- Kapitel 5 -

In der Nokturnegasse

Der verschlissene Umhang, den Mr Ollivander ihm überlassen hatte, lag schwer in einem Beutel auf seinen Beinen.

Sollte Tarsuinn es wagen?

Seit gut einer Stunde saß er nun vor Fortescues Eissalon und hielt sich an einem Regenbogeneisbecher fest. Und obwohl es das köstlichste Eis seines Lebens war, wollte es ihm nicht so recht schmecken. Ollivander hatte ihm gesagt, dass die Person, die ihm eventuell helfen könnte, erst um acht Uhr abends zu finden wäre und hatte ihm gleichzeitig davon abgeraten hinzugehen. Trotzdem hatte Tarsuinn eine sehr genaue Wegbeschreibung bekommen, unzählige Verhaltensregeln, die er zu beachten hatte und den Umhang in dem Beutel. Danach hatte Ollivander ihm auch noch unzählige kleine Anekdoten erzählt, was mit einigen verirrten Muggeln in der Nokturnegasse geschehen war. Natürlich nur die Geschichten von denen, die überhaupt zurückgekehrt waren. Tarsuinn glaubte nicht alles, was Ollivander ihm erzählte. Irgendwie hatte er immer das Gefühl gehabt, dass dieser ihn überhaupt nicht dort hinschicken wollte. Dieser Zwiespalt zwischen: Geh dort hin! Nein, lass es lieber! – hatte Tarsuinn völlig verwirrt.

Aus diesem Grund saß er jetzt vor dem Eissalon. Tarsuinn hoffte, Hagrid würde auftauchen, bevor es Zeit wurde aufzubrechen. Leider bisher vergebens. Er klappte die Abdeckung seiner Uhr auf und fühlte zum wiederholten Mal nach der Zeit. Es war inzwischen soweit. Von Hagrid weit und breit nichts zu hören.

Damit war die Entscheidung gefallen. Er bezahlte sein Eis und schlenderte in Richtung Nokturnegasse. Der spezielle Geruch der Gasse war ein perfekter Wegweiser. Er schlich die Treppe hinunter und warf sich dabei Ollivanders Umhang über, der ihm deutlich zu groß war. Der untere Saum schliff fast über den Boden und Tarsuinns Schulter waren fast nicht breit genug, um den Umhang am Herunterrutschen zu hindern. Wie ihm Ollivander immer wieder eingetrichtert hatte, zog er die Kapuze über den Kopf und beugte sich so nach vorn, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Tikki musste sich währenddessen in dem nun leeren Beutel verstecken, den er unter dem Umhang trug. Damit fehlte ihm zwar Tikkis Hilfe bei der Orientierung, doch die Nokturnegasse war so eng, dass er immer eine Wand hatte, an der er seine Finger entlang gleiten lassen konnte. Ihm war furchtbar mulmig. Aus allen Ecken und Räumen hier erklangen Geräusche, die er nur bedingt einordnen konnte – Geräusche, die er noch nie so gehört hatte.

Er passierte eine Gasse, in der ein Mann von zwei anderen freundlich darauf hingewiesen wurde, dass es Zeit war seine Schulden und die Zinsen zu zahlen.

Niemals neugierig irgendwo stehen bleiben, war eine von Ollivanders Grundregeln gewesen. Einige Ecken später bot ihm eine Frauenstimme Freuden an, die er sich nur in seinen Träumen vorstellen konnte. Da Tarsuinn seine Träume kannte, ging der Reiz für ihn gegen Null und er reagierte, indem er ein möglichst krankes Husten simulierte. Das rettete ihn zwar vor der Frau, führte jedoch dazu, das ihm unzählige schmierige Heilkundige die wunderlichsten – und wahrscheinlich illegalen – Kuren anboten. Das ging bis zu der Gelegenheit, zum Vampir gemacht zu werden. Tarsuinn würdigte niemanden einer Antwort.

Wenn jemand entdeckt, dass du ein hilfloser Muggeljunge bist, dann ist dein Leben keinen Knut mehr wert, hatte Ollivander gesagt. Sei stumm und halt den Kopf gesenkt.

Immer tiefer drang er so in das labyrinthartige Gewirr aus Gängen vor. Als er durch die Tür schritt, die laut Ollivanders Wegbeschreibung das Ende seines Weges darstellen sollte, hoffte er, dass die Beschreibung genauso akkurat war, wie sie geklungen hatte. Doch nachdem er in dem Raum stand, hoffte er fast, dass er sich verlaufen hatte. Es roch hier, als wäre etwas gestorben und das vor nicht allzu langer Zeit.

„Ah, Kundschaft", freute sich eine unerwartet junge, weibliche Stimme. „Womit kann ich Ihnen dienen?"

„Ich suche Mrs Glenndary, Ma'am", sagte er und versuchte besonders tief zu sprechen.

„Ich bin Mrs Glenndary", lachte die Stimme. „Und du bist..."

„…völlig falsch hier", entfuhr es ihm.

„So falsch auch nicht", kam die Antwort. „Nur etwas spät. Ein Hogwartsschüler bist du sicher nicht. Die kaufen nur bis Ende August bei mir."

Das klang interessant.

„Was kaufen denn Hogwartsschüler hier?", fragte er erstaunt.

„Was man so im täglichen Schulkrieg braucht. Zauberspruchsichere Schlösser, Schutzamulette, die kleine Fluchfibel und so weiter. Alles sehr nützlich. Ich habe hier im Grunde genommen alles, womit du dir das Leben leichter machen kannst."

„Haben Sie auch Zauberstäbe?", fragte er.

