Das ZEHNTE Kapitel! Wer hätte das gedacht? Und so laaaaang.....
Nun passierte mir das, was passieren musste: Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte.

Ich meine, mal ernsthaft: bis jetzt war es eher ein (mehr oder minder) fröhliches Beisammensein auf Thoms Zimmer gewesen. Jetzt, in einer Kneipe, glich das ganze eher einer Verabredung. Und selbst das tapferste, selbstbewussteste Mädchen der ganzen Welt würde in dieser Situation wohl einen leichten Drang dazu empfinden, schüchtern die Klappe zu halten. Besonders, wenn ihr Date roch, als sollte man sich sofort ein benutztes T- Shirt von dem Mann stibitzen und nachts als Schmusedecke benutzen.

Ich ließ meine Augen durch den Raum wandern, um einen Platz zum verschämten Hinstarren zu finden. Gerade in dem Augenblick, als mir ein angetrunkener Mitvierziger mit einem glasigen Auge zuzwinkerte, fiel mir auf einmal auf, dass ich einen schmerzhaften Druck am Ansatz meines rechten Oberschenkels verspürte. Mir fiel plötzlich wieder ein, dass ich ja die ganze Zeit den schweren Wälzer von Zauberbuch mit mir herumgetragen hatte und dass dessen Gewicht mir jetzt im Sitzen offenbar irgendeine Arterie zusammenquetschte, die eigentlich mein Bein mit Sauerstoff versorgen sollte.

Mit ziemlicher Kraftanstrengung schaffte ich es, mein Bein zu befreien, indem ich mich bemühte, das dicke Buch so hoch zu hieven, dass sich seine Unterseite auf Höhe der Tischplatte befand. Als ich es los ließ, schwankte es zunächst, um dann mit einem befriedigend lauten i Rumms /i auf das Holz des Tisches aufzuschlagen. Kerzenständer, Deckchen, komische kleine Kunstwerke und Thom vollführten vor Schreck einen kleinen Luftsprung. Dieses Erlebnis war höchst befriedigend.

"Leiser ging's wohl nicht!", bemerkte Thom leicht grummelig und hob zu Unterstreichung ironisch eine seine feinen Augenbrauen, die so gut zu seinen wunderbar violetten.... ich kniff mich unauffällig in den Oberschenkel. Zurück zum Thema!

Ich ignorierte Thoms Kommentar, schlug das Buch auf Seite zwei auf, wo sich der hilfreiche 'Stellt euch einander vor' - Tipp stand und überflog die folgenden Zeilen.

"Hier stehen 'ne Menge Fragen, die wir einander beantworten sollen.", begann ich abrupt. "Das sagt uns nun nicht wirklich viel, oder? Wie wär's, wenn wir das erst einmal überspringen und zum eigentlichen Text weitergehen?"

"Informationen sind immer gut.", stimmte er mir zu. Ha, sagt ja der Richtige! Wer hat denn hier rumgezaubert ohne 'nen Schimmer, was er eigentlich tat?, flüsterte es in meinem Kopf. Ich tat so, als hätte ich diese blöde Stimme gar nicht gehört, und blätterte in dem Buch, bis gleich hinter Tipp Nummer 103 eine fett unterstrichene Überschrift stand:

B-a-s-i-s-i-n-f-o-r-m-a-t-i-o-n-e-n

"Der Gerufene hat in dieser Welt eine Aufgabe zu erfüllen, die der Rufer allein nicht lösen könnte. Der Gerufene wird so lange zwischen dieser und seiner Welt hin- und herpendeln, bis diese Aufgabe gelöst ist. Durch das Pendeln soll sicher gestellt werden, dass der Gerufene auch seinen persönlichen Pflichten nachkommen kann.

Ist besagte Aufgabe schließlich erfüllt, so trennen sich die Wege der Rufers und Gerufenen wieder, so es der Wille der Götter ist. Nähere Angaben zu Aufgabe, Zauber und sonstigen Wirkungen des Spruches sind später noch näher erläutert. Es ist jedoch wichtig, dass zuvor genannte Tipps beachtet werden. So können viele eventuelle Unannehmlichkeiten vermieden werden.

