Leser? Reviews??
Bitte, bitte, tut mir diesen winzigen Gefallen … Ihr könnt euch kaum
vorstellen, wie wichtig diese Reviews für mich sind …
***
Disclaimer & Co: siehe Prolog
Lyrics Kapitel 3: Sarah McLachlan
– Good Enough
*********
Right Kind Of Wrong
*****
Good
Enough
Fast eine Woche war seit dieser letzten Begegnung vergangen, stellte Jay fest,
während die Sonne rot-gelb langsam über dem Meer unterging. Ein kühler Wind
wehte an der Küste und trug das Kreischen der Möwen bis zum oberen Teil des Strands,
an dem er nun stand und noch einmal zurück sah.
Ein Abend in der Woche gehörte ihm. Jay war sehr dankbar dafür, dass Ram ihm wenigstens das gestattete, auch, wenn er immer noch alle Hände voll zu tun hatte.
Erst seit zwei Tagen durften die Technos – auf Befehl von
oben – offiziell in die Stadt, die Kameraüberwachung war vollständig
installiert und eingerichtet, die Kommunikationssysteme … Noch immer musste Jay
lächeln, als er an Veds kleinen ‚Ausrutscher' dachte.
***
Über das, was geschehen war, immer noch hin und her gerissen, kam Jay schließlich wieder im Hauptquartier an. Seine Gedanken hatten ihn seit dem Moment, in dem er einen Fuß aus dem Hotel wieder auf die Straße gesetzt hatte, nicht mehr losgelassen und er wusste nicht, ob ihm das gefiel oder nicht. Doch als er auf die beiden Wachen am Haupteingang zuging, rief ihm eine leise, drängende Stimme innerlich nur noch zu, es zu vergessen. Und das tat er auch.
Jay wurde kurz und respektvoll von den beiden Technos begrüßt, aber als er zur Erwiderung leicht nickte, sah er noch einmal genauer hin. Beide konnten den Anflug eines Grinsens nicht wirklich verbergen und senkten leicht den Kopf. Jay brauchte einen Moment, um herauszufinden, was sie so amüsierte, aber seine Frage wurde beantwortet, sobald er durch die Tür gegangen war.
Bei dem Bild, das sich ihm im Eingangsbereich des Hauptquartiers bot, stürzten schlagartig seine Erinnerungen wieder auf ihn ein und er versuchte verzweifelt, sich ein Grinsen zu verkneifen.
In der Mitte des riesigen Raumes saß Ved auf einem Stuhl, wie Jay Ebony erzählt hatte mit Schnuller, Teddybär und nur mit Windeln bekleidet. Sein Blick, als er auf seinen großen Bruder fiel, war mörderisch. Jay unterdrückte den Impuls, einen Schritt zurück zu weichen, ignorierte die Blicke der anderen Technos, die ebenfalls anwesend waren und das Bruderpaar mit amüsiertem Interesse beobachtete und ging zu Ved.
„Ich hasse dich", war das erste, das ihm entgegengebracht wurde, als er bei ihm ankam. Ungerührt hob Jay eine Augenbraue. „Ich freu mich auch, dich zu sehen. Wie war bisher dein Tag, Ved?" Er beobachtete, wie sich die Augen des jüngeren gefährlich verengten und sich seine Halsmuskeln leicht bewegten. Wahrscheinlich hätte er ihn in diesem Moment am liebsten angesprungen, aber er hielt sich um seinetwillen zurück. Ved war zwar impulsiv, aber er wusste, dass ihm das nur noch mehr Ärger einbringen würde – vielleicht mehr, als er sich im Moment leisten konnte.
Trotzig sah Ved weg und versuchte dabei, nicht nur dem Blick seines Bruders, sondern auch denen der anderen Technos auszuweichen, die sich zwar nicht trauten, stehen zu bleiben und sich offen zu amüsieren, aber nur zu gerne öfters durch die Eingangshalle kamen, um einen Blick auf Baby Ved zu erhaschen.
„Komm schon, Ved", sagte Jay jetzt und ging vor dem Stuhl, auf dem Ved saß, leicht in die Hocke. „Ich musste irgendwas tun, oder wäre es dir lieber gewesen, Ram hätte sich persönlich etwas für dich ausgedacht? Glaub mir, da wärst du schlechter bei weggekommen."