„Aber sicher doch. Brauchst was zum Beeindrucken, nicht wahr? Kein Problem. Ich hab hier Zauberstäbe, die genau dieselbe Zusammensetzung haben, wie die der alten Magier – Merlin, Morgana la Fey, Circe. Aber wenn du das Ausgefallene suchst und das nötige Geld hast, dann habe ich hier noch die originalen Stäbe von leuchtenden Helden und toten Verbrechern. Gerade dunkle Artefakte haben Konjunktur. Aber meine berühmteste Antiquität…", sie machte eine effektvolle Pause, „…ist der Zauberstab Grindelwalds, dem Dunklen Magier, der von Albus Dumbledore besiegt wurde. Er ist nicht zerbrochen, wie die Legende berichtet. Er ist hier und für tausend Galleonen gehört er dir. Ruhm, Neid und Ehrfurcht dem, der ihn besitzt. Aber vielleicht…"

„Ich suche eigentlich einen Zauberstab für mich", unterbrach er die begeistert vorgebrachte Werbung.

„Das tut mir Leid. Ich hab nur Gebrauchte oder Repliken hier", sagte sie bedauernd. „Einen Zauberstab für dich selbst, solltest du bei Ollivander in der Winkelgasse erwerben."

„Da war ich schon. Er hat mich zu Euch geschickt, Ma'am", entgegnete Tarsuinn.

„Er hat dich…", begann sie in erstauntem Ton und stockte dann. „Wirklich…?"

„Ja."

„Und du kannst keinen normalen Zauberstab berühren?"

Woher wusste sie das denn? Er nickte überrascht.

„Ich fass es nicht", stammelte sie noch immer.

Dann ergriff sie seine Hand und zog ihn irgendwohin. Tarsuinn schüttelte diese ab, sobald der feste Griff sich etwas lockerte.

„Na, das fehlte noch! Komm schnell nach hinten. Die muss dich nicht hier sehen."

Sie brachte ihn in irgendeinen Raum hinten im Laden.

„Sei ganz leise und fass nichts an", flüsterte sie ihm zu. „Ich bin gleich zurück."

Sie ging wieder in den Verkaufsraum zurück und schloss die Tür sehr leise. Sekunden später hörte er sie, wie sie einen neuen Kunden begrüßte.

„Oh, Lady Kondagion. Womit verdiene ich die Ehre Eures Besuches?", hörte er die Stimme der Verkäuferin sagen. Sie klang jetzt sehr unterwürfig. Wobei diese Unterwürfigkeit eine gut versteckte Lüge zu sein schien.

„Hast du etwas von dem hereinbekommen, nach dem ich Ausschau halte?", fragte eine kalte, befehlsgewohnte Stimme.

„Nein, Mylady. Ich bedaure. Aber ich könnte Euch eine der wahren Weissagungen des Nostradamus anbieten. Handgeschrieben und signiert."

„Ich bin nicht interessiert an diesem Machwerk", fauchte die Frau, die Kondagion hieß. „Ich bin nur an dem interessiert, was ich dir schon mehrmals beschrieben habe. Beschaff mir das und du wirst gut verdienen."

„Aber Mylady. Ich habe in den fünf größten Bibliotheken Englands nachgeforscht, habe einige der gelehrtesten Zauberer und Hexen befragt. Was ihr sucht, existiert nicht! Es ist nur ein Märchen. Bestenfalls eine Legende."

„Welche auf der Wahrheit beruht. Du wirst weiter forschen!"

„Aber mir fehlen Zeit und Geld dazu. Ihr kauft nie etwas! Wovon soll ich sonst leben? Ich hätte hier Grindelwalds Zauberstab mit einem Echtheitszertifikat…"

„Schweig! Ich brauche keine Zauberstäbe von Verlierern. Hast du wenigstens neue Informationen gefunden, die mir bei der Suche nützlich sein könnten?"

„Nicht viel, Mylady. Den Legenden zufolge wurden mehrere Hüter ausgewählt, die Eure gesuchten Artefakte verstecken sollten, auf dass niemand Zugriff mehr erlangt. Je nachdem wessen Geschichten man liest, verbergen die Artefakte entweder die Kobolde, die Zentauren oder die größten Zauberer ihrer Zeit."

„Das wussten wir alles schon!"

„Ich wünschte, ich hätte mehr. Aber ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. Ich könnte vielleicht mit Professor Dumbledore in Hog…"

„Untersteh dich! Du wirst mit niemandem darüber sprechen, ohne von mir die Erlaubnis dazu erhalten zu haben."

„Wie Ihr wünscht."

Dann war es eine Weile still.

„Was ist das?", fragte dann die kalte Frauenstimme.

„Oh – Mylady hat ein gutes Auge. Dies ist ein Teil der legendären Stillen Klinge. Es ist eine wahre Schande, dass der Dolch zerbrochen wurde."

„Ich nehm das Stück", erklärte Kondagion.

„Das kostet hundertfünfzig Galleonen, Mylady."

„Ich sagte, ich nehme es. Nicht, dass ich es kaufe."

„Aber Mylady…"

„Du wirst das Stück mir überlassen, Glenndary, oder aber mir fällt wieder ein, dass sich das Ministerium für den Verbleib gewisser Personen interessiert."

Mrs Glenndary antwortete nicht auf diese Drohung. Tarsuinn fragte sich, was die eigentlich so fröhliche Frau denn nur verbrochen haben konnte. Er hoffte, es war etwas relativ Harmloses, was ihn nicht als Opfer in Frage kommen ließ.

„Soll ich es Euch einpacken?", hörte er dann Glenndary sagen. Sie schien jedes Wort mit mühsamer Beherrschung hervorzupressen. „Mister Malfoy wünschte das ausdrücklich bei seinem Teil der Klinge."

„Lucius Malfoy hat ein anderes Teil der Klinge?", fragte Kondagion scharf.

„Ja. Er kaufte es vor zwei Wochen. Ich hatte eigentlich vor, ihm dieses Teil auch anzubieten."

„Untersteh dich! Du wirst morgen zu ihm gehen und versuchen es zurückzukaufen."

„Wenn Ihr es wünscht, würde ich das gern für Euch tun. Nur habe ich kein Geld mehr, um dies zu bewerkstelligen. Er wird sicher mehr wollen, als er bei mir gezahlt hat."

„Wie viel?"

„Er hat zweihundert bezahlt. Unter dreihundert wird er es nicht herausgeben und wenn er erfahren sollte, dass Ihr es seid, die danach sucht, wird es sicher das Dreifache kosten oder unverkäuflich werden."

