Geheimnisse der Vergangenheit
(von Tom Börner – Rechte…blablabla…liegen natürlich bei mir)
Diese Geschichte verläuft parallel zu „Harry Potter und die Kammer des Schreckens".
Es ist keine Alternativwelt, sondern versucht die Originalgeschichte nicht zu verändern, sondern sie soll nur erweitern. Dafür gibt es eine eigene Hintergrundstory, eigenständige Hauptcharaktere, altbekannte Freunde und einige Überschneidungen mit dem Original. Zum Beispiel erfährt man, wie Crabbe und Goyle zu Weihnachten aus dem Schrank kamen oder wie Draco Malfoy Sucher des Slytherin Teams wurde.
Wichtig ist mir vor allem, die Originalcharaktere möglichst dicht am Original zu schreiben. Es wird keinen plötzlich netten Snape geben oder keinen liebenswürdigen Draco. Alle JKR-Charaktere sollen so agieren, wie sie von JKR gedacht waren. Ich hoffe, ich habe das hinbekommen. Sollten Euch Fehler auffallen, so mailt mir oder schreibt es ins Review. Ich werde es gern einarbeiten, sofern es berechtigte Kritik ist.
Allgemein kann ich noch hinzufügen, dass über 90% der Namen in der Geschichte alle eine Sinn oder eine tiefere Bedeutung haben. Manche sind Wortspiele, manche bauen auf ihre ursprüngliche Bedeutung auf. Könnt ja mal drauf achten
Die Geschichte ist übrigens im Großen und Ganzen schon fertig, umfasst 35 Kapitel, ist über 256.000 Worte lang und vollständig auf meiner Homepage herunterladbar: Den Link zur Homepage findet ihr in meinem Profil.
Und jetzt hoffe ich, ihr habt viel Spaß beim Lesen.
- Kapitel 1 -
Zum ersten Mal allein
Staunend stand Toireasa neben dem keuchenden und rauchenden Etwas, das den Hogwarts-Express zog. Eine Dampflokomotive nannte man das, hatte Großmutter ihr erklärt. Ein Name, der der beeindruckenden Maschine nicht gerecht wurde. Viel passender fand sie…
„Na? Welchen Namen hat sich meine Enkelin für dieses Muggelding ausgedacht?", flüsterte eine freundliche, alte Stimme. Eine weiche, faltige Hand legte sich auf ihre Schulter.
„Dampfdrache würde mir gefallen", antwortete Toireasa ihrer Großmutter. „Wenn man seine Augen schließt, kann man sich das gut vorstellen. Ein Drache ist sicher genauso groß."
„Größer", lächelte die ältere Frau, die nicht mal über Toireasa hinwegsehen konnte. Was nicht bedeutete, dass Toireasa für ihre elf Jahre besonders hoch gewachsen war. Ihre Großmutter war einfach nur eine sehr kleine Person, wobei das jedoch nur auf ihre Körpergröße zutraf. Sobald sie ihren Zauberstab in die Hand nahm, hieß es Kopf einziehen, sofern man etwas ausgefressen hatte.
„Ich würde gern mal einen Drachen sehen", murmelte Toireasa versonnen.
„Wenn du in der fünften Klasse die Erwartungen deiner Eltern erfüllst, kann ich sie sicher davon überzeugen", versprach die Frau schelmisch. „Bis dahin musst du dich von Muggelzeug beeindrucken lassen."
„Das ist aber nicht dasselbe", murrte sie etwas. „Zuerst denkt man immer – wow wie toll – doch wenn man darüber nachdenkt, dann sieht man, wie armselig und kompliziert ihre Lösungen für die einfachsten Dinge sind."
„Das kommt davon, weil Muggel an sich schon armselig sind", mischte sich eine andere weibliche Stimme ein. „Wobei manche Sachen doch ganz nützlich sind. Wie der Express zum Beispiel. Man muss die Dinge nur immer etwas verbessern."
„Auch dir einen Guten Tag, Schwiegertochter", grüßte Großmutter mit leicht vorwurfsvollem Ton – was jedoch komplett ignoriert wurde.
Stattdessen bekam Toireasa eine flüchtige Umarmung.
„Ich hoffe, du hattest zwei schöne Wochen bei deinen Großeltern und sie haben dich nicht zu sehr verwöhnt!"
„Ja, Mutter", versicherte sie schnell.
„Sie haben dich auch nicht durch die Muggelstadt geschleppt?"
„Nein, Mutter. Nur auf der Fahrt hierher mussten wir durch London durch."
„Also wirklich, Schwiegertochter", zischte Großmutter ironisch. „Du solltest sie verhören, wenn ich nicht dabei bin. Sie wird wohl kaum die Wahrheit sagen, wenn ich daneben stehe."
Dabei zwinkerte die alte Frau Toireasa schalkhaft zu.
„Ich mache mir nur Sorgen, Großmutter Caitlin. Du wohnst zu dicht bei den Muggeln. Ich will nur nicht, dass sie zu viel Kontakt mit diesen…"
„Du solltest mich besser kennen, Pádraigín", sagte Toireasas Großmutter leicht verletzt und betonte dabei den Vornamen ihrer Mutter. „Du kennst meine Einstellung zum Kontakt mit Muggeln."
„Durchaus, Schwiegermutter", gab Toireasas Mutter zu. „Doch du musst zugeben, dass du manchmal auf die sonderlichsten Ideen kommst. Zum Beispiel, als du Toireasa diesen Vampir vorstellen wolltest!"
„Ein Vampir!", schnappte Toireasa überrascht und zu begeistert – was ein Fehler war.
Ihre Augen leuchteten auf und sie zupfte ihrer Großmutter am Saum ihres smaragd-grünen Umhangs. Das brachte ihr einen bösen Blick ihrer Mutter ein.
„Mach dir keine Hoffnungen. Ich habe diesen Unsinn verboten."
„Wir werden später noch einmal darüber sprechen, Pádraigín. Sir Erikal ist ein ehrenhafter, angesehener Mann mit großem Willen. Wenn er jemanden zu einem Drink einlädt, dann bedeutet dies nicht, dass der Gast der Drink sein wird. Nicht jeder Halbmensch ist unwertes Leben."
Toireasa beschloss, schnell einzugreifen. Ihre Großmutter und ihre Mutter mochten sich halbwegs einig in der Einschätzung der Muggel sein, aber sobald es um Werwölfe, Vampire, Zentauren, Halboger oder andere Mischwesen ging, dauerte es nicht lange und einige unschöne Flüche unterstützten die Argumente.
„Wo sind eigentlich Aidan, Risteárd und Dad?", fragte sie deshalb ihre Mutter.
Glücklicherweise war diese bereit, sich ablenken zu lassen.
„Dein Vater muss noch einem Muggel das Gedächtnis verändern. Er hat unsere Ankunft mit dem Portschlüssel bemerkt. Deine Brüder wollten zuschauen. Aber das sollte nicht lange…ah – da kommen sie auch schon."
Toireasa schaute auf und sah zur Wand, die das Portal zwischen dem Bahnsteig 93/4 und der Muggelwelt darstellte. Dort waren eben ihr Vater, ein großgewachsener, athletischer Mann mit ernstem Gesicht, und ihre beiden älteren Brüder erschienen.
Aidan, nur ein Jahr älter als Toireasa, grinste bis über beide Ohren.
„Hallo, Schwesterchen. Hast was verpasst! Ein Muggel, der völlig davon überzeugt war, dass er krankhaft halluziniert. Ist hektisch losgerannt und hat dauernd was von Außerirdischen gemurmelt", berichtete er begeistert und erinnerte sich erst dann an seine Erziehung. „Guten Tag, Stiefoma Caitlin."
„Wünsch ich dir auch, Stiefenkel Aidan. Hoffe, du hattest schöne Ferien und freust dich jetzt wieder auf Hogwarts."