„Das hängt von der Sicht des Betrachters ab", murmelte Ved finster.
„Nein, Ved, du wärst bei Ram sogar sehr sicher schlechter weggekommen", erwiderte Jay bestimmt. „Sieh es doch mal so: Jetzt ist Ram nicht mal mehr wütend auf dich, weil ihn die Sache viel zu sehr amüsiert. Dein Stolz ist jetzt ein bisschen angeknackst, ich weiß, aber das geht vorbei. Die Leute hier haben immer noch eine Menge Respekt vor dir", fügte er leiser hinzu, und obwohl Ved sich immer noch weiterte, ihn anzusehen, widersprach er diesmal nicht mehr.
Jay seufzte leicht und richtete sich wieder auf. „Geh und zieh dich wieder an."
Obwohl Veds Gesicht betont ausdruckslos geblieben war, war Jay sich sicher, Erleichterung in seinen Augen zu erkennen, genauso wie ein Schimmer davon über sein Gesicht huschen zu sehen, bevor er es verbannen konnte. Als Ved aufstand und an ihm vorbeiging, hörte er ihn murmeln: „Ich hasse dich trotzdem."
Jay sah seinem Bruder nicht nach, aber ein schwaches Lächeln fand seine Lippen.
Lektion gelernt.
***
Ohne, dass er es wirklich gemerkt hatte, hatten seine Beine Jay zurück in die Stadt getragen. Als er jetzt aufblickte, fand er sich in der Straße vor dem Casino wieder, an dessen Eingang ein relativ kräftiger Junge seinen Platz als Türsteher eingenommen hatte.
Was soll's, dachte Jay nach kurzem Zögern und ging darauf zu. Es war schließlich sein freier Abend, oder etwa nicht?
Der Türsteher ließ ihn zwar passieren, aber nur höchst misstrauisch. Jay war – mehr oder weniger – zivil gekleidet. Das T und die Rangabzeichen zierten noch immer Stirn und Wangen, aber seine Uniform hatte er gegen eine schwarze, engere Hose und ein ebenso schwarzes, (er wusste selbst nicht, woher das kam, aber irgendwie wurde er diese Farbe nicht mehr los) ärmelloses und ziemlich eng anliegendes Shirt eingetauscht. Sein Headset hatte er nicht an, ebenso wenig wie seinen Zapper. Das hatte aber den Grund, dass nach Jays kleinem ‚Unfall' Ram weniger begeistert davon gewesen war, dass zwei seiner wertvollen Geräte benutzungsunfähig gemacht worden waren. Ein neues Headset hatte er bekommen, aber Ram weigerte sich immer noch, ihm einen neuen Zapper auszuhändigen, ob es in der Stadt nun gefährlich war oder nicht.
Das Casino war voller Menschen. Als Jay es betrat, wurde er zwar von einigen kurz angesehen, aber er hatte das Gefühl, dass ein allgemeines Ausatmen durch die Menge ging, als sie ihn in zivil sahen. Er kümmerte sich nicht weiter um die anderen, sondern sah sich kurz um.
Es herrschte dämmriges Licht und das Gemurmel allgemeiner Unterhaltungen war die Haupt-Geräuschkulisse. Die meisten saßen in kleinen Gruppen an Tischen zusammen, andere liefen mehr oder weniger ziellos herum, auf der Suche nach Freunden oder etwas Neuem zu trinken. Einem davon folgten Jays Augen kurz zur Bar, an der weitere Leute saßen. Dort angekommen, erstarrte sein Blick.
Sie war hier.
Hey, your glass is empty
It's a hell of a long way home
Why don't you let me take you?
It's no good to go alone
Um ihn herum gingen Leute, ohne, dass er von ihnen Notiz nahm. Jay wurde von
der Außenwelt nicht berührt, als er sie dort sitzen sah, tief in Gedanken, ihm
halb den Rücken zugedreht, ihre Finger umfassten leicht das leere Glas, das vor
ihr stand und drehten es langsam hin und her. Auch sie konnte in dem Moment von
nichts erreicht werden, ihre Augen sahen nicht das Glas, auf das sie gerichtet
waren, sondern Dinge, von denen nur sie wusste. In einer anderen Zeit, an einem
anderen Ort. Was sie sah, was sich hinter ihren geheimnisvollen grünen Augen
abspielte … Jay verspürte plötzlich den tiefen Wunsch, es zu erfahren.