„Dann solltest du dafür sorgen, dass er es nicht erfährt. Das Geld bekommst du dafür von mir."

„Dies wird schwierig werden. Es ist bekannt, dass Malfoy auch Zauber oder Tränke nutzt, um seinen Verhandlungspartner zu durchschauen. Mich dagegen zu wappnen wird nicht billig werden."

Tarsuinn glaubte fast ein Zähneknirschen zu hören.

„Wie viel?"

„Alles zusammen, glaube ich, sollten vierhundert reichen, Mylady."

Geld klimperte.

„Wage es nicht mich zu betrügen", verabschiedete sich danach die kalte Lady. „Denk daran, wer dich nach Askaban bringen kann."

„Ich werde es nicht vergessen, Mylady."

„Ich sehe, wir verstehen uns. Ich werde in etwa einer Woche erneut hier vorbeischauen. Dann wünsche ich mir bessere Ergebnisse."

„Ich werde mich bemühen, Mylady. Möge Ihnen noch ein schöner Tag beschieden sein."

Tarsuinn hörte, wie jemand den Laden verließ, wenig später wurde eine Tür verriegelt und dann kam Mrs Glenndary zu ihm in den Raum.

„So", begann sie, plötzlich wieder freundlich. „Ich hab den Laden für heute geschlossen, so dass wir uns in Ruhe unterhalten können. Möchtest du einen Tee?"

Er schüttelte nur den Kopf. Nicht, dass sie ihm da etwas hineinmixte.

„Hast du viel von dem Gespräch eben mitbekommen?", fragte sie.

„Welches Gespräch?", stellte er sich unschuldig.

„Du musst dich nicht taub stellen", lachte sie. „Ich wäre dir nur dankbar, wenn du niemandem davon erzählst. Möchtest du wirklich keinen Tee?"

Wieder schüttelte er mit dem Kopf.

„Na, egal", akzeptierte sie endlich. „Aber ich brauch jetzt einen."

Sie ging an ihm vorbei und setzte sich irgendwo an der hinteren Wand. Tarsuinn hörte plötzlich ganz leise Schritte von da, wo sie saß. Es war noch eine dritte Person im Raum.

„Danke, Zac", sagte Mrs Glenndary. „Möchtest du dich nicht wenigstens setzen, junger Mann?"

Ohne Tikki würde er Probleme haben einen Stuhl zu finden.

„Nein danke", sagte er deshalb. „Ich glaub, ich stehe lieber."

„Ich kann dich nicht zwingen", sagte sie mit nachsichtiger Stimme und dann trank sie ihren Tee. Dabei nahm sie sich offensichtlich viel Zeit. Er hatte das sichere Gefühl, dass sie ihn dabei von oben bis unten musterte.

„Ich würde gern sehen was passiert, wenn du einen Zauberstab anfasst", sagte sie dann unvermittelt.

„Ich überhaupt nicht", wehrte er ohne Begeisterung ab. „Beim letzten hat meine Hand gebrannt."

„Wirklich? Gebrannt? Wow!", irgendwie lag in ihrer Stimme nur schwer beherrschte Freude darüber. „Hab keine Angst. Ich weiß genau, welche Zauberstäbe weniger schmerzhaft für dich sind."

„Vielleicht vertraue ich Ihnen aber nicht genug", antwortete er.

„Dann würden wir beide in der Zwickmühle sitzen. Du brauchst etwas, was ich dir geben kann und ich muss etwas jemandem geben, was ich nur dem Richtigen geben darf. Doch beginnen muss immer der, der etwas möchte, nicht der, der etwas hat."

Es fiel Tarsuinn schwer, diese Logik zu widerlegen. Sie schien sich ziemlich sicher zu sein, den Zauberstab zu besitzen, den er brauchte. Einzig er musste beweisen, dass er derjenige war, der ihn zu bekommen hatte.

„Ich werd es tun. Geben Sie mir einen Stab."

Er trat näher zu ihr, bemüht auf dem Pfad zu bleiben, auf dem er sie hatte laufen hören und streckte die Hand aus. Ein Zauberstab wurde in sie hingelegt und sofort spürte er viele feine Stiche. Es tat weniger weh, als selbst beim ersten Versuch bei Mr Ollivander.

„Ich sehe es", sagte Mrs Glenndary erstaunt. „Aber ich kann es kaum glauben. Eigentlich sollte es ein Hogwartsschüler sein, der zu mir kommt."

„Ich komme aus Hogwarts", bestätigte er.

„Das Schuljahr hat aber schon begonnen. Warum bist du dann noch hier?"

„Mir fehlten einige wichtige Schulsachen – wie zum Beispiel ein Zauberstab", erklärte er. „Deshalb wurde ich hierher geschickt."

„Wahrscheinlich nicht direkt hierher", lachte sie. „Es gibt solche Zufälle! Vorhin – in dem Gespräch, das du ja nicht gehört hast, ging es indirekt ja auch um dich. Ich denke, es wird langsam Zeit, dass du bekommst was dir gehört. Zic – holst du bitte meine dicken Drachenlederhandschuhe und Zac – pass auf, dass uns niemand stört."

Tarsuinn hörte zwei Paar nackte Füße leise durch den Raum laufen.

„Ich bin gleich zurück, setz dich inzwischen endlich. Es macht mich nervös, wenn Gäste nicht sitzen wollen."

Dann ging sie ein Stück von ihm weg, zog etwas zur Seite und er hörte, wie eine Tür im Scharnier knarrte. Sie schien eine Treppe hinunter zu gehen.

Jetzt, da sie ihn nicht sehen konnte, tastete er nach einem Stuhl, der ungefähr ihr gegenüber stand. Er fand einen recht klapprigen, der jedoch sein Gewicht noch trug. Vor ihm befand sich ein Teetisch, auf dem eine kleine Vase mit einer seltsam riechenden Blume stand.

Es dauerte keine fünf Minuten, dann war Mrs Glenndary wieder da. Sie stellte etwas vor ihm auf den Tisch.

„So! Das ist es", sagte sie, gespannt klingend. „Mach es auf."