„Natürlich, Oma", antwortete ihr Bruder, dessen Laune plötzlich nicht mehr so gut war, denn Hogwarts erinnerte ihn immer schmerzhaft an sein schlechtes Zeugnis aus dem letzten Jahr.
„Dein Bruder hat auch schlecht begonnen", sprach Toireasas Großmutter ihm gut zu „Nicht wahr, Risteárd?"
„Nicht so schlecht, Großmutter Caitlin", schränkte der meist recht schweigsame Junge ein, während er Toireasas Großmutter die Hand schüttelte.
Toireasa mochte Risteárd deutlich weniger als Aidan. Der Fünfzehnjährige war einfach zu sehr wie sein Vater. Ernst, zurückgezogen, strebsam, immer ordentlich und jeden Fehler vermeidend. Und dabei absolut phantasielos. Da war ihr Aidan definitiv lieber. Sie kabbelten sich zwar ständig und einige blutende Nasen und eklige Eiterbeulen hatte es auch schon gegeben, doch sie vertrugen sich meist auch ziemlich schnell wieder. Leider hatte dies nur bis zum letzten Jahr gestimmt. Seitdem Aidan sein erstes Jahr in Hogwarts verbracht hatte, weit weg von Spaß und Chaos, hatte er sich in seiner Art deutlich mehr Risteárd angenähert.
Und die Gardinenpredigt ihrer Eltern bei Sichtung der Zeugnisse hatte alles noch verschlimmert. Ihr Bruder hatte die halben Ferien mit dem Studium verschiedenster Bücher verbringen müssen und lehnte die meisten Abenteuer, die Toireasa verschlug, rundweg ab. Nur ganz selten schimmerte noch der alte, rauflustige Aidan hervor.
Inzwischen war es fast elf Uhr. Der Dampfdrache schien die bevorstehende Abreise zu spüren, denn er begann immer lauter zu schnaufen. Es war Zeit sich zu verabschieden.
„Ich hoffe, deine Großmutter hat überprüft, ob du alle Sachen dabei hast?", erkundigte sich ihre Mutter zum Abschied.
„Ich hab alles dabei", antwortete Toireasa, obwohl Großmutter nicht nachgesehen hatte. Sie hoffte, die liebevolle alte Frau würde ihr heimlich alles schicken, was sie in der Aufregung eventuell liegen gelassen hatte.
„Dann mach uns stolz. Schließlich bist du eine Davian."
„Ich werde mich bemühen, Mutter", antwortete sie gut erzogen.
Zufrieden mit der Antwort wandte sich ihre Mutter ab, um auch Aidan und Risteárd zu verabschieden, was um einiges herzlicher geschah, wie Toireasa leicht eifersüchtig feststellte. Von Vater bekam sie sogar nur ein kurz dahin gebrummtes: „Gute Fahrt", dann half er auch schon Aidan mit dem Gepäck, indem er es in den Zug schweben ließ.
Zum Glück war da noch Großmutter. Es brauchte einige herzliche Umarmungen und das Versprechen mindestens einmal die Woche zu schreiben, bis die alte Frau sie endlich freigab.
„Vergiss nicht, dass du eigentlich eine Keary bist", flüsterte Oma noch schnell und dann musste Toireasa zum Zug laufen.
Kaum war sie mit ihrem Gepäck und dem Käfig ihrer kleinen Eule eingestiegen, begann der Zug auch schon loszurollen. Sie drehte sich um und winkte ihren Eltern, die eigentlich ihre Stiefeltern waren, zu, solange sie diese sehen konnte. Erst dann bemerkte sie plötzlich, wie verloren sie sich fühlte. Aidan und Risteárd waren schon irgendwo im Zug bei ihren Freunden vom letzten Jahr.
Langsam zog sie ihren Koffer auf der Suche nach einem freien Sitzplatz den Gang entlang. Aidans Abteil war schon voll mit Schülern seines Alters und zu Risteárd wollte sie nicht. In der Mitte des Zuges glaubte sie dann eine passende Ecke gefunden zu haben, doch dort entdeckte sie ein rothaariges Mädchen in recht abgetragenen Kleidern und suchte lieber weiter. Ihre Eltern und Brüder hatten übereinstimmend berichtet, dass man sich von rothaarigen Schülern fernhalten sollte. Es waren allesamt Unruhestifter und kein guter Umgang. Außerdem lag ein Fluch auf rothaarigen Hexen, behaupteten sie.
So dauerte es bis zum letzten Wagon, ehe sie fündig wurde. Im letzten Abteil lag ganz allein, quer über drei Plätze, ein Junge in ihrem Alter und schien zu schlafen. So wie er gekleidet war, musste er ein Muggelstämmiger sein. Diese seltsam grobe, blaue Hose und das schwarze T-Shirt würde kein Zauberer freiwillig tragen. Zumindest nicht in dieser Kombination. Na ja – wie Großmutter gesagt hatte – in Hogwarts würde sie viele Abkömmlinge von Muggeln kennen lernen. Sollte so schlimm gar nicht sein.
Sie öffnete die Schiebetür.
„Entschuldigung! Ist hier noch frei?", fragte sie höflich.
Der Junge zuckte leicht zusammen, öffnete zwei graue Augen und lächelte dann. Ein wenig verschlafen fuhr er sich durch die kurzgeschorenen, dunkelbraunen Haare.
„Als ich noch wach war, war dem so. Und jetzt ist es auch recht ruhig hier drin. Ich denke, du solltest einen Platz finden. Soll ich dir helfen, dein Gepäck auf die Ablage zu legen?"
„Nicht nötig", lachte sie. „Mein Koffer ist verzaubert. Der wiegt nicht mehr als eine Tasche voller Federn."
Und dann hob sie ihn allein auf die Ablage.
„Federn können auch schwer sein", war die seltsame Antwort des Jungen. Dann legte er sich wieder hin und war nur Augenblicke später wieder eingeschlafen.
Sie setzte sich ihm gegenüber und stellte den Käfig ihrer Eule neben sich. Eigentlich wollte sie sich gern unterhalten, über Hogwarts, über das nächste Jahr. Doch sie beherrschte sich. Der Junge sah irgendwie mitgenommen aus. Es wäre sehr unhöflich gewesen ihn zu wecken. Um sich abzulenken, nahm sie eines ihrer Schulbücher - Wanderungen mit Werwölfen von Gilderoy Lockhart (es war dieses Jahr neu auf der Bücherliste für das erste Jahr) – und begann zu lesen.
Ab und zu schaute sie dabei auf. Der Junge schlief furchtbar unruhig. Seine Augen bewegten sich hektisch hinter den Lidern und gelegentlich zuckte er am ganzen Körper zusammen. Nach einigen Stunden war Toireasa es leid. Sie wollte reden und außerdem tat sie ihm wahrscheinlich sogar etwas Gutes, wenn sie ihn von seinem schlechten Traum erlöste.
Sie stupste ihn vorsichtig an. Er zuckte zurück, als hätte sie ihn mit einem Feuerzauber berührt, und starrte sie einige Sekunden völlig orientierungslos an. Dann schüttelte er kurz den Kopf und setzte sich aufrecht hin.
„Danke", flüsterte er mit leicht belegter Stimme und versank wieder in Schweigen, ohne zu erklären, wofür er sich eigentlich bedankte.
Er starrte sie nur wortlos an. Fast ohne zu zwinkern, wie eine Schlange. Sie beschloss etwas zu sagen, bevor sie sich wie ein Kaninchen fühlte.
„Ich bin Toireasa Keary-Davian und du…?"
„Tarsuinn McNamara", stellte der Junge sich kurz vor.
Jetzt blinzelte er endlich wieder.
„Fährst du auch das erste Mal nach Hogwarts?"
„Ja."
„Freust du dich auch so darauf?", fragte sie weiter. Seine Stimme war recht freundlich, aber seine Augen entbehrten jeder Emotion. Schlimmer noch, als man es manchmal bei Risteárd sah.
