Ich weiß. Es ist Juli, Mitte Juli sogar schon, und ich hatte es doch versprochen... Es gibt keine wirkliche Entschuldigung oder einen guten Grund dafür, also... Es tut mir aber trotzdem leid. Das elfte Kapitel ist dafür etwas länger als sonst.

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ELF

Wer jetzt erwartet hatte, dass ich daheim wieder aufgewacht bin, und meine Mutter mir irgendeinen schrecklich riechenden Gesundheitstee zusammengebraut hatte, oder dass der Biergeruch von dem Guhl-Shampoo kam, dass ich zum Geburtstag bekommen hatte, der hat sich (wie könnte es anders sein?) geschnitten.

Ich musste noch nicht einmal auf's Klo!

Statt dessen spürte ich eine Hand an meiner Taille, die sich langsam an mir emporarbeitete. Auch wenn ich normalerweise keine Berührungsängste habe, und der abgetastete Bereich weder an Brust noch Po direkt angrenzte, stieß ich spontan einen recht schrillen Schrei aus. Die fremden Finger bewegten sich unterhalb meines T-Shirts!

Ich griff recht gewalttätig nach den dreisten Händen und stieß sie von mir. Gleichzeitig machte ich einen großen Satz nach hinten. Naja, ich versuchte, einen großen Satz nach hinten zu machen, bis mir aufging, dass man große Sätze nach hinten am besten aus einer stehenden Position heraus starten sollte. Sitzt man hingegen auf einem Stuhl, schafft man (oder frau, ganz beliebig) es lediglich, sich und besagtes Möbelstück aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Wie vielleicht schon einmal erwähnt, bin ich oft recht langsam von Begriff, weshalb mir dieses Faktum erst aufging, als ich mich bereits um 45 Grad nach hinten geneigt hatte. Ich kniff meine Augen reflexartig noch fester zusammen, klammerte mich verzweifelt an den Händen fest, die ich zuvor wegzustoßen versucht hatte, und bereitete mich auf den Aufprall vor.

Er kam nicht. - Ich konnte verdammt dankbar sein, dass Thom so gerne mit seiner Gabe angab, sonst hätte ich den Tag vermutlich nicht ohne tödlichen Genickbruch überlebt. Momentan dachte ich daran aber gar nicht, sondern versuchte nur damit klar zu kommen, dass ich überhaupt noch am Leben war. Schon wieder.

Dann wandte ich mich wieder dem vorherigen Problem mit den wandernden Händen zu. Ich meine, das Problem war mir völlig neu. Zwar hatte es hier und da schon mal etwas aufdringliche Kerle gegeben auf Partys oder sonstewo, aber dass mich tatsächlich jemand befummeln wollte, während ich quasi bewusstlos (oder mit den Gedanken in irgendeiner Pferde-Welt verfangen) war... und noch dazu an der Taille, wo sich ja nun wirklich nichts Interessantes befand...

Ich war verwirrt, hoffte jedoch weiterhin auf das Beste. Voller Hoffnung auf eine Lösung der Verwirrungen öffnete ich langsam die Augen: zuerst das rechte und dann das linke.

Besagtes Öffnen meiner Augen brachte mir aber auch keine sonderlich beruhigenden Eindrücke. Vor mir stand entgegen meiner verzweifelten Hoffnung kein jugendlicher Adonis mit einer Liebeserklärung auf den Lippen, sondern vielmehr ein Mitvierziger mit glänzend roter Nase und glasigem Blick. Es war derselbe Kerl, der mir schon beim Hereinkommen zugezwinkert hatte, und von Nahem gesehen sah er noch viel abstoßender aus als zuvor.

Sein Gesicht ähnelte mit den riesigen Poren Dresden nach dem Weltkrieg, seine Zähne sahen selbst bei geschlossenem Mund schief aus und seine Frisur war bei weitem zu ordentlich, als dass sie echt hätte sein können. Er trug schwarzen Lippenstift und Eyeliner.

Was mir dann aber den Rest gab, und mich zu heftigen Abwehrbewegungen veranlasste, war die folgende Erkenntnis: Der Mann hatte nicht so einen glasigen Blick, weil er zu viel getrunken hatte. Er konnte einfach nur nicht anders. Falls ihr versteht, was ich meine. Und dieses Ding bewegte sich nicht mit dem anderen Auge mit, wie man es in den Filmen immer sieht. Dieses Glasauge starrte starr geradeaus.