Er griff danach und fand ein kleines, längliches Kästchen. Es fühlte sich metallen an. Eine kleine Vorrichtung an der Stirnseite war anscheinend zum Öffnen da. Leider hatte er keinen Plan, wie er dieses Schloss zu benutzen hatte.

„Warum machen Sie es nicht auf?", fragte er.

„Ich? Ich kann das Kästchen nicht einmal mit bloßer Hand anfassen, ohne in Ohnmacht zu fallen."

„Und da haben Sie es mich einfach so berühren lassen?", entfuhr es ihm entsetzt.

„Da bestand kaum Gefahr für dich, glaub mir. Drück einfach den kleinen Hebel nach oben."

„Könnte es sein, dass Sie erpressbar sind, weil jemand bei einem solchen Experiment den Löffel gereicht hat?", fragte er zynisch.

„Nein", antwortete sie und es klang verletzt. „Ich bin in dieser Lage, weil jemand lebt, nicht weil jemand tot ist. Nun öffne schon!"

Er tat es, schließlich war er schon so weit gekommen. Es stach kurz in seinem Finger und für einen panischen Augenblick glaubte er an eine vergiftete Nadel. Doch dann sprang der Deckel auf und er fühlte sich immer noch gut. Das Innere des Kästchens war ausgelegt mit Samt und in der Mitte ruhte in einer Vertiefung ein Zauberstab. Er wusste es sofort, als er ihn berührte, obwohl keine Schmerzen in durchfluteten. Im Gegenteil, der Stab fühlte sich angenehm kühl an, war vollkommen glatt und doch nicht rutschig. Tarsuinn nahm den Stab in die Hand und tastete jeden Millimeter des etwa sieben Zoll langen Gegenstandes ab. Er war wunderschön.

„Schwing ihn mal", bat Mrs Glenndary.

Tarsuinn tat es.

„Warum passiert nichts?", fragte sie verwundert.

„Vielleicht, weil ich ein Muggel bin, wie viele sagen", erklärte er, selbst schwer enttäuscht.

„Quatsch, das hätte mein Urgroßvater erwähnt!"

„Warum sollte er?", forschte er neugierig nach. „Wie kommt es überhaupt, dass Ihr mich erwartet zu haben scheint? Warum hat das was mit dieser Lady zu tun?"

„Ach je", stöhnte sie traurig. „Du bist so ein unschuldiger, kleiner Junge. Ich weiß nicht, ob ich dir das antun sollte. Vielleicht wäre es besser, wenn du den Stab zurücklegen würdest?"

Tarsuinns umfasste fest den Zauberstab. Er würde ihn nicht wieder hergegeben. Der gehörte jetzt ihm!

„Ich seh schon. Gut, dann werde ich dir erzählen was ich weiß, doch es ist nur die Wahrheit, die ich zu kennen glaube. Was die wirkliche Wahrheit ist, weiß anscheinend niemand mehr. Legende verschmolz mit der Wirklichkeit und Geschichte wurde zur Sage. Ich habe mich lange damit beschäftigt und allen Geschichten eins ist, dass es einmal ein Geschlecht an Zauberern gab, deren Zauberkraft nicht durch normale Zauberstäbe Wirkung erlangen konnte. Aus diesem Grund erschufen sie sich eigene. Niemand anderer als sie selbst, konnte diese Stäbe berühren. In den meisten Geschichten waren es Magier mit böser Macht, die ganze Länder unterjochten und tausende Muggel und dutzende Zauberer und Hexen zu ihrem Vergnügen töteten.

Doch diese Geschichten sind uralt, manche älter als die Geschichtsschreibung und es gibt keine Erwähnungen solcher Zauberstäbe in den letzten vierhundert Jahren. Alles Mythen und Legenden, mit denen man kleine Kinder am Abend erschreckt. Das glaubte auch mein Urgroßvater, der dieses Geschäft vor über einhundert Jahren führte. Bis eines Abends eine alte Frau ihn besuchte. Sie hatte ein altes Pfand der Schuld unserer Familie bei sich, welches sie als Dienst einforderte. Sie übergab meinem Urgroßvater den Zauberstab, den du jetzt in der Hand hältst und gab ihm folgende Anleitung…"

Ihr Ton wurde etwas getragen, so als würde sie eine auswendig gelernte Rede halten.

„…eines Tages wird ein Kind zu Ollivanders kommen, das keinen Zauberstab berühren kann. Ihr werdet dafür sorgen, dass dieses Kind – ein Schüler Hogwarts – den Weg zu Euch findet und ihm den Zauberstab übergeben, den ich Euch gab. Kein Zweifel darf Euch beirren, keine Legende erschrecken. Ihr gabt dereinst uns einen Pfand und wir lösen ihn jetzt ein. Vertraut uns, welche das Pfand verdienten und fürchtet den Fluch, wenn Ihr Eure Pflicht nicht erfüllt.

Nach diesen Worten starb sie und mein Urgroßvater bestattete sie in allen Ehren."

„Und das soll vor über einhundert Jahren gewesen sein?", fragte er zweifelnd.

„Ja. Ich gebe zu, wir haben auch daran gezweifelt, dass jemals jemand hier vorbei kommt und den Zauberstab haben will. Doch wie du siehst, die Worte der alten Frau sind in Erfüllung gegangen."

„Wer war sie?"

„Keiner weiß es, doch sie hatte das Pfand und niemand hätte gewagt, dem zuwider zu handeln."

„Warum? Wegen des Fluches?"

„Nicht nur. Ein solches Pfand, von dem wir hier sprechen, wird nur an jemanden gegeben, der eine gesamte Blutlinie vor dem Untergang bewahrt hat. Niemand in meiner Familie würde mehr existieren, wenn nicht jemand anderer unsere Vorfahren bewahrt hätte. Deshalb gaben sie das Pfand und deshalb sind alle Generationen, die danach kommen, dem Träger des Pfandes verpflichtet."

„Wissen Sie, wofür das Pfand stand?"

„Oh ja. Doch dies erzähle ich dir nicht. Diese Geschichte gehört meiner Familie."

„Und wie konnten Sie so sicher sein, dass ich hierher kommen würde?"