Aha...", kommentierte ich den Text, nachdem ich ihn laut vorgelesen hatte.

Ein Blick zu Thom und seinem ziemlich leeren Blick zeigte mir, dass er offenbar heftig am Nachdenken war.

Was gibt es da so intensiv nachzudenken?, schoss es mir durch den Kopf. Im Prinzip steht hier, dass es auf jeden Fall ein Happy End geben wird, und dass ich nicht in dieser Welt hier stecken bleibe. Dass alles irgendwann wieder in geordneten Bahnen verlaufen wird. - Und auf dem Weg zum Happy End kann es verdammt ungemütlich werden!, murmelte diese nervige Stimme in meinem Kopf. Am besten schaut ihr euch doch noch mal Tipp zwei bis 103 an!

Ich zuckte resignierend mit den Schultern und blätterte dann gehorsam zu Tipp zwei zurück:

"Bevor ihr euch begegnet seid, wie habt ihr euch einander vorgestellt, was waren eure Erwartungen?

Thom? Wie hast du...", begann ich, aber er unterbrach mich ziemlich rüde.

"Ich hab's gehört. Nur weil ich nachdenke, heißt das nicht, dass ich mein Gehör abschalte!"

"Ach ja? Ich dachte immer, nur Frauen können sich aufmehrere Sachen auf einmal konzentrieren. Männer sind doch viel zu beschränkt, um so was hinzukriegen." Gut, gut, mein Feminismus brach durch. Entschuldigung! Thom war mal wieder besser darin, bei Thema zu bleiben.

"Wie auch immer... Naja, ich hab dich mir zunächst eigentlich vorgestellt, so als... hässliches starkes Monster mit Superkräften. So eine Art böser Dämon. Darum habe ich ja auch die Wand der Macht um dich herum aufgebaut, damit du keinen Schaden anrichten konntest."

Ach, das Ding, dem ich diese heftigen Kopfschmerzen beim ersten mal verdankte!

Mein rechter Zeigefinger wanderte zu Tipp Nr. 3: "Hmhm, Frage drei..."

Da unterbrach er mich schon wieder. "Wie hast du dir vorgestellt, dass ich bin? Hast du dir's überhaupt vorgestellt?"

Ich wurde prompt rot und begann zu Stottern. "Naja, ich - ich dachte nicht, dass deine - deine Haare ganz so... rot sind, und, ähm, dass deine Augen blauer sind. Und ich, ich dachte, du wärst sarkastischer und viel selbstsicherer und dass du wüsstest, was du tust. Und ich habe gedacht, du wärst kleiner und außerdem hast du keinen Bart. Naja, und ich hab dich mir eigentlich fast nie ohne deine Schw... ich meine, Alan vorgestellt."

An seinem Stirnrunzeln merkte ich sofort, dass ich mal wieder zu viel gesagt hatte.

"Aber woher wusstest..."

"Ich werde dir nicht sagen, warum ich mir dich überhaupt vorgestellt hab, warum ich dich überhaupt kannte und ich werde ganz bestimmt nicht die Zukunft deiner ganzen verdammten Welt verändern!"

Ich hätte mir die Zunge abbeißen können!

"Aber warum.."

"Das hatten wir schon, Thom. Nein!"

"Nein?"

"Nein." Ich schüttelte den Kopf, worauf sich bald ein drückendes Schweigen ausbreitete. Nur das Geräusch meines Daumennagels tönte noch über die Hintergrundgeräusche der übrigen trinkenden Gäste der Kneipe: Ratsch.... Ratsch..... Ratsch....

Es war mir wirklich unangenehm, soviel herausgeplaudert zu haben. Besonders, als diese blöde Stimme in meinem Kopf anfing, mir irgendwelche Namen zu geben, die überhaupt nicht nett waren. Und Thom starrte mich die ganze Zeit an, als warte er nur darauf, dass ich doch noch mit der ganzen Geschichte herausrückte und ihm alles über Tamora Pierce, wilde Magie und Gott-weiß-was-noch erzählte. Und ich biss mir auf die Zunge und versuchte, irgendein plausibles, neutrales Gesprächsthema zu finden, was mir mit den vielen Schimpfwörtern im Kopf und dem violetten Starren nicht gerade leicht fiel.