„Es ist doch irgendwie überall gleich", antwortete er gleichgültig, lächelte sie jedoch zum ersten Mal an.
„Das kann nicht dein Ernst sein. Deine Eltern sind sicher Muggel, oder?", platzte es aus ihr heraus. „Hogwarts ist das Größte, was einem in unserem Alter passieren kann."
„Meine Eltern sind bitte was?", ignorierte er den Hinweis auf Hogwarts.
„Muggel – Nicht-Magier halt", erklärte sie.
„Ach so – laut meiner Schwester war mein Vater ein Zauberer und meine Mutter hat sich mit Hellsehen – Kristallkugeln, Handlesen und so nem Zeug – ihr Geld verdient."
„Warum hat deine Schwester dir davon…oh", unterbrach sie sich selbst, peinlich berührt. „Sie sind gestorben!?"
„Denke schon", gab er gleichgültig zu. „Meine Schwester sagt, dass sie bei einem Unfall gestorben sind. Ich bin bei ihr aufgewachsen."
„Das tut mir Leid", entschuldigte sich Toireasa. „Entschuldige bitte auch, dass ich dich für einen Muggel gehalten habe. Die Kleidung…"
„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich scheine hier wirklich etwas überfordert. Ich weiß, dass der Zug uns zu einer Schule bringt. Aber um ehrlich zu sein, ich hab keine Ahnung wo es hingeht und was mich da erwartet. Ich hab nur ein paar Sachen auf dem Bahnsteig und im Zug hier gehört."
„Und? Was hast du dir dabei gedacht?"
„Könnte interessant werden", lächelte er jetzt wieder. „Vor allem Hogsmeade klingt nach Spaß. Ich hab zwei Freunde namens Fred und George darüber reden hören. "
„Leider darf man erst ab der dritten Klasse ins Dorf", erklärte sie ihm. „Aber ich werd meinen älteren Bruder drum bitten was mitzubringen. Solange er das Geld bekommt, macht er das sicher. Schenken tut der mir nichts."
„Mitbringsel sind zwar sicher schön, aber nicht dasselbe, wie die Läden zu besuchen."
„Ganz bestimmt nicht. Aber besser als nichts. Schließlich sollen wir ja in der Schule lernen und uns nicht vergnügen."
„Na, wenn du meinst. Ich denke ein wenig Spaß gehört auch dazu. Zum Beispiel sind…"
„Ach hier bist du, Schwesterchen", unterbrach Aidan, als er die Abteiltür aufriss. Ihr Bruder schien recht aufgeregt. „Hatte schon Angst, du hättest den Zug dann doch noch verpasst."
„Hallo Aidan. Das war das einzige freie Abteil. Das ist Tarsuinn McNamara", sie deutete auf den Jungen. „Kommt auch aus einer Zaubererfamilie."
„Noch nie von den McNamaras gehört."
„Wir nehmen Bekanntheit für uns nicht in Anspruch", versicherte Tarsuinn ironisch. „Es lebt sich so ruhiger."
Dabei stand er auf und streckte Aidan seine Hand entgegen, der diese auch nach kurzem Zögern ergriff.
„Hoffen wir, dass du im richtigen Haus landest", kommentierte Aidan den Handschlag und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Toireasa zu.
„Weißt du schon das Neueste?", fragte er aufgeregt.
„Nein. Was?"
„Harry Potter ist nicht hier. Ich bin gerade durch den gesamten Zug gelaufen – und nichts. Es gibt Gerüchte, dass er für immer wegbleibt. Wenn das stimmt, dann fängt das Schuljahr richtig gut an. Ich muss es den anderen erzählen. Vor allem Draco."
Und schon war er wieder weg. Toireasa schloss hinter ihm die Schiebetür.
„Es wäre wirklich eine gute Nachricht für Slytherin", murmelte sie leise.
„Warum?"
Toireasa war sich nicht bewusst gewesen so laut gesprochen zu haben, als dass er es hätte hören können.
„Ähem – meine Brüder sind der Meinung, dass ihr Haus – Slytherin – nur wegen Harry Potter im letzten Jahr nicht den Hauspokal gewonnen hat. Er ist der Liebling des Direktors, musst du wissen."
„Ah. Verstehe! Aber was ist Slytherin?"
„Du weißt wohl gar nichts?", entfuhr es ihr entsetzt. „Hat deine Schwester dir nichts erzählt?"
„Ich bezweifle, dass sie jemals in Hogwarts war. Sie hatte genug damit zu tun mich aufzuziehen."
„Na ja – ist eigentlich nicht so schlimm. Ich kann es dir ja erklären. In Hogwarts gibt es vier Häuser, die alle miteinander im Wettbewerb um den Hauspokal stehen. Die Häuser heißen Slytherin, Ravenclaw, Gryffindor und Hufflepuff. Jedes Haus bevorzugt eine andere Tugend bei seinen Schülern – bis auf Hufflepuff – die nehmen jeden."
„Und die anderen Häuser?"
„Gryffindors stellen den Mut über alles. Mit dem Ergebnis, dass sie meist handeln ohne nachzudenken oder ohne das nötige Wissen zu haben. Meine Eltern sagen immer, sie richten mit ihrem Mut mehr Schaden an, als sie Gutes bewirken, obwohl sie eigentlich das Richtige wollen.
Ravenclaw stellt Klugheit über alles. Wissen ist Macht, doch leider sind sie meist nicht bereit diese Macht auszunutzen. Sie sammeln Wissen um des Wissens willen und bleiben dann oftmals untätig.
Slytherin hingegen ist das beste Haus mit den höchsten und umfassendsten Anforderungen. Man muss Wissen sammeln und den Mut haben, es im rechten Augenblick für das Richtige einzusetzen. Das lernt man nur in Slytherin und deshalb werden da nur Schüler aufgenommen, welchen die Magie seit Generationen im Blut liegt.
Heh – vielleicht kommen wir ja beide nach Slytherin?! Oder wenigstens nach Ravenclaw."
„Mir ist es eigentlich egal in welchem Haus man mich schlafen lässt", bemerkte er, ohne die passende Begeisterung.
Sie hielt das seiner Unwissenheit zugute.
„Nicht so schlimm. Die Auswahl wird ja für uns getroffen. Mach dir keine Sorgen."
„Darüber bestimmt nicht. Aber du willst sicher unbedingt nach Slytherin?!"
„Ja", gab sie zu. „Aber Ravenclaw wäre auch nicht schlimm. Ich lese schon seit einigen Jahren die Schulbücher meiner Brüder mit. Ich versteh natürlich vieles nicht und auch die meisten Zauber funktionieren nicht oder nicht richtig, aber das erste Jahr sollte überhaupt kein Problem darstellen. Meine Mutter hat mir da sehr geholfen. Sie meint, ich könnte schon jetzt die Abschlussprüfung der ersten Klasse machen!"
„Da kann ich nicht mithalten", sagte er und wirkte darüber nicht sonderlich bedrückt. „Bei mir reicht es nur zu ein paar kleinen Tricks."
„Zeig mal", verlangte sie neugierig.
„Klar doch", stimmte er sofort zu.
Er stand entschlossen auf, stieg auf den Sitz und versuchte sein Gepäck, eine Art großen Rucksack, herunterzuholen. Doch er kam nicht dazu.
Ein dunkelgrauer Schemen sprang plötzlich von der Ablage herunter direkt auf Toireasas Schoß. Ein Japsen war das Einzige, was sie zustande brachte, so erschrocken hatte sie sich. Bewegungslos starrte sie auf das graue, unbekannte Tier, das ohne Umstände begann, sich an ihr herauf zu strecken und mit seiner kalten, feuchten Nase ihr Gesicht zu untersuchen. Es kitzelte furchtbar, doch sie bewegte sich nicht. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, dass man unbekannte Wesen nicht mit aggressiven Bewegungen provozieren sollte. Glücklicherweise wurde sie nur wenige Augenblicke später gerettet.