Ein Junge, fast einen Kopf kleiner als der General der Technos, rempelte ihn im Vorbeigehen aus Versehen an und die Geräuschkulisse um ihn herum stürzte plötzlich wieder auf Jay ein. Er riss seinen Blick los und nahm schnell die Entschuldigung an, die der Junge hastig hervorstieß. Als er seinen Blick wieder dem Mädchen zuwand, das Anführerin einer ganzen Stadt war, hatte sie aufgesehen. Er konnte sie zwar nicht hören, aber er konnte erraten, dass sie sich gerade noch etwas zu trinken bestellt hatte.
Ohne weiter nachzudenken, bahnte Jay sich seinen Weg durch die wenigen Stadtkids, die ihm bereitwillig Platz machten. Ebony sah nicht auf, als er sich auf den freien Barhocker neben sie setzte. Entweder, sie war wirklich tief in Gedanken oder, es interessierte sie nicht, wer sich da neben ihr niedergelassen hatte.
Der Junge hinter der Theke fragte Jay beiläufig, was er trinken wollte und ohne viel darüber nachzudenken, bestellte er sich einen der Cocktails. Als hätte sie seine Stimme aus ihren Gedanken gerissen wie der Junge Jay kurz davor, schoss ihr Kopf zu ihm herum und für einen Moment sah sie ihn nur an.
Jay erwiderte ihren Blick mit leichtem Lächeln. „Hey."
Ein paar Sekunden lang sah Ebony ihn nur an, die Augenbrauen leicht zusammengezogen, als würde sie ihren Augen nicht wirklich trauen. „Was machst du denn hier?", sprudelte es plötzlich aus ihr heraus.
Unwillkürlich musste Jay lachen. „Nette Begrüßung. Vielleicht sollten wir das noch mal versuchen." Er lächelte ihr zu und räusperte sich leicht. „Hallo, mein Name ist James, du kannst mich aber Jay nennen, weil man mich anders eigentlich gar nicht kennt. Aber das dürftest du schon wissen. Freut mich wirklich, dich mal wieder zu sehen." Während er sprach, streckte Jay eine Hand aus und hielt sie ihr auffordernd hin.
Ohne es zu wollen, lachte Ebony leicht, sah dann mit leicht hochgezogenen Augenbrauen von seiner ausgestreckten Hand zu seinen Augen, die leicht funkelten, hob ihre Hand dann ebenfalls und nahm seine. Ein leichter Druck ihrer Hand, ein warmer Blick und ein leichtes Lächeln waren alles, was er als Antwort erhielt, aber es war genug.
„Also, was machst du hier?"
Wieder konnte sich Jay das Lachen nicht ganz verkneifen, resignierend ließ er den Kopf hängen und fuhr sich mit der Hand, die sich kurz davor von ihrer gelöst hatte, durch seine Haare. Als er wieder aufsah, fing er ihren Blick auf. Ihre Augen waren leicht geweitet, als sie jetzt zum ersten Mal bemerkte, dass seine Arme nicht wie üblich von den schwarzen Ärmeln der Uniform bedeckt waren. Leicht amüsiert sah er, wie ihr Blick, schnell und fast unauffällig, nach unten fiel und ihre Augen beim Anblick des lederartigen Stoffes seiner Hose noch ein winziges Stück größer wurden.
„Ebony?"
Als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, zuckte Ebony leicht zusammen, als er sie ansprach. Sofort hatte sie ihren Blick abgewandt und Jay glaubte, einen Hauch Röte auf ihren Wangen erkennen zu können.
Obwohl ihre Reaktion ihn doch ein wenig überrascht hatte – wenn auch alles andere als negativ – bemerkte er schnell ihre Verlegenheit. „Um deine Frage zu beantworten: Ich habe heute Abend frei. Sieht so aus, als hätte ich mich hier her verirrt …"
Ebony sah ihn nicht an, sondern fixierte ihren Blick auf ihren Drink, der gerade, zusammen mit Jays, gebracht wurde. „Ihr habt so was wie einen freien Tag?"