Sie lachte unbeschwert.

„Unsere Familie hat seitdem jedem Ollivander, wenn er noch klein war, eine tief versteckte Suggestion eingepflanzt, die dafür sorgt, dass er bei einem speziellen Kunden, das Bedürfnis verspürt, ihm behilflich zu sein und ihn zu uns zu schicken. Wir mussten nur immer dafür sorgen, dass er unsere aktuelle Adresse wusste. Und wie du siehst, es hat funktioniert."

„Er war nicht sonderlich glücklich darüber!", erinnerte sich Tarsuinn deutlich.

„Niemand Anständiges schickt gern ein Kind in die Nokturnegasse", sagte sie ernsthaft. „Und wie schon gesagt, mir wäre es lieber gewesen, du wärst niemals hier aufgetaucht."

„Aber wieso?"

„Zum einen wegen der Legenden, zum anderen wegen Gloria Kondagion, die Frau von vorhin. Sie tauchte vor sieben Jahren hier zum ersten Mal auf, weil sie in Erfahrung gebracht hatte, dass sich meine Familie mit den Legenden der Unberührbaren Zauberstäbe befasste. Sie wusste Dinge über die Stäbe, von denen ich noch nie gehört hatte und sie wusste viel über meine Vergangenheit. Sie zwang mich in Bibliotheken und Häuser einzubrechen, auf der Suche nach einem dieser Zauberstäbe", Mrs Glenndary lachte laut. „Wenn Sie gewusst hätte, dass ich schon lange besitze, was sie so verzweifelt sucht…was du jetzt besitzt. Sie darf das niemals erfahren! Ich kenne sie seit meiner Schulzeit in Hogwarts, es ist niemals gut etwas zu besitzen, was sie möchte."

„Deshalb wollen Sie, dass ich den Zauberstab hier lasse?"

„Ja. Es ist zu deinem Schutz. Warte lieber bis du genug gelernt hast, um dich selbst zu verteidigen."

„Das geht nicht. Ich habe nur ein Jahr in Hogwarts. Wenn ich dann nicht zaubern kann, werden meine Erinnerungen gelöscht."

„Dann bleib hier! Ich kann dich alles lehren, ich kann dich beschützen, dir Zeit schenken und dir alles beibringen."

Das war ein verlockendes Angebot, aber…

„Ich glaub, das geht nicht. Ich habe heute einen Vertrag unterschrieben."

„Oh, Mist", entfuhr es ihr und fuhr dann eindringlich fort. „Gut, dann muss es anders gehen. Hör mir gut zu. Zeige niemals jemandem diesen Zauberstab, nicht einmal dem Direktor. Übe heimlich. Ich werde dir einen echt aussehenden Spielzeugzauberstab geben, mit dem du in der Öffentlichkeit herumfuchteln kannst. Berühre niemals einen fremden Zauberstab, wenn es andere Augen sehen. Sollte es doch jemand sehen, komme sofort zu mir oder – wenn es nicht anders geht – geh zu Professor Dumbledore und erzähle ihm alles. Aber das nur als letzten Ausweg!

Gehe niemals in den Verbotenen Wald und wenn es sich doch nicht vermeiden lässt, töte darin nichts. Glaube nicht den Legenden und lass dir niemals einreden, dass es ein Schicksal gibt, das über dich bestimmt. Bleib ein guter Junge und achte auf deine Gefühle. Schreib mir, wenn du Fragen oder Antworten hast, doch nenn in deinen Briefen die Dinge nie beim Namen. Nenn mich Tante Glenn – das machen viele Kinder – und frag nach Fluchzaubern oder Tränken, die dich schlauer oder andere hässlich machen. Welchem Haus gehörst du eigentlich an?"

„Ravenclaw."

„Das ist gut. Sei fleißig, lass dir helfen und übe vor allem Verteidigungszauber, auch wenn sie nicht funktionieren. Deine Zauberkraft kann sehr plötzlich kommen und dann kann es passieren, dass du dieses Wissen sofort brauchst."

„Warum?"

„Zauberkraft manifestiert sich meist zum ersten Mal, wenn man sich selbst in Gefahr befindet. Du solltest vorbereitet sein."

Das kam alles so ernst aus ihr heraus, dass Tarsuinn sich wirklich Gedanken machte, ob er nicht doch lieber den Zauberstab bei ihr lassen sollte. Sie machte den Eindruck, als wäre sein Leben wirklich schon jetzt in großer Gefahr.

„Aber ich verstehe nicht, warum diese Lady Kondagion unbedingt diesen Zauberstab haben will. Kann sie denn nicht normal zaubern?"

„Doch das kann sie und zwar sehr gut. Aber sie nimmt sich, was sie bekommen kann, ohne Rücksicht auf die Verluste anderer. Was nicht nur finanziell gemeint ist! Ich vermute mal, sie verspricht sich Macht davon."

„Ist denn der Zauberstab so mächtig?"

„Ach – glaub doch nicht so was. Ein Zauberstab hat keine Macht. Nur der ihn führt. Ein besonders gut gefertigter Zauberstab ist niemals mächtiger als ein schlechter, er ist nur genauer oder anders gesagt, man hat mehr Kontrolle über die Feinheiten. Im Endeffekt hängt aber immer alles vom Zauberer oder der Hexe ab."

„Aber meiner ist doch anders."

„Anders – ja. Mächtiger – nein. Lass dich nicht von Träumen blenden. Du bist die Macht hinter dem Stab. Deine Grenzen sind seine Grenzen. Es ist die Andersartigkeit, die deine Magie vielleicht haben wird, welcheKondagions Gier geweckt hat. Doch inwieweit anders, das kann dir niemand sagen. Das musst du selbst herausfinden."

„Ich werd es versuchen", entschloss er sich. „Was muss ich Ihnen bezahlen?"

„Natürlich nichts", lachte sie fröhlich. „Ich bezahle gerade an dich eine alte Schuld meiner Familie und den falschen Zauberstab schenke ich dir, weil du ein netter Junge zu sein scheinst und ich heute ein tolles Geschäft gemacht habe."