Wie gesagt reagierte ich darauf recht physisch, wenn ich das so sagen kann, und schlug eine Weile auf die Hände vor mir ein, bis sie sich schließlich zurückzogen. Ich kann mir vorstellen, dass der Mann inzwischen ziemlich verwirrt sein musste: Ich hatte die Augen geschlossen, aufgerissen, wieder geschlossen, wieder aufgerissen, abwechselnd nach seinen Händen geschlagen und mich an ihnen festgeklammert, und das alles nur, weil er meinen nackten Bauchnabel betastet und ein Glasauge hatte.

„Entschuldigung", schnaufte ich, sobald mir das klar wurde und bemühte mich, wieder zu etwas Würde zu gelangen. Der erste Schritt hierzu schien es, mich erst einmal gerade hinzusetzen und eine ernste Miene zur Schau zu stellen. Es ging nicht. Der Stuhl hing weiterhin im 30°-Winkel in der Luft und egal, wie ich mich auch bemühte, ich kam nicht hinaus (dank der massiven Armlehnen und einem letzten Rest Angst, der Stuhl könne bei allzu hastigen Bewegungen doch noch hintenüber kippen).

Nach etwa fünfzehn-sekündigen Anstrengungen gab ich auf.

„Könnte mir wohl mal jemand..."begann ich, um Hilfe zu bitten. Den hilfsbereiten Händen, die sich mir schon wieder von vorne näherten, warf ich aber nur einen bitterbösen Blick zu.

„Ich meine... wer auch immer es so toll findet, diesen Stuhl hier mit mir drin so in der Luft zu balancieren... könnte derjenige mich wohl wieder senkrecht hinstellen, wenn das ginge?"

Meine Stimme verhallte in der Stille, die, wie mir plötzlich klar wurde, schon seit dem Zeitpunkt bestand, da ich die Augen zum ersten Mal aufgerissen hatte. Dann begann der Stuhl unter mir zu wackeln, bis ich schließlich wieder senkrecht saß. Als das Möbelstück auf seinen Vorderbeinen aufschlug, wäre ich fast dem Mann mit dem glasigen Blick in die Arme gefallen.

„Verdammt! Ging das nicht etwas sanfter?"

„Der Trebond-Lord kann seine Magie nicht sonderlich präzise einsetzen, fürchte ich,"sagte der Mann vor mir mit rauer Stimme und grinste dreckig.

„Außerdem würde es helfen, wenn ich sähe, was ich tue und wenn es in diesem Raum keine magischen Dämpfer gäbe,"hörte ich Thoms arrogante Stimme irgendwo von meiner Rechten her kommen.

Als ich mich nach ihm umsah, bemerkte ich, dass ich ihn trotzdem nicht sehen konnte. Ich war nämlich offenbar der Mittelpunkt eines Kreises, in dem sich alle Säufernasen des Klosters versammelt hatten, nur um mich anzustarren.

„Thom?"fragte ich schüchtern aus dem Mundwinkel und hoffte, dass er mir die Situation irgendwie erklären oder mir zumindest aus ihr heraushelfen würde. Als er nicht sofort reagierte, gab ich ihm einen weiteren Hinweis: „Thom, warum stehen hier alle um mich herum und schauen mich an?"

Es war nicht Thom, sondern der unheimliche Mann mit dem Glasauge, der mir antwortete: „Noch nie hat jemand es jemand so schnell wie Ihr geschafft, sich aus der Illusion der Hündin zu befreien. Meist brauchen die Männer mindestens einen Tag oder mehr, um die Illusion als das zu erkennen, was sie war, und sich von ihrer Faszination loszureißen. Allerdings seid ihr wohl offensichtlich eine..."(Er fügte eine bedeutungsschwangere Pause ein.) „... Dame, und noch dazu offenbar nicht aus diesem Reich..."

„Richtig,"stimmte ich wortkarg zu und ignorierte damit seine subtile Aufforderung, noch mehr über mich preiszugeben. Mal ernsthaft, was erwartete er denn, was sollte ich sagen? Hallo, ich komme aus einer Welt ohne Magie, wo die Frauen Hosen tragen und die Demokratie den Bach runter geht? – Ich zog es vor, zu schweigen.

Nach einer Weile fuhr er fort: „...außerdem ist nach altem Brauch derjenige, der solch einen neuen Hunde-Rekord setzt, dazu berechtigt, für einen Abend über die gesamte Wirtschaft und die Verteilung der Getränke zu bestimmen."

Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf mich. Ich räusperte mich.

„Äh... Freibier für alle?" Der Jubel war ohrenbetäubend.

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Auf einmal hatte ich mehr Freunde als in meinen vorigen achtzehn Lebensjahren zusammengenommen.

Irgendjemand drückte mir einen riesigen Krug Bier in die Hand und verlangte, ich solle den Abend eröffnen.