„Tikki!", erklang die vorwurfsvolle Stimme Tarsuinns. „Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst niemanden so überfallen?! Komm bitte her."
Er kletterte wieder von der Sitzbank – ohne seinen Rucksack herunterzuholen – und streckte die Arme nach dem grauen Wesen aus, das auch umgehend in diese sprang. Er fing es seltsam ungeschickt auf, setzte sich, platzierte das Tier namens Tikki auf seinen Oberschenkeln und zauste liebevoll die kleinen Ohren.
„Also noch mal, Tikki", begann er eindringlich. „Erst ordentlich Vorstellen, freundlich Anfragen und dann Abschnüffeln und um Streicheleinheiten betteln. Nicht mit den letzten beiden Dingen gleichzeitig beginnen. Verstanden?"
Das Tier schaute ihn völlig unschuldig an. Das gab Toireasa die Zeit, es sich genauer anzusehen. Es sah ein wenig wie ein Marder oder Wiesel aus, war aber deutlich massiger und runder. Körper und Schwanz hatten beide jeweils eine Länge von circa dreißig Zentimetern. Ein spitzer Kopf, große wache Augen und kleine, ständig zuckende Ohren, vermittelten den Eindruck von wachsamer Intelligenz.
„Entschuldige bitte", wandte sich Tarsuinn nun an Toireasa. „Tikki mag es Leute zu erschrecken. Irgendwann wird ihr das mal sehr wehtun. Aber das sieht sie nie ein."
„Kein Problem", erwiderte sie sofort. „Ich mag Tiere. Ich war nur etwas erschrocken."
„Dann ist ja gut", freute er sich offensichtlich. „Also das hier ist Tikki. Tikki, das ist Toireasa."
Tikki wollte sofort wieder auf Toireasas Knie springen, doch Tarsuinn hielt sie fest.
„Darf sie dich beschnüffeln?", fragte er. „Sie macht das nur zu gern."
„Aber klar", lachte sie. „Du bist überaus besorgt und höflich. Du musst das nicht übertreiben."
Daraufhin ließ er Tikki los, die herüber sprang und sofort die intensive Untersuchung ihres Geruchs aufnahm. Versuchsweise streichelte sie das graue Rückenfell des Tieres. Es war sehr weich und Tikki schienen die Berührungen sehr zu gefallen. Zumindest stellte sie die Geruchsuntersuchung recht bald ein, rollte sich in ihrem Schoß zusammen und ließ sich, mit genüsslich geschlossenen Augen, liebkosen.
„Was für ein Tier ist das", fragte sie fasziniert. „Ich hab so eins noch nie gesehen."
„Tikki ist ein Indischer Kleiner Mungo."
„Ich dachte, in Hogwarts sind nur Ratten, Eulen, Katzen und Kröten erlaubt?", fragte sie erstaunt. Er musste ziemliche Beziehungen haben, wenn er dieses Tier mitnehmen durfte.
„Mungos sind Schleichkatzen", antwortete er. „Theoretisch sollte es also keine Probleme geben. Kommt drauf an, wie eng man so was sieht."
„Und wenn doch? Hast du nicht Angst, dass man sie dir wegnimmt und nach Hause schickt?"
„Dann schlaf ich halt woanders. Aber eigentlich kann man mir Tikki nicht wegnehmen, da sie mir nicht gehört. Genau genommen läuft sie mir ständig nach und passt auf mich auf. Ich kann das nicht verhindern."
„Aber sie hört auf dich."
Das entlockte ihm ein Lachen.
„Nur wenn sie will. Meist bestimmt sie, wo es lang geht. Wenn sie gestreichelt werden will und ich achte mal nicht auf sie, dann kaut sie so lange auf meiner Hand herum, bis ich sie beachte."
Ein kurzer besorgter Blick auf seine Hände zeigte, dass er übertrieb. Zwar verliefen einige dünne Narbenlinien über seine Handrücken, aber es waren keine Bissspuren zu sehen. Wahrscheinlich meinte er mit Kauen das verspielte Beißen, wie es auch Katzen des Öfteren taten.
„Mit Keyx ist es das Gleiche", Toireasa deutete auf ihre kleine Eule. „Bevor er nicht etwas zu essen, zu trinken und ein paar Streicheleinheiten bekommt, ist es sehr schmerzhaft, ihm abzunehmen, was er bringt."
„Ah – du bekommst auch Mäuse als Liebesbeweis?"
„Das auch", grinste sie jetzt auch. „Ich muss immer dafür sorgen, dass Mutter das nicht sieht. Sie schimpft jedes Mal furchtbar, wenn sie einen Mäusekadaver unterm Sofa findet."
Keyx gab einen dünnen, hoheitsvollen Laut von sich.
„Ziemlich dünnes Stimmchen. Wird er noch größer oder gehört er einer so kleinen Art an?", fragte er interessiert. „Ich find, er klingt recht süß."
„Pst", flüsterte Toireasa und schaute zu ihrer kleinen Zwergohreule, die eh schon eifersüchtig Tikki beäugte. „Sag niemals Keyx sähe süß aus, wäre klein oder etwas Ähnliches. Das mag er überhaupt nicht."
In ihrem Schoß regte sich plötzlich Tikki und sprang zu dem Käfig. Neugierig beäugte er die kleine Eule.
„Tikki", sagte Tarsuinn scharf. „Das ist ein Haustier. Also kein Essen. Haben wir uns da verstanden?"
Anscheinend enttäuscht zog die Mungodame ab und begann, betont desinteressiert am Käfig, aber um Aufmerksamkeit heischend, durchs Abteil zu toben. Tarsuinn schien daran gewöhnt zu sein. Egal wie dicht das graue Energiebündel an ihm vorbeihuschte oder sprang, er ignorierte gelegentliche Beinahezusammenstöße völlig. Es machte Spaß dabei zuzusehen und ab und zu versuchte Toireasa das Fellknäuel zu fangen, was sich recht bald zu einem kleinen Spiel entwickelte. Es gelang ihr nie, Tikki zu ergreifen. Egal, wie schnell ihre Hände zugriffen, Tikki war schneller und wich aus. Selbst als Tarsuinn versuchte ihr zu helfen, hatten sie keine Chance gegen das reaktionsschnelle Wesen.
So verflog die Zeit und sie zuckten überrascht zusammen, als eine ältere Schülerin unvermittelt die Abteiltür öffnete.
„Ihr seid sicher Erstklässler!?", stellte sie halb fragend fest.
Toireasa nickte.
„Ich bin DeborahWisdome. Die Schulsprecherin für dieses Jahr", stellte sich das Mädchen mit dem Wappen Hufflepuffs und der silbernen Spange an der Schulter stolz vor. „Wir sind in ein paar Minuten in Hogwarts. Ihr solltet eure Umhänge anlegen. Wenn wir da sind, wird euch unser Wildhüter Hagrid am Bahnsteig erwarten und getrennt von uns älteren Schülern zur Schule bringen. Bleibt bei ihm und macht keinen Unsinn. Fragt, bevor ihr etwas Dummes tut und wenn ihr im Schuljahr mal Hilfe braucht, dann könnt ihr zu mir kommen, wenn ihr es keinem Lehrer anvertrauen könnt. Außerdem…oh…", unterbrach sie sich selbst, „…wir sind ja schon da. Beeilt euch."
Dann ging sie hastig wieder weg.
Toireasa spürte, wie sich die Fahrt des Zuges verlangsamte. Sie holte ihren Koffer herunter, öffnete ihn und nahm einen Schulumhang heraus. Tarsuinn tat dasselbe, nur öffnete er seinen Rucksack nicht.
„Was ist? Du hast doch gehört: Wir sollen unsere Umhänge anziehen."
„Wozu Umhänge? Es regnet doch gar nicht?"
„Das ist in Hogwarts einfach so üblich!"
Er wirkte verlegen.
