkeit haben sollte, sie zu verstehen. Wo alle Gryffindors und sogar ihre Familie versagte. Ja, er konnte sie ein wenig verstehen, zweifelsohne. Das machte der Brief deutlich. Vielleicht konnte er ihr tatsächlich helfen, sich selbst zu verstehen. Vielleicht helfen die selbstgebaute Mauer der Isolation zu überwinden.

Es war ein seltsamer Hoffnungsschimmer, der da in ihr aufgeflammt war. Sie hatte das Gefühl eine echte Chance zu haben. Sie wollte der Isolation entfliehen, wollte die steinerne Glaskugel um sie herum zersplittern. Sie fühlte sich gefangen, wie die Tänzerin einer Spieluhr, die immer seltener gespielt wurde, die immer die gleiche Bewegung tun musste, die nie wirklich frei sein konnte. Sie war bereit, sehr viel liegen zu lassen, viel über Bord zu werfen - sie wollte nur endlich nicht mehr so schrecklich allein sein. Ja, obwohl sie diesen Zustand hatte erdulden können, obwohl sie gelernt hatte diesen Zustand zu erdulden, wurde es immer schwerer ihn zu ertragen. Er zehrte immer stärker an ihren Kräften. Sie klammerte sich krampfhaft an jede Möglichkeit auszubrechen, nutzte jede Sekunde in der ihre Kuppel nicht achtete. Und dieses Mal, dieses Mal musste es einfach gelingen - komme was wolle. Sie spürte, dass doch irgendwo eine echte Chance verborgen lag, die sie aus der Ecke reißen musste.

Slytherin oder nicht - was war hier noch wichtig. In der bedrückendsten Situation hat man halt keine Chance, seine Freunde oder deren Herkunft zu wählen. Die die da sind, sind da. Ideologien sind unwichtig. Es gab kein gut, kein böse für jemanden wie sie. Es gab nur sie - ihr Leben. Es ging um die seelische Rettung eines Lebens. Es ging um sie, um sonst nichts.

Und überhaupt, was dachte sie da. Draco war auch nicht mehr als ein Hogwartsschüler. Er war auch nicht böse. Er war halt ein Slytherin, kein Wealsley – aber er war kein schlechter Mensch. Er konnte ihr aufrecht in die Augen sehen, konnte sie anlächeln. Was wollte sie mehr als jemand, mit dem sie aufrecht reden konnte. Und genau das hatte er doch in seinem Brief geschrieben. Was wollte sie mehr?

Ja, sie würde sich mit ihm treffen. Was war schon dabei? Sie tat nichts was gegen die Schulregeln war. Es verstaß vielleicht gegen einen der unzähligen ungeschriebenen Ehrenkodexe der Familie oder der Gryffindors, aber das war ungeschrieben. Sie setzte sich hin und überlegte, wie sie den Brief schreiben sollte. Doch als sie beginnen wollte, fiel ihr auf, dass es schon Zeit war, zum Essen zu gehen. Also beschloss sie, den Brief nach dem Essen zu schreiben. Sie machte sich auf den Weg in Richtung große Halle. Auf der Treppe traf sie Hermine und Harry. Sie ging neben den beiden her und hörte der Unterhaltung zu, es waren der üblichen Gesprächsstoff. Als sie die große Halle betraten sah Ginny sich unwillkürlich um - sah den Slytherintisch. Draco sah sie fragend an. Ginny lächelte und nickte. Sie sah, dass Draco sie verstanden hatte. Das Treffen war gesetzt.