Obwohl Sarkasmus in ihrer Stimme lag, konnte Jay nicht anders, als bei ihrem Kommentar leise zu seufzen. Es erstaunte ihn selbst manchmal, dass Ram ihnen diese Freiheiten noch erlaubte. Manchmal hatte er das Gefühl, sein Anführer hatte sich, seit er ihn kannte, verändert.
Erst, als er Ebonys Blick auf sich spürte und wieder aufsah, wurde ihm klar, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Langsam schüttelte er den Kopf und trank einen Schluck. Ihre Stimme überraschte ihn.
„Erzähl weiter", sagte sie leise.
Für einen Moment war Jay misstrauisch. Sie war die Anführerin der Stadt, über die die Technos mehr oder weniger hergefallen waren, es war nur verständlich, Informationen herausfinden zu wollen, die sie gegen die Eindringlinge verwenden konnten. Doch irgendetwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Keine Hintergedanken.
Und bevor er überhaupt richtig wusste, was er tat, hörte Jay sich selbst erzählen. Von den Stimmungsschwankungen und der Unberechenbarkeit seines Anführers, was geschehen war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, von Rams Unzufriedenheit und dass das der Grund war, wieso Jay für kurze Zeit ohne Zapper auskommen musste …
Und alles, was sie tat, war zuhören. Stumm aber aufmerksam. Jay hatte sich lange schon gegenüber jemand anderem nicht mehr so geöffnet. Er hatte gar nicht mehr die Möglichkeit dazu. Aber bei ihr …
I never would have opened up
But you seemed so real to me
After all the bullshit I've heard
It's refreshing not to see
„Ich weiß überhaupt nicht, wieso ich das mache …"
Jay schüttelte schwach den Kopf, ein leicht ungläubiges Lächeln auf den Lippen, als er die angenehme Stille zwischen den beiden durchbrach.
Die Bar hatte sich inzwischen geleert, nur noch vereinzelt saßen die Stadtkids zusammen. Es war spät geworden. Jay wusste genau, dass er am nächsten Morgen wieder früh raus musste, aber es war ihm egal. Er spürte eine unterbewusste, aber doch beruhigende Wärme in sich, nachdem er sich seine Gedanken von der Seele geredet hatte. Ihre Gläser waren beide fast leer, doch keiner der beiden trank den Rest. Wie Ebony es früher an diesem Abend bereits getan hatte, drehte Jay sein Glas zwischen seinen Fingern hin und her.
„Wieso du was machst?"
Das erste Mal seitdem er angefangen hatte, sagte sie wieder etwas. Es ließ Jay aufsehen und ihr in die Augen schauen. „Dir das alles zu erzählen. Ich kenne dich eigentlich überhaupt nicht. Wir sind sozusagen verfeindet, du könntest so ziemlich alles, was ich dir erzähle, gegen uns verwenden …"
„Woher weißt du, dass ich es nicht tue?", unterbrach sie ihn, ihr Ton herausfordernd aber nicht hart. Alles, was Jay tun konnte, war, hilflos mit den Schultern zu zucken.
„Ich mach mir das selbst eigentlich nie so leicht. Mich anderen gegenüber zu öffnen. Ich hab damit mehr schlechte als gute Erfahrungen gemacht …" Für einen Moment war er noch still, dann fügte er hinzu: „Ich hab keine Ahnung, wieso ich es bei dir doch tue."
Es sah kurz so aus, als wolle Ebony etwas sagen, ihr Mund öffnete sich leicht, dann zögerte sie aber. „Vielleicht liegt es daran, dass ich von dir nicht erwarte, dich vor mir zu verstellen", sagte sie schließlich ruhig.
Jay schwieg.
I don't have to pretend
She doesn't expect it from me
Lange war es still zwischen Stadtanführerin und Techno-General.
Ebony hob ihr Glas und trank den Rest aus, was Jay dazu veranlasste, sich endlich wieder umzusehen. Es war wirklich spät geworden. „Komm, ich bring dich nach Hause", meinte er fast selbstverständlich, ohne viel darüber nachzudenken. Er war schon fast aufgestanden, als er Ebonys leicht unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte. „Ebony?"
Ebony zögerte. „Vielleicht möchte ich noch gar nicht nach Hause …" Ohne darauf einzugehen, hob sie ihre Hand, um dem Jungen hinter dem Tresen zu zeigen, dass sie noch etwas wollte. Doch bevor er sie bemerkt hatte, spürte sie eine Hand auf ihrer, warm, sanft aber bestimmt. Ebony zögerte immer noch, ihn anzusehen.
