Delilah - April 04, 2004
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~ Kapitel Zwei ~
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Ich kann es schon sehen. Jenes Tor in die Freiheit, jenen verborgenen Weg in die Sicherheit. Nur noch ein kleines Stück und sie können mir nichts mehr anhaben. Nur noch ein kleines Stück...
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"Mein Gott, wer hat dich so zugerichtet, Junge?" sanfte Worte, gesprochen mit der Seele einer wahren Mutter. Wie ich dich vermisst habe. Wie ich mich danach gesehnt habe.
Ich versuche die Augen zu öffnen. Mich zu bewegen. Irgendetwas um sie zu beruhigen. Aber ich kann nicht. Viel zu schwach, zu erschöpft bin ich geworden seit sie mich das letzte mal sah.
"Keine Angst, wir werden dich schon wieder zusammen flicken. Keine Angst..." sanfte Hände berühren mein Gesicht und ich kann es nicht verhindern vor Schmerz zu zucken. Aber der Schmerz kommt nicht. Statt dessen fühle ich nur eine Kälte, die einem Schmetterling gleich, voller Sanftheit das Leid von meiner Stirn stiehlt.
Seltsam wie sich selbst die schwärzeste Seele im Augenblick der Furcht nach der Geborgenheit der mütterlichen Röcke sehnt. Seltsam, dass gerade ich Schutz in ihren Armen suche. Denn das ist es was ich nicht verhindern kann zu tun. Ich klammere mich an sie wie ein verlorenes Kind und will um nichts in der Welt davon überzeugt werden diesen Hafen der sanften Töne und heilenden Berührungen zu verlassen.
Langsam aber sicher drohe ich dem unwiderstehlichen Ruf Morpheus' zu erliegen. Doch ich klammere mich an mein Bewusstsein wie ich mich an sie klammere. In Träumen lauern Jäger, jene schrecklichen Monster deren furchteinflößende Macht nur jenen gänzlich bewusst wird, die den Gnaden ihres ewigen Lichtes ausgesetzt waren.
Das Licht ist mein tödlicher Feind. Ich bin bereit um mein Leben zu kämpfen wenn es sein muss. Ich bin bereit alles aufzugeben um die zu beschützen denen das Licht schaden kann.
Aber ich werde aufgehalten. Der Traum verjagt. Die Angst zerstreut. Eine Hand berührt mein Haar voller Zärtlichkeit. Leise Worte betten mich auf ihrem Leid und geleiten meine Seele an einen sicheren Ort.
Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr ich dich liebe...
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Ich erwache umhüllt von Dunkelheit, der unbeschreiblich tröstende Geruch von Schokolade in der Luft. Ich bin in Sicherheit.
"Was ist passiert?" höre ich sie fragen. Ich will es ihr sagen. Mein Gott, ich will es ihr sagen. Aber meine Kehle schnürt sich mir schon bei der bloßen Erinnerung daran zu. Möge die Nacht mir bestehen.
"Spike?" So sanft. So voller Verständnis. Womit habe ich das nur verdient? Ich kann nicht antworten. Ich kann nicht einmal meinen Kopf bewegen um ihr in die Augen zu schauen. Und doch muss ich es tun. Ich muss sie sehen, muss ihr Herz beruhigen. Wie sonst sollte es ihr möglich sein das selbe für mich zu tun?
"Jerome." höre ich mich flüstern, kaum zu hören, doch in der Stille des Raumes genauso gut zu verstehen wie ein Schrei. "Meine Mutter nannte mich Jerome." Und damit beginnt es.
Ich will es verhindern, will ihr den Schmerz ersparen den sie unweigerlich erleiden wird sobald sie die Worte hört. Ich will mich verstecken hinter der kalten Mauer, die aufzubauen mich über ein Jahrhundert gekostet hat. Und doch kann ich ihr nicht einmal eine Bitte abschlagen, die auszusprechen ihr der Mut fehlt.
Ich erzähle ihr alles. Wie ich versucht habe ihre Tochter zu töten. Schon wieder. Manchmal denke ich, dass der Kriegerin Herz dieses Katz und Maus Spiel genauso genießt wie ich.
Wie ich versagt habe dem Mädchen auch nur ein Haar zu krümmen. Nicht, dass ich die Kleine wirklich verletzen wollte.
Wie meine Füße mich im Augenblick meiner bis dahin größten Demütigung vor ihre Tür brachten, wohlwissend, dass mich jene stolze und doch so sanfte Seele bis ans Ende ihrer Tage hassen würde, sollte ich eines Tages das Spiel beenden.
Ich erzähle ihr alles. Einer Beichte gleich, schone ich sie nicht. Nein, sie muss alles hören. Warum, ich weiß es nicht.
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Mein Gott...
Welcher Dämon hat die Welt geritten? Wie kann ein Mensch nur zu so etwas fähig sein? Wie kann es möglich sein?
Kalter Hass durchfließt meine Adern. Nur zu gern würde ich diese sogenannten Ärzte in die Finger bekommen. Nur zu gern würde ich ihnen zeigen was es heißt solche Qualen zu durchleben. Nur einmal...
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Jerome.
Sein Name ist Jerome.
Erst jetzt verstehe ich warum er mir so bekannt vorkam. Warum ich mich immer verbunden fühlte mit diesem Mann. Endlich begreife ich was es war das mich daran gehindert hat ihn zu hassen.
Ich kenne ihn. Spike Jerome. Wie auch immer er sich nennen mag. Ich kenne ihn.
Noch immer habe ich die Briefe. Sorgfältig aufbewahrt, versteckt in einer blutroten Schachtel, die einst ein Geburtstagsgeschenk war. Würde ich den Mut finden auf den Dachboden zu gehen, ich würde in diesem Kleinod gefertigt aus über einhundert Jahre altem Holz die Erinnerungen einer gebrochenen Seele finden. Den letzten Versuch eines gefallenen Engels die Tore des Himmels zu erreichen.
Aber ich wage es nicht die Tore der Erinnerung aufzusprengen. Ich wage es nicht mir einzugestehen, dass mein Freund Spike, der arrogante Vampir mit einer Vorliebe für Heiße Schokolade, und Jerome, der junge Poet der mein Herz gestohlen hat vor ach so langer Zeit, ein und dieselbe Person sind. Ich wage es nicht zuzugeben, dass Jerome es war, den ich immer geliebt habe. Auch wenn ich niemals sein Gesicht sah.
Ich wage es nicht.
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Und jetzt, nachdem ich gehört habe was er mir zu sagen hatte, nachdem ich mit ansehen musste wie die Erinnerungen ihn voller Angst in einer Ecke kauern ließen. Jetzt weiß ich was ich tun muss.
Jetzt weiß ich es endlich.
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Möge die Nacht diesen Monstern in Weiß beistehen. Denn es gibt nur zwei Dinge vor denen sogar der Teufel voller Angst reiß aus nimmt. Den Zorn einer Mutter, die ihr Kind verletzt sieht. Und die Wut einer Frau deren Herz mit ihrem Liebsten starb.
Mögen die Schwarzen Engel meinen Ruf erhören und gut heißen.
Die Rache ist mein.