„Ich hab nicht damit gerechnet, da es ja nicht regnen sollte. Mein Umhang ist ganz unten und ehe ich den hervorgekramt habe…"
Toireasa fackelte nicht lange und warf ihm einen der ihren zu.
„Ähem – danke", stammelte er und wurde etwas rot. „Aber ist der nicht für Mädchen?"
„Den Unterschied sieht man kaum. Zieh schon an. Es ist draußen eh schon dunkel", drängte sie. „Den bekomme ich aber sobald wie möglich wieder."
„Natürlich. Ich wasch ihn auch vorher", versprach er.
„Mir ist es lieber, die Hauselfen machen das", lachte sie bei der Vorstellung. „Ich bin sicher, die können das besser."
„Besser als die Heinzelmännchen?", erkundigte er sich schalkhaft.
„Bleib mir weg mit diesen deutschen Haushaltshilfen. Wir hatten mal einen. Außer Sauerkraut, Klöße, Schnitzel und Bratwurst konnte der nichts kochen. Nicht mal Plumpudding."
„Ist ja furchtbar", antworte er in einem Ton, der irgendwie das Gegenteil auszudrücken schien und warf sich dann den Umhang über die Schultern.
„Wir sind anscheinend etwa gleich groß", bemerkte er dabei zufrieden. „Nochmals danke."
„Keine Ursache und nun los, sonst sind wie die Letzten", drängelte sie.
Sie waren kaum aus dem Zug gestiegen, als sie auch schon eine laute tiefe Stimme hörten.
„Erstklässler zu mir. Euer Gepäck könnt ihr auf'm Bahnsteig lassen", dröhnte eine tiefe Stimme über das erwartungsvolle Gemurmel der Schülermenge.
Sie sah zu dem Sprecher herüber und seufzte enttäuscht.
„Ich hatte gedacht, er wäre größer", murrte sie leise zu sich selbst.
„Wer?", fragte Tarsuinn.
„Der Wildhüter! Dieser Hagrid. Er ist ja nicht mal ganz drei Meter groß!", erklärte sie und nahm sich vor, nächstes Mal noch leiser zu murmeln.
„Also ich denke, das ist schon ziemlich riesig", bemerkte Tarsuinn. „Hab nicht gedacht, dass ein Mensch überhaupt so groß werden könnte."
Tikki – die auf seiner rechten Schulter das Gleichgewicht hielt – pflichtete ihm mit einem pfeifenden Geräusch bei.
„Na ja – Aidan hat ihn viel größer und auch wilder beschrieben. Na gut…", gab sie zu, „…wild sieht er wirklich aus, aber bei weitem nicht so wild."
„Und darüber bist du enttäuscht?", erkundigte er sich erstaunt.
Sie konnte seinen Ton ein wenig verstehen.
Toireasa war fasziniert von großen, gefährlichen Wesen. Zwar hatten ihre Eltern immer dafür gesorgt, dass sie nur ganz wenigen begegnete, doch Bücher waren ihr nie verboten worden. Und jetzt endlich durfte sie einige dieser Wesen kennen lernen und dann war das Erste noch nicht mal besonders groß – und gefährlich wirkte der Wildhüter auch nicht. Eher wie ein Schäfer, der seine geliebte Herde sammelt. Er lächelte ständig und sein Augenmerk war hauptsächlich auf die Erstklässler gerichtet. Doch Toireasas forschendem Blick entging nicht, dass er ab und zu über die Menge der Schüler blickte, so, als würde er jemanden suchen. Dann winkte er plötzlich freudig zu einem älteren Mädchen – welche die lange, lockige Haarpracht besaß, die Toireasa sich immer gewünscht hatte. Ihr eigenes Haar bezeichnete man immer als schmutzig blond und es spaltete sich sofort, sobald es länger als bis zur Schulter gewachsen war.
Das fremde Mädchen winkte freudig zurück, woraufhin der Wildhüter irgendeine lautlose Frage mit seinen Lippen formte. Es war unmöglich, die Worte durch den dichten Bart des Mannes zu entziffern. Doch das langhaarige Mädchen schien zu wissen, was er meinte und zuckte nur mit verzweifeltem Gesichtsausdruck die Schultern.
Dem Riesen schien diese Antwort wenig zu behagen, fing sich jedoch nach einem kurzen Augenblick und lächelte wieder seine elfjährigen Schützlinge an.
„So – ich denk mal – wir müsst'n vollzählig sein. Folgt mir. Wir nehm nen andren Weg als der Rest. Bleibt zusammen und achtet auf eure Füße. Wir wollen doch nich als große Lawine den See erreichen."
Dann führte er sie einen schmalen, glitschigen Weg eine Klippe hinunter. Toireasa konnte das leise Plätschern eines Sees hören.
„So – sind gleich da. Gleich seht ihr zum ersten Mal Hogwarts. Die vorne gehen, bleibt bitte nich stehen, sondern steigt vorsichtig und jeweils zu viert in die Boote. Und ihr da hinten, drängelt nicht so. Euer Jahrgang ist etwas zahlreicher, als die letzten beiden. Könnt sonst passieren, dass die Letzten die Ersten ins Wasser schubsen."
Toireasa war froh mit Tarsuinn fast am Ende der Schülergruppe zu gehen. So konnte sie ruhig einen Moment stehen bleiben und das romantisch beleuchtete Hogwarts betrachten, das erhaben über ihnen aufragte. Doch da war noch ein Problem. Sie zögerte.
„Was ist?", fragte Tarsuinn etwas besorgt. „Warum gehst du nicht weiter?"
„Niemand hat mir gesagt, dass wir mit Booten über den See fahren. Aidan hat behauptet, wir müssten drum herum gehen."
„Und?"
„Ich kann nicht schwimmen", gestand sie entsetzt.
„Keine Angst. Ich kann es und außerdem sollst du ja auch mit dem Boot fahren und nicht schwimmen."
Er bückte sich herunter, ertastete die Bordwand – Tikki sprang bei der Gelegenheit gleich von seiner Schulter ins Boot – und dann lächelte er Toireasa aufmunternd an.
„Mach es einfach wie ich. Hock dich hin, halt dich an der Seite fest und dann steig ein, wobei du dich ganz klein machst. Und wenn du dich danach schnell und ruhig hinsetzt, kann eigentlich nichts passieren und es ist fast unmöglich zu kentern."
Er stieg ein.
„Nur fast unmöglich?", fragte sie leicht zittrig.
„Na ja", er grinste. „Es gibt böse Menschen, die absichtlich schaukeln, schubsen oder einfach im falschen Moment loslassen."
Er streckte ihr seine Hand entgegen.
„Vertrau mir", forderte er und obwohl sein Grinsen sicher nicht vertrauenswürdig war, ging sie in die Hocke, hielt sich mit der rechten Hand an der Bordwand fest, ergriff seine Hand mit ihrer linken und kletterte dann ins Boot. Es schaukelte leicht und sie setzte sich schnell neben ihn. Sie bemerkte kaum, dass sie seine Hand nicht losließ.
„Alle drin?", rief der Wildhüter und schaute sich aufmerksam um. Er hatte ein ganzes Boot für sich allein in Beschlag genommen.
„Du da!", rief er dann plötzlich. „Ja – du mit dem Fotoapparat. Setz dich bitte hin, sonst fällst du noch in'n See rein."
Ein kleiner blonder Junge, in einem der vorderen Boote, setzte sich sofort so abrupt hin, dass sein Boot stark schwankte und zwei Mädchen kurz und panisch aufschrien. Doch es stabilisierte sich rasch wieder und niemand fiel ins Wasser.
„VORWÄRTS!", rief der Wildhüter bestimmt.
Fast gleichzeitig legten alle Boote ab und fuhren von allein quer über den See.
Es war eine sehr ruhige Fahrt. Es schwankte kaum und Toireasa entspannte sich ein wenig.
„Ich hab mich schon gewundert", flüsterte Tarsuinn ihr ins Ohr. „Wie wir uns fortbewegen, meine ich."