„Ein tolles Geschäft? Ich dachte, Kondagion hat Sie betrogen?", fragte er neugierig.

„Das glaubt sie vielleicht", kam die belustigte Antwort. „Aber verrat mich nicht."

„Wie auch? Sie verraten mir ja anscheinend nicht, wie Sie gewonnen haben."

„Eine Frau braucht ihre Geheimnisse", sagte sie geheimnisvoll. „Aber ich denke es wird Zeit, dass du wieder in die Winkelgasse zurück kommst, oder nicht?"

Daran hatte Tarsuinn gar nicht mehr gedacht. Hektisch tastete er nach seiner Uhr. Es war schon nach zehn.

„Ich muss zurück. Hagrid sucht mich bestimmt schon."

„Ich werde dich am besten hinbringen. Nicht, dass du jetzt noch verloren gehst. Und den falschen Zauberstab dürfen wir nicht vergessen. Welche Farbe soll er denn haben?"

Sie brachte ihn wieder zurück in den Laden. Er suchte sich einen der falschen Zauberstäbe heraus. Zuerst wollte er einen schwarzen, doch nach etwas Überlegen gewann sein Verstand über das Herz und er bat um einen, der aussah, als hätte ihn Ollivander gefertigt.

Danach begleitete sie ihn bis zur Treppe, die hinauf zur Winkelgasse führte.

„So – bis hierher kann ich dich bringen. Sei vorsichtig und vielleicht kommst du Tante Glenn ja nächstes Jahr mal besuchen."

„Falls ich mich da noch an Euch erinnern kann, werde ich es tun", versprach er. „Es tut mir Leid, wenn ich zu Euch unhöflich war und möchte mich herzlich bedanken, dass Ihr mir geholfen habt."

„Wie schon gesagt – ich habe zu danken. Einzig deinen Namen würde ich gern wissen."

„McNamara heiße ich. Tarsuinn McNamara."

„Pass auf dich auf, Tarsuinn McNamara", sagte sie zum Abschied, dann drehte sie sich um und ging davon. Tarsuinn wollte ihr fast hinterherlaufen und nachfragen, warum sie in die Nokturnegasse zurückkehren musste. Sie schien ein Licht zu sein, das eigentlich gar nicht hierher gehörte. So freundlich…

Doch sie war schon aus seiner Hörreichweite verschwunden, bevor er sich entschloss irgendetwas zu rufen. Nachdenklich schlich er zurück in die Winkelgasse. Es war inzwischen auch hier kühl, da die Nacht die Sonne vertrieben hatte. Nicht weit entfernt hörte er fast sofort Hagrid, wie er einige Passanten nach Tarsuinn befragte. Der Wildhüter schien recht besorgt zu sein. Er holte Tikki aus ihrem Beutel und setzte sie unter der riesigen Kapuze des Umhangs neben seinen Kopf. Sie schien recht erfreut zu sein, endlich wieder etwas sehen zu können und wickelte ihren Schwanz fest um seinen Hals, als hätte sie beschlossen, sich nie wieder von seinem Kopf zu entfernen.

„Tikki", flüsterte er. „Wir müssen an Hagrid heimlich vorbei, zu dem Besenladen."

Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, als sie an Hagrid vorbeigingen. Der große Mann schien ehrlich in Sorge. Zwar hatte Tarsuinn ihm nicht versprochen, dass er in der Winkelgasse bleiben würde, doch ihm war durchaus bewusst, dass er den Eindruck erweckt hatte, auf Hagrid hören zu wollen.

Der Besenladen war zum Glück noch offen. Schnell stopfte er den Umhang in den Beutel und tat dann so, als würde er die Besen sehr bewundern. Natürlich war auch sofort wieder der Verkäufer bei ihm, der ihm diesmal versuchte klarzumachen, dass dieser spezielle, supertolle und einzigartige Rennbesen nur dieses Jahr so preiswert wäre. Wenn es ihm verboten wäre, den Besen mit nach Hogwarts zu nehmen, so könnte man doch schon jetzt dieses Sonderangebot für nächstes Jahr kaufen. Oder vielleicht einen gebrauchten Nimbus 2000? Letztes Jahr geflogen vom Sucher der schottischen Nationalmannschaft, David McLoud. Gut gepflegt und immer noch der beste Rennbesen, wenn man vom neuen Nimbus 2001 absah. Aber für die Schule bestens geeignet und sicher der Star jeder Mannschaft. Oder vielleicht…

„Ich wünsche bedient zu werden", unterbrach eine kontrollierte, leise und bedrohliche Stimme.

Tarsuinn fühlte, wie er und der Verkäufer fast gleichzeitig zusammenzuckten.

„Natürlich, Mr Malfoy. Verzeihen Sie, dass ich Ihr Kommen nicht bemerkte. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?"

Malfoy? Den Namen hatte Tarsuinn doch heute schon einmal gehört. War das nicht bei Mrs Glenndary gewesen?

„Ich bin hier wegen des Nimbus 2001", sagte die Stimme, die zu Mr Malfoy gehörte.

„Ich hoffe, Ihr werter Herr Sohn ist zufrieden mit seinem Kauf?", fragte der Verkäufer unterwürfig.

„Der Erfolg war nicht so überwältigend, wie erhofft", antwortete Mr Malfoy säuerlich.

„Für Sie werden wir natürlich gern den Besen umtauschen, wenn er schadhaft ist", wurde unterwürfig versichert.

„Sie verstehen mich falsch", kam die Antwort. „Ich bin hier, um sechs weitere Besen dieser Art zu kaufen."

Irgendwer im Laden ließ vor Überraschung, oder aus Zufall, etwas fallen, während die Stimme des Verkäufers sich plötzlich fast überschlug.

„Aber sicher doch! Sechs Nimbus 2001! Kein Problem."

„Bei einer solchen Menge erwarte ich einen guten Preis."

„Aber natürlich, Mr Malfoy. Für einen so treuen Kunden kann ich sicher zehn Prozent Nachlass gewähren."

„15!"

„Wenn Sie gestatten, dass ich den Besen aus dem Schaufenster mit einpacke? Natürlich wird er vorher noch einmal poliert."