„Was hast du?"
Ihr erster Impuls war, abzuwinken. Zu sagen, es wäre nichts. Doch in seiner Stimme lag so viel Ehrlichkeit, so viel Wärme …
Sie sah ihn nicht an, ihr Blick war starr nach vorne gerichtet. Wieder sah sie Dinge, die nicht vor ihren Augen existierten. „Ich habe mein Vertrauen verloren."
Don't tell me I
Haven't been good to you
Don't tell me I
Have never been there for you
Don't tell me why
Nothing is good enough
Einen Moment lang fragte sich Jay, ob er das, was sie gesagt hatte,
richtig verstanden hatte. Er setzte sich wieder, sein Vorhaben zu gehen für den
Augenblick völlig vergessen. „Wie meinst du das?"
Ebony zögerte. Eigentlich hatte sie jetzt schon zu viel gesagt. Was genau sie fühlte, was sie bewegte, ging außer ihr niemanden etwas an. Ganz besonders niemanden wie ihn …
„Es geht um Männer." Ebony erschrak leicht, als sie sich selbst auf seine Frage antworten hörte. Sie wollte es nicht, aber das Verlangen, es auszusprechen, war so groß, dass sie die Warnungen ihres Verstandes in den Wind schoss. Er hatte sich schließlich auch ihr gegenüber geöffnet. Und es tat so gut, es sich von der Seele zu reden.
Hätte Ebony gewusst, wie sehr ihre Gefühle im Augenblick denen ähnelten, die Jay vor wenigen Minuten noch gehabt hatte, hätte sie gelacht. Aber stattdessen schüttelte sie leicht den Kopf und stützte ihre Stirn auf die Hand, nach unten sehend. „Ich habe schon eine Menge durchgemacht … Enttäuschungen einstecken müssen. Anscheinend haben sie ganz schön ihre Spuren hinterlassen. Jedes Mal, wenn irgendjemand versucht, zu mir durchzudringen, mich irgendwie dazu zu bringen, herauszukommen, mache ich einen Rückzieher." Sie hob ein wenig hilflos die Schultern. „Das ist wie mit einem kleinen Kind, das sich einmal an Süßigkeiten vergiftet hat. Es wird danach immer davor zurückschrecken."
Ebony lachte kurz und ein wenig bitter bei diesem Vergleich. Vielleicht wollte sie sich damit auch nur rausreden. „Es kann natürlich auch sein, dass ich vielleicht einfach keinen verdient habe."
Bestürzt sah Jay sie an. So etwas hatte er von ihr nicht erwartet, diesen bitteren, fast schon hilflosen Ton in ihrer Stimme … Sie sah immer so stark, so sicher aus. Fast unerreichbar. Ihre plötzlich resignierenden Worte kamen für ihn völlig überraschend. Leise, immer noch verwirrt, fragte er: „Wie kommst du denn auf so was?"
Ebony wich seinem Blick aus. Er bekam keine Antwort.
Hey, little girl, would you like some
candy?
Your mama said it's ok
The door is open, come on outside
No, I can't come out today
Eine kleine Geste, eine flüchtige Berührung … Ebony wandte ein wenig den
Kopf und sah seine Hand, die leicht, fast vorsichtig, auf ihrem Arm lag. Zu
ihrer eigenen Überraschung entzog sie sich ihm nicht, wie sie es wahrscheinlich
bei anderen getan hätte. Es fühlte sich nicht an, als würde er sie zu
irgendetwas drängen, noch nicht einmal aufmuntern wollen. Er war einfach da.
Endlich sah Ebony ihn an. Und in diesen schokoladenbraunen Augen war doch etwas. Vielleicht eine Aufforderung. Nur zu was, war sie sich nicht ganz sicher.
Vielleicht war es ein Fehler. Ebony wandte wieder ihren Blick ab und schüttelte schwach den Kopf. Ihr Arm wich leicht zurück, sodass er sich seiner Hand entzog.
Sie konnte einfach nicht.