„Magie, schätze ich", sagte sie nur und versuchte zu ignorieren, wie er sich ein Stück über die Bordwand beugte und eine Hand ins Wasser hielt.
„Nicht doch", sagte er dabei. „Da sind Menschen unter Wasser, die uns schieben. Und auch noch irgendein Wassertier, was uns zieht. Schau!"
Es kostete sie einige Überwindung sich ein wenig zur Seite zu beugen, bis sie seine Hand sehen konnte. Er hielt sie knapp über dem Wasser. Dann plötzlich durchbrachen langsam fünf menschliche Finger – zwischen denen Schwimmhäute wuchsen – die Wasseroberfläche und berührten ganz sanft und kurz Tarsuinns Fingerkuppen. Dann verschwanden sie wieder. Dies geschah einige Male.
„Sie müssen ihre Haut gegen das kalte Wasser eingefettet haben. So glatt…", murmelte er.
„Du solltest vorsichtiger sein. Was, wenn sie dich aus dem Boot ziehen?", gab Toireasa zu bedenken.
„Dann halte ich mich an dir fest", grinste er wieder unverschämt, nahm aber seine Hand zurück ins Boot. „Aber eigentlich glaube ich, dass sie unser Boot einfach zum Kentern bringen können, wenn sie uns im Wasser haben wollen."
„Mir ist es trotzdem lieber, wenn du es nicht austestest", presste sie hervor. Wie konnte er sie nur so quälen? Musste er sie auch noch ärgern, wenn er sah, dass sie Schwierigkeiten hatte ihre Angst zu beherrschen?
Doch zum Glück unternahm er kein weiteres Experiment. Vielleicht tat ihm inzwischen die Hand weh, die Toireasa krampfhaft umklammerte. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihr dann aber, dass er völlig auf das Schloss fixiert war. Als wäre er hypnotisiert.
So erreichten sie wenig später eine Höhle unter dem Gebäude, die als Anlegeplatz diente.
Toireasa atmete erleichtert auf. Nachdem sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sah die Welt – und damit auch die Zukunft – gleich wieder viel rosiger aus. Ein flüchtiges Gefühl, denn sie fand sich an einem Tor wieder, welches so riesig war, dass sie sich unsagbar klein fühlte. Hagrid klopfte an und Augenblicke später schwangen die beiden Flügel weit auf. Eine ältere, in grünen Samt gewandete Hexe mit Spitzhut, erwartete sie dort.
„Sind alle da, Professor McGonagall", sprach der Wildhüter sie an.
„Danke Hagrid, man erwartet Sie schon in der Großen Halle. Schüler! Bitte folgen Sie mir."
Der Wildhüter verschwand in einem Seitengang, während Professor McGonagall sie eiligen Schrittes durch eine riesige Eingangshalle und eine Marmortreppe hinaufführte. Sie gingen an einer Tür vorbei, hinter der ein vielfältiges Stimmengewirr zu hören war, dann standen sie dicht gedrängt in einem kleinen Raum.
„Ich bitte um Ruhe", bat die Lehrerin unnötigerweise. Sämtliche gemurmelten Gespräche waren schon verstummt, als das erste Wort über ihre Lippen gekommen war.
„Willkommen in Hogwarts", begann Professor McGonagall und obwohl sie dabei ohne ein Lächeln über die Schüler schaute, hatte man das Gefühl, sie meinte es auch so. „Das Bankett zur Eröffnung des Schuljahrs beginnt in Kürze. Doch bevor Sie Ihre Plätze in der Großen Halle einnehmen, werden wir feststellen müssen, in welches Haus Sie gehören. Das ist eine sehr wichtige Zeremonie, denn das Haus ist gleichsam Ihre Familie hier in Hogwarts.
Sie haben gemeinsam Unterricht, Sie schlafen im Schlafsaal Ihres Hauses und verbringen Ihre Freizeit im Gemeinschaftsraum. Die vier Häuser heißen Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Jedes Haus hat seine eigene, ehrenvolle Geschichte und jedes hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Während Ihrer Zeit in Hogwarts holen Sie mit Ihren guten Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn Sie die Regeln verletzen, werden Ihrem Haus Punkte abgezogen. Am Ende des Jahres erhält das Haus mit den meisten Punkten den Hauspokal, eine große Auszeichnung.
Ich hoffe, jeder von Ihnen ist ein Gewinn für das Haus, in welches er kommen wird. Die Einführungsfeier, an der auch die anderen Schüler teilnehmen, beginnt in wenigen Minuten. Sie sollten die Zeit nutzen und Ihre Kleidung in Ordnung bringen. Es heißt, der erste Eindruck ist entscheidend und zu einem schlechten ersten Eindruck würde auch gehören, wenn Sie die Wartezeit hier laut schnatternd verbringen. Ich werde Sie zur gegebenen Zeit abholen."
Dann verschwand sie mit fliegendem Umhang durch die Tür, die sich hinter ihr schloss.
„Ich glaub, ich bin hier völlig falsch", flüsterte Tarsuinn leise. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Erstaunen und Amüsiertheit.
„Wir sind alle nervös", flüsterte Toireasa angespannt.
„Du verstehst nicht…", begann er.
Diesmal war es wohl an ihr, mutig zu sein.
„Keine Sorge wegen der Auswahl. Aidan hat mir zwar unheimlich viele Horrorgeschichten darüber erzählt, aber die haben sich alle paar Tage widersprochen. Risteárd meinte, so schlimm wäre das alles gar nicht."
„Ich hoffe, du hast Recht", antwortete er nur unsicher. „Diese McGonagall schien nicht sonderlich humorvoll."
„Wird schon schief gehen. Schließlich…"
Sie konnte den Satz nicht beenden.
„FRISCHFLEISCH!", heulte es triumphierend und aus der Wand kam eine Gestalt geschossen. Den Kopf grotesk vergrößert und mit entstelltem Gesicht und weit geöffneten Armen, schoss sie auf die Kinder zu, riss dabei einige Rüstungen um und machte auch ansonsten einen Höllenlärm. Alle Schüler – auch Toireasa – sprangen entsetzt vor der Gestalt zurück. Nur Tarsuinn blieb völlig ungerührt stehen.
„Es ist nicht besonders hilfreich Dinge umzuwerfen, wenn man leise sein soll", sagte er laut und schaute die Gestalt direkt an. Diese stoppte kurz vor seiner Nase und der Kopf schrumpfte auf ein normales Maß, so dass nur ein kleiner, bösartiger aussehender – aber im Moment verwirrt blickender – Geist zurück blieb.
„Ist nur ein Geist", flüsterte irgendjemand erleichtert.
„Ja – aber ein Poltergeist", kommentierte jemand anders warnend.
„Das muss Peeves sein", wusste eine dritte Stimme.
„So – ihr müsst also leise sein?", fragte der Geist heiser.
Er dachte einige Sekunden nach, dann begann er fies und hell zu kichern.
„Na dann, wollen wir mal…", verkündete er und begann dann, mit einem Helm nach den Kindern zu werfen. Glücklicherweise hatte der Helm keine scharfen Kanten. Toireasa gelang es einmal äußerst knapp auszuweichen und sah dabei erstaunt, wie Tarsuinn fast unbeteiligt im Raum stand. Er schien etwas zu sagen, doch über den Lärm konnte man ihn nicht verstehen. Er bot ein herrliches Ziel und das schien auch der Poltergeist zu bemerken.
„PEEVES!", brüllte plötzlich jemand mit eiskalter Stimme über den Krach hinweg. Ein weiterer Geist erschien durch die Wand. Gekleidet wie ein Edelmann aus dem Mittelalter, sah er eigentlich ganz vornehm aus, aber die bösartigen, roten Augen und das glänzende Blut auf seiner Kleidung zeugten von einem blutigen Ende.
„PEEVES!", brüllte der neue Geist noch einmal. „Wir hatten dieses Jahr eine Abmachung und ein Versprechen. Da du die Abmachung gebrochen hast, werde ich jetzt mein Versprechen wahr machen. Komm her, Peeves."