„Ist mir gleich."

„Oh, danke, Mr Malfoy. Dann 15 Prozent. Ich werde schnell den einen reinigen und dann standesgemäß verpacken. Bitte warten Sie, es wird nur wenige Minuten dauern."

Der Verkäufer verließ den Raum in ein Hinterzimmer und wenig später war ein schleifendes Geräusch zu hören.

„Tarsuinn!", rief plötzlich Hagrid vorwurfsvoll von der Tür aus. „Hier versteckst du dich also."

„Ich versteck mich hier nicht, Hagrid", entgegnete Tarsuinn.

Was technisch gesehen ja keine Lüge war, schließlich war er hier, um sich finden zu lassen. „Ich wollte mir nur eventuell einen Besen kaufen."

„Du darfst doch gar keinen Besen als Erstklässler besitzen", erklärte ihm Hagrid überflüssigerweise.

„Das weiß ich Hagrid, aber der Verkäufer sagte…"

„…dass der Besen nur dieses Jahr so billig wäre", vollendete Hagrid. „Das stimmt auch, weil's nächstes Jahr hier bessere Besen für diesen Preis gibt. Das erzählen sie jedem Neuen. Fall doch darauf nich rein."

Der Verkäufer kam eben zurück in den Verkaufsraum.

„Aber ich hätte gern einen", beharrte Tarsuinn und fühlte sich dabei schlecht, weil er den Wildhüter so betrog.

„Das wollen alle Kinder", sagte Hagrid.

„Also wirklich", erklärte eben Malfoy dem Verkäufer lauter als nötig. „Als guter zahlender Kunde dachte ich, ich wäre hier in einem Laden, in dem man auf einen gewissen Standard bei der Kundschaft achtet."

Tarsuinn hörte Hagrid scharf einatmen.

„Wen meinen sie, Malfoy?", fragte Hagrid drohend.

„Ich meine den Zauberer, dem es verboten ist zu zaubern und der nur dank eines zu sentimentalen Mentors an unserer besten Schule bleiben darf."

„Ich werd keine Beleidigungen von Albus Du…"

„Oh, ich beleidige mitnichten den Schulleiter von Hogwarts!", betonte Malfoy ruhig. „Ich sorge mich nur um seinen guten Ruf. Ich mache mir Sorgen, dass einige seiner sentimentalen Entscheidungen ihm in schrecklicher Weise schaden könnten. Nun hat er auch noch ein echtes Muggelkind aufgenommen, wie ich hörte."

Ein empörtes Raunen ging durch die Kundschaft im Laden. Eine Reaktion, die Tarsuinn nicht sonderlich gefiel, ihn sogar etwas ängstigte. Was war denn so schlimm daran, dass er ein Muggel war?

„Professor Dumbledore glaubt nich, dass er nen Muggel ist", sagte Hagrid laut, so dass es jeder hören konnte. Tarsuinn war ihm dankbar dafür.

„Das mag sein", antwortete Malfoy, kam näher und plötzlich drückte sich ein kalter Knauf unter Tarsuinns Kinn und hob seinen Kopf nach oben.

„Bist du der Muggel?", fragte Malfoy abfällig.

Trotzig drehte Tarsuinn seinen Kopf zur Seite, um den Knauf von seinem Kinn zu bekommen.

„Ich wüsste nicht, dass Sie das etwas angeht", presste Tarsuinn hervor.

„Als Schulrat und Vater eines Schülers geht mich das durchaus etwas an. Ich würde es sehr bedauern, wenn der beste Schulleiter seit langer Zeit über einige seiner bemitleidenswerten Experimente stolpert."

„Sie lassen den Jungen…", sagte Hagrid.

„Lass Hagrid!", unterbrach ihn Tarsuinn schnell. Hagrid sollte keine Probleme durch ihn bekommen.

„Oh, anscheinend braucht es immer jemanden, um das Temperament des Wildhüters zu bremsen", höhnte Malfoy mit gleich bleibend monotoner Stimme. „Pass auf, kleiner Muggel, dass er dich nicht in einem Wutanfall zerbricht."

„Unwahrscheinlich, Sir", sagte Tarsuinn unbeherrscht durch seine zusammengebissenen Zähne. „Hagrid ist zu intelligent, als dass er etwas tut, was sie erfreuen könnte. Und er ist viel zu anständig, als dass er einen Streit vom Zaun brechen würde."

Vorsichtig ertastete er Hagrids Hand. Er war sich nicht sicher, ob die Beleidigung angekommen war und wie sie wirken würde, aber er wollte mitgezogen werden, sollte Hagrid plötzlich losrennen. Von diesem Malfoy ging ein so gefährliches Kribbeln aus, dass sich seine Haare sträubten.

Malfoy musste sich sehr tief zu ihm herunter gebeugt haben, denn als er dann sprach, flüsterte er nur und sein Atem brandete über ihn hinweg.

„Sei vorsichtig, wen du dir zum Feind machst, Muggel."

„Und ich würde nicht den Kopf direkt neben Hagrid senken, wenn er wirklich so gefährlich ist, wie Sie behaupten, Sir", flüsterte Tarsuinn zurück.

Das brachte ihm ein abfälliges Schnauben ein und ein wenig mehr Freiraum, da Malfoy etwas vor ihnen zurückwich.

„Hagrid? Können wir bitte gehen", bat Tarsuinn laut und sorgte dafür, dass einiges seiner Angst mit in seiner Stimme zu hören war. „Ich möchte doch keinen Besen kaufen."

Auf dem Weg nach draußen hörte er wie leise eine Frau murmelte: „Was Malfoy dem armen Jungen wohl gesagt hat, dass der soviel Angst hatte?"

In der Gasse wurde ihm erst bewusst, wie dumm er war. Mrs Glenndary hatte doch ständig gesagt, er solle vorsichtig sein, niemandem auffallen und so weiter. Und jetzt hatte er sich aus Zorn mit diesem Malfoy angelegt, der eine recht wichtige Persönlichkeit zu sein schien. Er konnte sich ohrfeigen. Seine Schwester wäre auch nicht sonderlich begeistert gewesen über seinen Mangel an Kontrolle.