Jay schluckte leicht. Besorgnis trat in seine Augen, als er sah, wie verschlossen sie immer noch war. Er konnte nicht sagen warum, aber er hatte die Befürchtung, dass Ebony innerlich viel mehr versteckte oder einfach vergessen wollte, als ihr gut tat. Ohne es selbst zu wissen.
Was ihn noch viel mehr verfolgte, war die Frage, was geschehen sein musste. Wieso sie ihr Vertrauen so sehr verloren hatte.
Doch noch bevor er irgendetwas sagen konnte, sah sie ihm wieder in die Augen. Und er spürte, dass die Frage überflüssig geworden war. Jay konnte alles, was er dachte, was er fühlte, normalerweise gut verbergen. Dazu hatte nicht nur sein Leben bei den Technos beigetragen. Ob es daran lag, dass es ihn in dem Augenblick einfach tief verwirrte und bewegte, oder, dass sie sich sehr gut mit Menschen auskannte, wusste er nicht.
Aber Jay wusste, dass sie die Frage in seinen Augen gesehen hatte. Und diesmal sah sie nicht weg.
It's not the wind that cracked your
shoulder
And threw you to the ground
Who's there that makes you so afraid?
You're shaken to the bone
Ebony sah ihn nicht an, als sie ihn einen Teil ihrer Lebensgeschichte zu
erzählen begann. Einen Teil, den sie so gut es ging immer in sich vergraben
hatte. Ihre Stimme war emotionslos, hatte nur einen leicht bitteren Unterton,
den sie nicht unterdrücken konnte, jedes Mal, wenn sie sich alles in Erinnerung
rief.
„Der erste Mann, der mich wirklich enttäuscht hat, war mein Vater. Ich war noch ziemlich jung, als er meine Mutter, meine Schwestern und mich im Stich gelassen hat. Es war nicht einfach für meine Mutter, uns alle durchzubringen, besonders ohne sein Geld. Ich habe bis zum Virus nichts mehr von ihm gehört." Ebony hielt einen Moment inne und dachte an die Zeit, in der sie sich ständig gewünscht hatte, er würde zurückkommen. „Er war einfach verschwunden." Ebony schluckte leicht. „Ich habe ihm nie verziehen."
Eine kurze Pause trat ein. Sie brauchte sie einfach. Irgendwie fühlte das Mädchen sich, als würde sie dadurch, dass sie jetzt all das erzählte, einen Teil davon hinter sich lassen. Ein für alle Mal. Vielleicht war das auch der Gedanke, der sie dazu ermutigte, weiterzureden.
„Als wir dann umgezogen sind, war da dieser Junge … Ich glaube, ich war von Anfang an hinter ihm her, er hat sich nur leider mehr für jemand anderes interessiert." Sie zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern, als sie zurück dachte. „Ich habe ihn mir mit ein paar Intrigen zwar angeln können, aber nicht lange. Er wurde … immer distanzierter. Es ging alles so schnell damals. Der Virus war ausgebrochen, überall sind Leute gestorben. Und als es wirklich ernster wurde, hat einer der Jungs diese Vision gehabt, die sich zu der Zeit nur logisch anhörte. Ich hatte nichts zu verlieren und habe mich ihm angeschlossen."
Ebony schloss die Augen, als Erinnerungen sie durchfluteten. Schmerzhafte Erinnerungen. Sie öffnete ihre Augen nicht, als sie weitersprach. „Nach einer ganze Menge Tests hat er mich zur Königin seines Stammes gemacht. Ich hatte zwar Macht, aber alles, was ich dort erlebt habe, war in irgendeiner Art und Weise mit Leiden verbunden. Immer. Er ist kurz danach durch einen Unfall ums Leben gekommen und der Stamm ging an mich über, aber auch nicht für lange Zeit. Ich bin verraten worden – nicht nur von einem – und ich musste sehen, dass ich so schnell wie möglich verschwand. Auch danach war es nicht sehr viel besser. Jeder hielt mich für eine verräterische Hexe … das tun sie heute noch." Wieder schüttelte Ebony den Kopf. Sie hatte ihre Augen inzwischen wieder geöffnet und sah aus den Augenwinkeln kurz zu ihm hinüber. „Nein, ich glaube nicht, dass ich mit Männern so gute Erfahrungen gemacht habe. Es ist zu gefährlich, mehr Menschen als sich selbst zu vertrauen."