Tapfer murmelte ich irgendetwas darüber, dass Bier sehr nahrhaft sei, flüssiges Brot sozusagen. Desweiteren sei es im Mittelalter und gewiss auch in Tortall, das ja auch nicht viel weiter entwickelt sei, sehr viel gesünder als Wasser, da es ja schließlich abgekocht werde. Außerdem eine ewige Quelle der Freude für alle Menschen, und viel billiger als Wein. Und außerdem... – Das war so ungefähr der Zeitpunkt, wo sich jemand ein Herz fasste, mich unterbrach und ein zusammenfassendes „Auf das Bier!"brüllte.

Wir alle tranken darauf.

Dann tranken alle auf meine Gesundheit. Ich trank mit. Dann tranken alle auf meine vollbrachte Leistung. Ich trank mit. Dann tranken alle auf meine Zukunft. Ich... Gut, ich denke, es ist hinreichend deutlich geworden, wie es weiterging. Ich war offensichtlich bei allen Anwesenden sehr beliebt.

Irgendwann (spätestens, als irgendjemand auf die Idee kam, man könne doch auf jeden einzelnen meiner Vorfahren einzeln trinken und sich schon bis zur Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter vorgearbeitet hatte) hatte ich dann aber genug von meiner Popularität. Ich bemühte mich, den Trinkern ein neues Thema zu bieten und hetzte sie auf den Mann mit dem glasigen Blick. Anschließend versuchte ich mich davonzustehlen und Thom wiederzufinden, der sich nicht unter der Gruppe von Trunksüchtigen befunden hatte.

Ich fand ihn an der entgegengesetzten Seite des Raumes wieder. Er nippte von Zeit zu Zeit an seinem Bierkrug und starrte ansonsten auf das aufgeschlagene Buch vor ihm, das er offenbar zu Beginn des Besäufnisses von unserem Tisch gerettet hatte.

„Macht's Spaß?"fragte ich beiläufig und stütze mich auf seinen Schulter ab, während ich versuchte, mich neben ihn auf die Holzbank zu quetschen.

„Die Schrift hat sich verändert,"murmelte er vor sich hin. „Vorher konnte ich wenigstens Bruchstücke erkennen, aber jetzt ist es mir völlig unbekannt."

Ich grinste ihn gutmütig an, und winkte mir den nächsten Bierkrug her. „Mach dir keinen Kopf, mein Lieber. Fünfundachtzig Prozent der Deutschen können keinen ordentlichen Imperativ von ‚Werfen' oder ‚Essen' bilden. Lesen und Schreiben liegt da noch in einer ganz anderen Kategorie."

Er zuckte mit den Schultern und schob mir das Buch zu, gerade als auch das Bier kam. Ich las mit gelangweilter Stimme dort weiter, wo wir zuvor abgebrochen hatten.

„Frage Nummer Drei: Was sind eure schlechtesten und was eure besten Eigenschaften?"

„Na, das läuft doch wohl immer auf's Bett hinaus, oder? Oh Mann, da kann ich dir was über meine Sexgeschichten erzählen!"

Nein, das war jetzt nicht Thom gewesen, sondern eine fremde Stimme. Ein betrunkener Mittdreißiger in gräulicher Mönchskutte hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt. Er lächelte eines dieser offenherzigen Lächeln, die einem gleich die Anzahl Promille verraten, die der Mensch schon im Blut herumschwimmen hat.

Das würde eine interessante Nacht werden... Besonders, wo mir gerade irgendein dankbarer Verehrer fünf Krüge mit jeweils unterschiedlichen Biersorten vor die Nase gestellt hatte.

-

Es gab unglaublich viele verschiedene Sorten Bier: zum Großteil Importe von Klostern in der ganzen westlichen Welt. Es gab helles Bier aus einem marenischen Mutterkloster, dunkleres aus irgendeinem Mithroskloster auf den Inseln und fast schwarzes Bier aus Carthak, dessen Rezept angeblich von der Friedhofshexe persönlich stammte. Ich lernte, dass ein Altbier hier nicht Altbier hieß, sondern nach dem Gott der Schmiede benannt war, in dessen Klostern es gebraut wurde.

Ich lernte überhaupt sehr viel über Bier und auch über meine Mittrinker, da wir gemeinsam sämtliche einhundertdrei Fragen in diesem dummen Zauberbuch durchgingen und schließlich sogar weitere erfanden. Es war ziemlich lustig, und ich lachte mich gerade wieder einmal scheckig, als sich mein Bewusstsein von dieser Ebene der Welt verabschiedete und ich schließlich in beduseltem Halbschlaf auf meinem Stuhl hing.