Es braucht sich also keiner zu wundern, dass ich plötzlich meine Sprache verloren zu haben schien und statt dessen versuchte, möglichst vertieft in den Anblick einer dieser seltsam geformten Figurinen auf unserem Tisch zu erscheinen.

Sie verfügte über die etwas verzerrte Form einer werfenden Hündin, deren Bauch gewölbt ist und die sich gerade vor Schmerzen krümmt. Trotzdem strahlte das Meisterwerk eine durchweg positive Stimmung aus, was daran liegen mochte, dass seine Farben von Moment zu Moment wechselten und außerdem ein ständiges Geräusch von dieser Figur ausging, das nach Kindergelächter im Freibad klang.

Vor der Figur befand sich ein Schild, auf dem in geschwungenen roten Buchstaben etwas geschrieben stand. Als ich die Schrift genauer entschlüsseln wollte, schien sie plötzlich zu flimmern, so dass ich verwirrt blinzelte. Ich schien jedoch einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein, denn als ich das nächste mal hinsah, stand dort in schlichter, krakeliger Schrift: Bitte nicht berühren.

Nicht berühren, nicht berühren... Aber die Figur war viel zu schön, um nicht berührt zu werden!

"Andrea?", fragte Thom plötzlich - wenn auch nicht plötzlich genug, dass ich vor Schreck zusammengezuckt wäre.

Ich streckte die Hand nach der Figur aus, um herauszufinden, ob sie sich wohl genauso weich und warm anfühlte, wie sie aussah: "Hm?"

"Wolltest du mir nicht..."

Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr, denn ich saß plötzlich nicht mehr in der Kneipe oder auch nur in einem ähnlich verrauchten Raum, sondern auf einer weiten Wiese mit Gänseblümchen und kurzgeschorenem Gras. Und mir gegenüber befand sich ein gut getarntes grünes Pferd mit silbernen Zähnen, das nach.. Bier roch. Ale, um genau zu sein, was ich von meinen Ferienerfahrungen in England ziemlich gut am Geruch erkennen konnte.

Das Pferd richtete sich auf, bis es schließlich auf den Hinterbeinen stand und zu einer unhörbaren Musik Wiener Walzer tanzte. Ganz in sich versunken schien es nicht einmal meine Gegenwart bemerkt zu haben, und ich schaute ihm mit schief gelegtem Kopf zu, bis seine Augen auf einmal zu blitzen begannen.

Seltsam, dachte ich. Sie sind violett. Woran erinnert mich das bloß?

Noch seltsamer fand ich es aber, als das Pferd plötzlich zu tanzen aufhörte und verschwand. Einfach so. Ohne sich zu verabschieden. Ich runzelte die Stirn. Hätte jetzt nicht eine sarkastische Stimme etwas kommentieren sollen? Eine Stimme in meinem Kopf? Irgendetwas stimmte hier offenbar nicht und kaum hatte ich diese Feststellung gemacht, fielen mir noch viel mehr falsche Sachen auf. Zum Beispiel, dass Pferde im Allgemeinen nicht tanzen und dass der Himmel makellos blau war. Das war absolut surreal! Ich schloss verwirrt meine Augen.

Das nächste, was ich bemerkte, war, dass der Biergeruch unglaublich zugenommen hatte und dass jemand laut nach mir rief. Außerdem schüttelte sich mein gesamter Oberkörper, ohne dass ich irgendetwas damit zu tun gehabt hätte.

Na klasse!, dachte ich. Eine Reise nach Tortall, der bestriechende Kerl der ganzen Welt, ein tanzendes Pferd und jetzt auch noch Schüttelfrost! Moment, dass heißt, ich hab mir das Ganze nur eingebildet! Ich liege in meinem Bett, mit einer ganz schweren Erkältung, hab schlecht geträumt und jetzt bin ich aufgewacht, weil ich auf's Klo muss. Klarer Fall. Also steh auf und erleichter' deine Blase, Süße!