And I don't understand
You deserve so much more than this
Jay war still. Er sah sie mit ernsten Augen an und in seinem Blick sah
sie noch etwas, das sie nicht ganz deuten konnte. Ihre Worte waren schärfer als
sie es beabsichtigt hatte. „Spar dir dein Mitleid, das brauche ich bestimmt
nicht."
„Das ist gut", erwiderte Jay leise, aufrichtig. „Weil du es auch nicht hast."
Ein wenig überrascht wandte Ebony sich ihm zu. Was um alles in der Welt wollte er nun wieder damit sagen?
„Mitleid ist für Hilflose", fuhr Jay fort und sah sie an. „Du bist nicht hilflos, Ebony, nicht, wenn du dich dazu entscheidest, es nicht zu sein." Plötzlich schlich sich Unsicherheit in seinen Blick. „Nur … ich verstehe das einfach nicht. Warum … ?"
Er brauchte seine Frage nicht zu beenden. Sie hatte sie sich selbst viel zu oft gestellt.
„Warum ich immer wieder verlassen wurde … Vielleicht weiß ich, warum", erwiderte Ebony, als sie an alles, was sie ihm erzählt hatte, dachte. „Erst das mit Bray – ich weiß, dass ich diesen Brief nicht hätte schreiben sollen, um ihn von Trudy wegzubekommen, ich hätte mich von Zoot nie so unterwerfen lassen sollen, genauso Spike … und Ambers Grab auf Eagle Mountain zu schaufeln, weil ich dachte, dass Bray –"
Ebonys Worte wurden von seiner Hand sehr plötzlich unterbrochen, die sich fest auf ihren Arm legte. Sie verstand es nicht und sah ihm in die Augen. Über seine Lippen kam nur ein einziges Wort.
„Nicht."
So don't tell me why
He's never been good to you
Don't tell me why
He's never been there for you
Don't you know that "why"
Is simply not good enough?
Er schüttelte sanft den Kopf. „Sag es mir nicht. Es ist nicht wichtig,
was passiert ist, wer dich verletzt hat und welche Rolle du darin spielst."
Jay sah ihr in die Katzenaugen, die ihn verwirrt anblickten. Leise wiederholte er: „Es spielt keine Rolle …"
Als er sich bewusst wurde, dass er sie noch immer hielt, zog er seine Hand zögernd zurück, sah aber nicht weg. „Du bist verletzt worden, ich weiß, aber ist es das wirklich wert? Sich selbst so zu verlieren – mach dich nicht dafür verantwortlich, was passiert ist. Und beschuldige die anderen auch nicht. Ich weiß, wie sich das jetzt anhört, aber so ist das Leben. So ist es, zu lieben. Man gibt ein Teil von sich auf, man wird verletzt und es gibt nichts, gar nicht, was man dagegen tun kann. Du aber hast die Wahl: Nach den Regeln zu spielen oder von ihnen verschlungen zu werden. Aber dabei kann dir niemand helfen. Was du tust, musst du selbst entscheiden."
Tief bewegt sah Ebony in seine dunklen Augen. Wieder wurde sein Blick zögernder, er sah kurz weg und fügte dann leise hinzu: „Aber was du auch tust – denk nur nicht, du wärst es nicht wert."
Warum er das gesagt hatte, wusste Jay selbst nicht ganz genau. Nur eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, die sich sehr nach seiner eigenen anhörte, flüsterte: Weil es so ist. Du verdienst so viel mehr als das …
Ein warmer Schauer lief Ebony bei seinen Worten den Rücken hinunter. So etwas hatte noch nie zuvor jemand zu ihr gesagt und es löste ein wunderschönes Gefühl in ihrer Magengegend aus, das sie festhalten und nie wieder missen wollte.
Ebony sah ihn noch an, immer noch ein wenig sprachlos und erstaunt und wartete. So lange, bis er endlich seine Augen wieder zu ihr hob. Ihre Blicke trafen sich und lange bewegte sich keiner von beiden.
Erst war sie von seinen Augen wieder nur völlig in einen Bann gezogen, den sie nicht erklären konnte, aber dann begann sie zu forschen. Woher das kam, was er gesagt hatte, ob er es ernst gemeint hatte. Und als sie fand, was sie suchte, wurde das warme Gefühl plötzlich noch stärker.