Aber der dachte gar nicht daran, sondern gab eilig und panisch heulend Fersengeld, dicht gefolgt von dem anderen Geist, der überhaupt nicht unglücklich zu sein schien. Eher das Gegenteil. Toireasa glaubte noch, ein triumphierendes Lächeln gesehen zu haben.
Wenigstens kehrte jetzt Ruhe ein. Einige versuchten die umgefallenen Ritterrüstungen wieder aufzurichten, doch dies war ein sinnloses Unterfangen. Nichts passte mehr zusammen und einige waren einfach zu schwer.
„Was in aller Welt ist denn hier los", erklang die strenge Stimme von Professor McGonagall von der Tür her. Niemand hatte, in dem Versuch die Schäden zu beseitigen, die Ankunft der Lehrerin bemerkt. Alle erstarrten einen kurzen Augenblick, doch dann sprudelten aus allen gleichzeitig Erklärungen hervor.
„Ein Geist…zwei…Blut…Rüstungen umgekippt…mit dem Helm…furchtbar…auf uns gezielt…Peeves…durch die Wand…keine Schuld…haben versucht…mich getroffen…"
Toireasa bezweifelte, dass irgendwer aus diesem Durcheinander eine Information zusammenstückeln konnte. Doch jahrelanger Umgang mit Kindern schien Professor McGonagall trotzdem dazu zu befähigen.
„Also Peeves", sagte sie laut und mit einer nach Ruhe heischenden Geste. „Na das erklärt einiges. Bitte beruhigen Sie alle sich jetzt wieder. Peeves ist ein ständiges Ärgernis und Sie werden ihm noch häufiger begegnen."
Sie schaute kurz und ernsthaft über die nun stillen Erstklässler.
„Aber jetzt werden Sie noch einmal Ihre Kleidung richten, in einer Reihe Aufstellung nehmen und mir dann in die Große Halle folgen. Man erwartet uns schon ungeduldig."
Mit diesen Worten drehte sich die Professorin herum und schritt davon. Erst jetzt fiel Toireasa auf, dass McGonagall einen alten abgewetzten Holzstuhl in der linken und einen noch älteren zerknitterten Hut in der rechten Hand trug. Das hatte sicher etwas mit der Zeremonie zu tun. Doch was sollte man damit anstellen? Sie zuckte still mit den Schultern und beschloss, es auf sich zukommen zu lassen. Was konnte sie auch sonst tun?
Im Boden versinken, war sicher eine gute Lösung, dachte sie bei sich, als sie die lange Reihe der älteren Schüler abschritt. Vorn – direkt vor dem Tisch der Lehrer – blieben sie dann alle stehen. Professor McGonagall stellte den Stuhl vor sie und legte den Hut darauf. Toireasa brachte es nicht über sich, die lange Reihe der Lehrer anzusehen. Stattdessen konzentrierte sie sich voll und ganz auf den Hut. Zuerst geschah nichts, doch dann richtete der Hut sich von selbst auf und begann etwas zu singen. Toireasa hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie war zu aufgeregt und sah sich in der Halle um. Sie entdeckte ihre Brüder und damit den Slytherin-Tisch. Da wollte sie hin!
Das Lied endet und der aufbrausende Beifall zog Toireasas Aufmerksamkeit wieder auf den Hut. Halbherzig und aus Höflichkeit begann sie in die Hände zu klatschen.
Professor McGonagall entrollte ein langes Pergament.
„Ich werde jetzt jeden einzeln aufrufen. Wenn Sie Ihren Namen hören, kommen Sie nach vorn, setzen den Hut auf und lassen sich auf dem Stuhl nieder. Der Hut wird dann Ihr Haus bestimmen…Creevey, Colin."
Der kleine Junge, der in dem Boot unbedingt hatte fotografieren müssen, trat nach vorn. Sie konnte wetten, dass er nach Gryffindor oder Hufflepuff kommen würde. Es dauerte nicht lange und der Hut bestätigte laut ihre Vermutung mit einem lauten: „GRYFFINDOR!"
Volltreffer! Mutig, aber keinen Verstand.
Beflügelt von ihrem ersten Erfolg und um sich abzulenken, vertrieb sie sich die Zeit damit vorauszusagen, wer in welches Haus kommen würde. Stellenweise lag sie total daneben. Viel eher als erwartet, war dann plötzlich sie selbst dran.
„Davian-Keary, Toireasa."
Mit Macht zwang sie ihre Beine nach vorn zu treten. Eigentlich wollte sie sagen, dass sie
Keary-Davian hieß, doch die ungeteilte Aufmerksamkeit hunderter Schüler und einem Dutzend Lehrer verbannten jeden Laut aus ihrer Kehle. Stumm trat sie vor, setzte sich den Hut auf und hüpfte mit so viel Schwung auf den etwas zu hohen Stuhl, dass dieser kurz kippelte. Leises Lachen ertönte von einigen der Älteren.
„Na? Wen haben wir denn da?", wisperte eine Stimme in ihrem Ohr. „Jemand der sich für ganz schlau hält und glaubt alles zu wissen."
Ich will nach Slytherin, dachte sie angestrengt.
„Warum willst du das?", flüsterte die Stimme wieder. „Die anderen Häuser haben dir so viel zu bieten."
Ich will nach Slytherin.
„Es wäre Ravenclaw, wo man dir eine helle Zukunft ermöglichen würde."
Ich will nach Slytherin.
„Ravenclaw könnte deinen Durst nach Wissen stillen."
Ich will nach Slytherin.
„Und dir Wege zeigen, an die du bisher noch nicht denkst."
Ich will nach Slytherin.
„Ich streite nicht ab – auch Slytherin hätte einiges für dich zu bieten. Aber glaube mir, Slytherin wäre für dich nicht deine beste Wahl, auch wenn du reinen Blutes bist. Ein schmerzhafter Weg wartet da auf dich."
Ich muss nach Slytherin.
„Du musst? Niemand muss hier. Du wählst frei, ich sortiere nur deinen Kopf an den richtigen Tisch."
Meine Brüder sind in Slytherin.
„Du hast keine Brüder in Slytherin", widersprach der Hut. „Ich muss es wissen. Kein Anverwandter von dir hat mich in den letzten zwanzig Jahren aufgesetzt."
Meine Eltern erwarten mich in Slytherin.
„Woher willst du wissen, was deine Eltern sich wünschen?"
Nur in Slytherin wird man mich soweit bringen, dass ich das Antlitz der Welt verändern kann.
„Bist du dir da sicher? Es gibt auch andere Ziele im Leben."
Es sind meine Ziele. Slytherin wird mir die Kraft und die Macht geben.
„Damit magst du Recht haben", pflichtete der Hut ihr zum ersten Mal bei.
Slytherin, Slytherin, Slytherin, Slytherin.
„…und deshalb schicke ich dich nach – SLYTHERIN!"
Erleichtert sank Toireasa in sich zusammen. Ein Mahlstein fiel ihr vom Herzen. Der Tisch der Slytherins tobte vor Beifall und sie lief behende hinüber, nachdem sie den Hut zurückgegeben hatte. Ihr Bruder klopfte ihr anerkennend auf den Rücken. Sie musste einige ausgestreckte Hände schütteln. Dann konnte sie sich setzen.
Die Auswahl war inzwischen weitergegangen. Alsbald war eine Luna Lovegood an der Reihe, die nach Ravenclaw kam und dann wartete sie gespannt auf Tarsuinn. Sie hoffte, er würde auch in Slytherin landen. Doch zu ihrem maßlosen Erstaunen lautete der nächste aufgerufene Name: „O'Hara, Phyllis", die eine Minute später nach Hufflepuff geschickt wurde.