Ich merkte kaum, wie wieder dieses Ziehen im Kopf einsetzte und ich mich auf einmal wieder daheim auf dem Fußboden vor meinem Bett wiederfand. Ich bemerkte nicht einmal bewusst, wie ich nach ein paar Stunden Schlaf duschte, aufstand und mich zur Schule bewegte. Richtig wach wurde ich erst in der ersten Unterrichtsstunde.

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Ich glaube, alle Leute, die meinen Mathelehrer kennen, werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass er eine nervtötende Stimme hat. Ich habe keine genaue Vorstellung davon, was genau das Wort ‚sonor' bedeutet, aber ich habe es immer spontan mit genau dieser Stimme verbunden, die mir fünf Stunden die Woche etwas über funktionale Analysis oder auch Stochastik beizubringen versuchte. Ich hatte es meinem Lehrer allerdings noch nie ins Gesicht gesagt. Bis zu jenem Mittwochmorgen.

„Würde es Ihnen wohl viel ausmachen, Ihre Stimme ein bisschen zu senken?" fragte ich meinen Mathelehrer, während ich verzweifelt meinen Kopf festhielt um sicherzugehen, dass er nicht explodierte.

„Na, was ist denn mit Ihnen los, Andrea?"kam die Antwort, natürlich absichtlich noch lauter als zuvor. „Sie haben doch wohl nicht gestern nacht gefeiert? An einem Dienstag?"

„Leiser! Ihre Stimme ist fürchterlich! Und ich habe nicht wirklich gefeiert, dazu war ich viel zu nervös."Allgemeines Gelächter im Kurs übertönte die verdutzte Reaktion meines Leer- / Lehrkörpers und ich wurde durch einen pieksenden Finger in die Seite zeitweilig von meinem Leiden abgelenkt.

„Das kannst du doch nicht sagen! Du spinnst ja total!"flüsterte mir meine Nachbarin übermäßig betont zu als wäre es die Offenbarung des Jahrhunderts. Für mich war es in meinem angeschlagenen Status allerdings eine Offenbarung, und ich versuchte sogar, meinen Fehler zu korrigieren.

„Entschuldigung. Ihre Stimme ist nicht.. furchtbar, sondern lediglich... unangenehm. Ja. ..."Ich erkannte, dass das auch nicht viel besser war. „Ich meine... wenn man... Kopfschmerzen hat und müde ist und ... so."

Zum Glück für mich kannte mein Mathelehrer sowohl mich als auch meine geistigen Verwirrungen schon seit der Unterstufe und hatte gelernt, mich nicht ernst zu nehmen. Er wollte einfach nur wissen, was mit mir schon wieder passiert war. Ich war noch verstörter als sonst.

„Da war dieser Kerl. Er hat mir ein Bier ausgetan aus... Scanra. Und eins aus... Galla und was halt so für Sorten da waren..."war meine zögerliche Antwort, die gleich strafende Blicke auf mich zog. „Ich wollte nicht so viel trinken", entschuldigte ich mich sofort. „Ich war nervös."

„Scanra, Galla...?", wiederholten unsere Bierexperten. „Nie gehört. Sind die aus Skandinavien?"

Ich nickte nur dümmlich. „Skandinavien. Sicher."

„Und du warst nervös, weil...?"kam die Frage meiner Nachbarin diesmal in einem verschwörerischen Flüstern.

„Weil der eine – andere - Kerl mich nervös gemacht hat. ... Er heißt Thom," fügte ich zusammenhanglos hinzu.

Ich erinnerte mich, wie ich versucht hatte, mir Mut anzutrinken, um all diese persönlichen Fragen ehrlich zu beantworten. Und ich dachte daran, wie er mir ein paar seiner eigenen Peinlichkeiten ins Ohr geflüstert hatte. Und wie er sich nicht gewehrt hatte, als ich mich ihm an den Hals geworfen hatte, um den Avancen des Einäugigen zu entgehen. Und wie er gequietscht hatte, als ich unbedingt herausfinden wollte, ob er Unterwäsche unter seiner Kutte trug. Betrunken stellte er wirklich den liebsten, nettesten besten Freund da, den sich ein Mädchen wünschen konnte. Vielleicht konnte nüchtern noch mehr daraus werden... Ich grinste verträumt, bevor sich mir der Ellbogen meiner Nachbarin in die Rippen rammte.

„Und wie sieht er..."ging es gleich weiter, doch sie kam nicht zum Ende.

Glücklicherweise war das nämlich der Zeitpunkt, zu dem mein Mathelehrer beschloss, es sei an der Zeit, mal wieder ein bisschen Mathe zu machen. Aber vorher tat er etwas, was ihn meiner ewigen Dankbarkeit versicherte: Er organisierte mir ein Aspirin.

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... Soweit die Worte der heutigen Lesung. ... Zufrieden?