In seinen Augen, ob er es beabsichtigt hatte oder nicht, lag ein stummes Versprechen. Ebony wusste, dass sie ihm trauen konnte. Aber nicht nur das, es war mehr.
Es war das Versprechen, dass er es zumindest versuchen würde.
Oh, so just let me try
And I will be good to you
Ebony wusste nicht, warum. Aber für den Moment spielte es keine Rolle.
Ein Lächeln erreichte erst ihre Lippen, dann ihre Augen. Sie leuchteten plötzlich auf, für einen kurzen Augenblick.
Danke.
Als Jay sie lächeln sah, vergaß er, warum er vor so kurzer Zeit noch so bedrückt gewesen war. Warum er getan hatte, was er getan hatte. Warum er hier war. Warum er war. Und ihr Lächeln fand seine Lippen, erhellte sein Gesicht, spiegelte sich in seinen Augen.
„Jay?"
„Hm?"
„Bringst du mich nach Hause?"
Just let me try
And I will be there for you
Die kühle Nachtluft schlug ihnen erfrischend entgegen, als Jay und Ebony
das Casino verließen. Ein Windzug strich über Jays bloße Arme und ließ ihn
leicht erzittern. Beide zogen ihre Jacken über und machten sich auf den Weg zum
Hotel.
Es war eine stille Nacht und als Ebony während dem Laufen aufsah, funkelten Sterne auf sie herab. Sie lächelte. Für einen Augenblick dachte sie darüber nach, Jay darauf aufmerksam zu machen, aber als sie zu ihm blickte, sah sie, dass auch er die Augen zu den Sternen gehoben hatte. Es war so friedlich …
Jedes Wort würde das, was sie in diesem Moment teilten, zerstören, also waren sie beide still und genossen die Ruhe, die Nacht, die Sterne, die Gegenwart des anderen. Es war fast ein ganzer Meter, der sie trennte, aber beide spürten die Anwesenheit des anderen so deutlich, als würden sich ihre Arme leicht berühren.
Jay hatte kaum bemerkt, dass sie bereits am Hotel waren, als sie beide stehen blieben. Man konnte den Eingang um die Ecke nicht sehen, aber wahrscheinlich wollte Ebony vermeiden, von ihren Wachen gesehen zu werden. Es war ihm nur Recht so.
Langsam wandten sie sich einander zu und sie sah zu ihm auf. „Danke, Jay. Für alles heute Abend."
Er zuckte leicht mit den Schultern und lächelte. „Ich danke dir. Ich bin mir selbst über einiges klar geworden."
Ebony erwiderte sein Lächeln, biss sich leicht auf die Unterlippe und sah nach unten. Was würde sie jetzt für seine Gedanken geben … Fragen tat sie aber nicht. Stattdessen teilten beide noch einmal einen Blick, der mehr als nur Worte sagte.
Lange. Lange standen sie sich gegenüber und sahen sich nur in die Augen. Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hatte Jay das Gefühl, das noch irgendetwas zwischen ihnen stand, irgendetwas, das gesagt … oder getan? … werden musste. Er wusste nur nicht, was …
„Gute Nacht, Jay." Ihre Stimme drang sehr leise an seine Ohren und er fragte sich kurz, ob sie das überhaupt gesagt hatte, oder ob er es nur gedacht hatte. Jedenfalls drehte sie sich in diesem Moment um und ging langsam den Bürgersteig weiter entlang. Jay sah ihr kurz nach und nur ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Das ist es. Genau deshalb hast du so viel mehr verdient als nur das.
Er blickte noch einmal kurz zum Himmel hinauf, drehte sich dann ebenfalls um und ging, ihr entgegengesetzt, den Bürgersteig entlang. Auf dem Weg zurück.
Hinter ihm drehte Ebony sich plötzlich um, als hätte sie etwas vergessen. Sie hatte den Mund bereits geöffnet, wie um etwas sagen zu wollen, als sie seine sich entfernende Gestalt sah, die die Dunkelheit viel zu schnell verschluckte. Wieder biss sie sich leicht auf die Lippe und wandte sich wieder um.
Als Jay sich am Ende der Straße noch einmal umdrehte, um sie noch einmal zu sehen, war sie verschwunden.
I'll show you why
You're so much more than good enough