Toireasa runzelte nachdenklich die Stirn. Hatte Tarsuinn ihr einen falschen Namen genannt? Sie schaute den Jungen an. Offensichtlich schien es ihn nicht zu stören, dass er übergangen worden war. Im Gegenteil – während alle wie gebannt die Auswahl verfolgten, sah er sich interessiert in der Große Halle um. Sein Mund stand vor Staunen weit offen. Niemand schien das zu bemerken.
Das dachte Toireasa zumindest – bis sie einen kurzen Blick auf den uralten Mann in der Mitte des Lehrertisches warf. Das musste Albus Dumbledore sein, der Direktor Hogwarts und einer der größten noch lebenden Zauberer. Doch trotz seines Alters, waren sein Blick und seine Haltung wach und sie konnte genau sehen, dass der größte Teil seiner Aufmerksamkeit auf Tarsuinn gerichtet war. Hatte er auch bemerkt, dass dieser übergangen worden war?
Die Auswahl ging derweil weiter. Inzwischen waren schon über achtzig Schüler auf ihre Häuser verteilt und nur noch zwei waren übrig.
„Weasley, Ginny", verkündete Professor McGonagall gerade und das rothaarige Mädchen – genau das, dem sie vorsichtshalber schon im Zug aus dem Weg gegangen war – trat vor. Sie war die Einzige, bei der sich der Hut zu einer lauten Äußerung hinreißen ließ, die über das Verkünden des Hauses hinausging.
„Huch, die gibt's auch als Mädchen", verkündete der Hut gespielt erschrocken. Alles lachte. Mehr oder weniger nett. „Na dann – ab nach GRYFFINDOR."
Vom Tisch, der am weitesten entfernt von Slytherin stand, erklang das lauteste Gejohle des Tages, gefolgt von einigen unter dem Tisch gezündeten Knallfröschen. Drei Jungen mit feuerroten Köpfen waren aufgesprungen und begrüßten anscheinend ihre – hochrot angelaufene – Schwester glücklich.
Nun war nur noch Tarsuinn übrig.
Professor McGonagall schaute leicht erstaunt drein und studierte ihre Liste.
„Hab ich Ihren Namen überlesen? Na dann kommen Sie nach vorn."
Er blieb wie angewurzelt stehen. Es wurde wieder still im Saal.
„Ich glaub, das ist vielleicht keine so gute Idee", sagte Tarsuinn über die neugierige Stille hinweg und zum ersten Mal glaubte Toireasa tiefgehende Furcht bei ihm herauszuhören.
„Keine Angst", beruhigte McGonagall und winkte ihn heran.
Zögernd trat er näher. Sie hielt ihm den Hut hin – noch immer die Liste lesend.
„Dein Name ist…?", fragte sie.
„Nun setz endlich den Hut auf", unterbrach der Direktor lächelnd. „Wenn wir hier nicht bald etwas zu essen bekommen, werden einige zu schwach sein, um Messer und Gabel zu heben. Vor allem die Älteren unter uns."
Dies brachte dem Direktor einiges Kichern (auch bei Toireasa) ein, was er aber wie einen Applaus hinnahm. Und nebenbei überwand sich nun Tarsuinn doch dazu, endlich den Hut aufzusetzen.
„Ich heiße Tarsuinn McNamara", sagte er leise.
Sein Kopf zuckte ruckartig nach unten, als würde der Hut versuchen, über seine Hutkrempe hinweg, ihm ins Gesicht zu sehen.
McGonagall war inzwischen die Liste durchgegangen und schüttelte den Kopf.
„Dieser Name steht hier nicht", verkündete sie offensichtlich erstaunt. Sie griff nach dem Hut, doch Tarsuinn fiel seitlich vom Stuhl, weg von ihrer Hand. Zuerst dachte Toireasa, er hätte so verhindern wollen, dass McGonagall ihm den Hut abnahm, aber so schwer wie er aufschlug, konnte es keine Absicht gewesen sein. Außerdem hatte es ausgesehen, als ob sich zuerst der Hut zur Seite bewegt hatte.
„Halt still", befahl McGonagall und ging auf ihn zu.
Wieder wich er ihr aus.
„Ich kann nicht", rief er verzweifelt und versuchte selbst den Hut abzunehmen. Es schien nicht zu gehen.
„Ich hab noch keine Entscheidung getroffen", beteiligte sich der Hut nun an dem Gespräch.
„Er ist nicht gemeldet", hielt McGonagall entgegen, offensichtlich um Würde bemüht. Anscheinend hielt sie sich für schuldig, dass diesem, nicht in die Schule eingeladenen Jungen, der Hut aufgesetzt worden war.
Natürlich war das gar nicht der Fehler der Lehrerin, erkannte Toireasa plötzlich. Es war ihr eigener Umhang, der die Täuschung perfekt gemacht hatte. Sie sank in sich zusammen. Wenn das raus kam, war sie dran. Was für ein schlimmer Auftakt. Sie hatte es jemandem ermöglicht, sich hier einzuschleichen. Hatte sogar Stunden mit dem Jungen gesprochen, ohne etwas zu bemerken.
Es schien nur zwei Personen im ganzen Saal zu geben, die diese Szene zu amüsieren schien. Professor Dumbledore und einen zwergengroßen Zauberer, zwei Plätze zu dessen Rechten. Erster erhob sich nun langsam, nur mühsam ein Lächeln unterdrückend.
„Hiermit möchte ich den möglicherweise anstehenden Untergang des Universums bekannt geben…", verkündete er unangebracht fröhlich, „…denn anscheinend hat es ein Muggel geschafft nach Hogwarts zu gelangen."
Eine Welt brach in diesem Augenblick für Toireasa zusammen. Sie wollte vor Scham aus dem Saal rennen. Sie hatte auch noch einem Muggel ihren Umhang geliehen, hatte seine Hand auf der Bootsfahrt festgehalten und gehofft, er würde nach Slytherin kommen, damit sie Freunde werden konnten. Sie fühlte sich so schmutzig! Was sollte ihre Familie denken? Betreten schaute sie zu Aidan und fing einen wirklich befremdeten Blick auf, den er ihr zuwarf. Dann legte er den Zeigefinger verschwörerisch auf seine Lippen und wandte den Blick ab.
Toireasa schaute ein wenig erleichtert zum Lehrertisch. Einige Lehrer waren, entsetzt von den Worten des Direktors, aufgesprungen. Einer – im aquamarinblauen Umhang, dessen Bild sie von vielen Büchern her kannte (Gilderoy Lockhart) – hatte sogar seinen Zauberstab gezogen.
„Wenn Sie erlauben, Direktor, werde ich mich des Problems annehmen", bot er sich selbstsicher an. „Ich kann seine Erinnerungen an den heutigen Tag verändern, auf dass er sich niemals an Hogwarts erinnert."
Dabei fuchtelte er mit seinem Zauberstab in die Richtung des Jungen, was ihm ein bösartiges Knurren von Tikki einbrachte.
„Ich denke, dies hat Zeit, Professor Lockhart. Schließlich müssen wir erst einige Dinge klären. Professor McGonagall – würden Sie mich und unseren Gast bitte in mein Büro begleiten. Ich denke meine Ansprache muss heute etwas warten. Doch zuvor – das Wichtigste…"
Der Direktor klatschte in die Hände und urplötzlich füllten sich die Tafeln mit allerlei Köstlichkeiten. Toireasa hatte jedoch keinen Hunger mehr. Sie hatte gehofft, dass Professor Lockhart das Gedächtnis des Muggels löschen würde. Doch jetzt würden sie ihn befragen und dann würde ihre Beteiligung herauskommen. Was für ein schlimmer erster Tag!
Sie fühlte sich krank als sie zusah, wie der Muggeljunge aus dem Saal geführt wurde. Professor McGonagall hatte ihm dabei eine Hand fest auf die Schulter gelegt, um ihn am Flüchten zu hindern. Den Sprechenden Hut trug dieser aber noch immer. Der Direktor folgte mit kurzem Abstand, der Stuhl der Auswahlzeremonie schwebte hinterher.