„Es tut mir Leid, Hagrid", sagte er und klammerte sich fest an dessen Hand.

„Muss dir doch nicht Leid tun", sagte Hagrid. „Diesem Lucius Malfoy sollte es Leid tun."

„Ich glaube, er gehört zu den Menschen, denen niemals etwas Leid tut", sagte Tarsuinn traurig. „Aber hatte er Recht, als er sagte, ich würde Professor Dumbledores Ansehen in Gefahr bringen?"

Tarsuinn vermied es zu erwähnen, dass der Hauptangriff Malfoys auf Hagrid gezielt hatte.

„Hör niemals nich auf Lucius Malfoy", erklärte ihm Hagrid eindringlich. „Wenn Professor Dumbledore etwas in dir sieht, dann is da was. Glaub daran. Als sie meinen Zauberstab zerbrochen haben, da dachte ich auch, ich wäre ein Nichts. Ich hab mich meiner geschämt, obwohl ich nichts verbrochen hatte. Ich gab allen Recht, die sagten, dass aus mir nichts werden konnte. Doch dann kam Albus Dumbledore zu mir.

Hagrid, sagte er. Hagrid, ich brauche einen Mann mit Mut, Kraft und Intelligenz. Der Posten als Wildhüter muss besetzt werden und ich habe Direktor Dippet überzeugt, dass du der beste Kandidat für diese Arbeit bist. Ich werde nichts anderes als ein Ja von dir als Antwort akzeptieren.

Hat dann zwar noch mehr gesagt, aber das hab ich vergessen und ich hab den Posten übernommen. Hab ihn nie enttäuscht, weil ich immer versucht habe, seinem Vertrauen gerecht zu werden."

Tarsuinn wusste nicht, was er daraufhin sagen konnte. Inzwischen war die Liste der Personen, die auf ihn zählten, recht lang geworden und er trug eine Verpflichtung mit sich herum, die er nicht wollte.

„So – wo hast du jetzt dein ganzes Zeug?", unterbrach Hagrid sein Nachdenken.

„Bei Madame Malkin."

„Hast du einen Zauberstab bekommen?"

„Ja", sagte er und zeigte Hagrid den falschen.

„Dann ist ja gut. Es gibt sicher wen, der schon hoffte, du würdest keinen finden."

„Niemand scheint hier Muggel zu mögen", beschwerte er sich leise.

„Das ist von den meisten nicht bös gemeint, außer vielleicht von Malfoy und Pro…", erklärte Hagrid „…ähem – ignorier das."

„Was denn, Hagrid?", fragte Tarsuinn unschuldig.

„Na das mit…ahh, verstehe", lachte Hagrid. „Bist ein fixer Junge."

„Ich geb mir Mühe", lachte er auch und fand es zum ersten Mal gar nicht so schlecht, wenn jemand anderes als seine Schwester ihn an der Hand führte.

Sie holten sein Zeug bei Madame Malkin ab, die nette Frau hatte ihm sogar seine Bücher besorgen lassen, und dann beeilten sie sich, zum Kamin zu kommen. Da es schon nach elf Uhr war, reisten sie unverzüglich mit dem Flohpulver zurück in Die Drei Besen.

Tarsuinn musste Hagrid Recht geben – beim zweiten Mal war die Reise nicht gar so schlimm. Wenn man davon absah, dass er wieder einige Zeit brauchte, um klar im Kopf zu werden.

„Du bringst ihn spät zurück", wurden sie vorwurfsvoll von Madame Rosmerta empfangen.

„Es ist meine Schuld", beeilte sich Tarsuinn zu versichern. „Ich habe mich ein wenig zu sehr von den tollen Sachen da gefangen nehmen lassen."

Doch Madame Rosmerta schien unbedingt ein Haar in der Suppe finden zu wollen.

„Ich hoffe, er meint das nicht wörtlich, Hagrid?", entfuhr es ihr energisch. Tarsuinn stellte sich das so vor, dass sie eben die Hände in die Hüfte stemmte und böse Richtung Decke schaute, in deren Nähe ungefähr Hagrids Kopf sein musste.

„Nein, ganz sicher nicht Rosmerta. Er war bei den Rennbesen und ich hab ihn übersehen", erklärte Hagrid geknickt.

„Ach, und ein zu ausgedehnter Besuch im Tropfenden Kessel hat nichts damit zu tun?", vermutete sie gar nicht mal zu Unrecht.

„Haben da nur zu Mittag gegessen, wirklich", verteidigte der Wildhüter sich.

„Und wie lange?"

„Wissen Sie, Madame Rosmerta", unterbrach Tarsuinn das Verhör. „Das ist schon so lange her…"

„Was? Willst du damit sagen, ihr habt noch nicht mal zu Abend gegessen?", ließ sie sich sofort ablenken.

„Ich hab's irgendwie vergessen", redete Tarsuinn sich heraus.

„Das ist ja die Höhe. Kommt ihr beiden, setzt euch hin. Ich mach euch noch schnell was aus den Resten."

„Aber Rosmerta, wir müssen zurück zum Schloss", protestierte Hagrid.

„Nichts da. Dort ist die Küche schon kalt und ihr seid eh sehr spät dran. Ihr wartet jetzt auf das Essen und ich schick eine Eule rauf, damit sich niemand Sorgen macht."

Sie stellte ihnen etwas zu trinken hin und dann verschwand sie in der Küche.

„Herzensgute Frau", flüsterte Hagrid, kaum dass sie weg war. „Aber mag keinen Widerspruch."

Tarsuinn biss sich in die Faust vor Lachen.

„Ja, das hätten alle Leute sehen müssen. Der große gefährliche Hagrid… Setz dich, sei still und wart auf dein Essen!"

„Für Rosmertas Essen tu ich fast alles", lachte auch Hagrid verhalten.

„Sie ist eine nette Frau."

„Oh ja – das ist sie."

„Seid ihr ineinander verliebt?", erkundigte Tarsuinn sich.

Hagrid musste gerade getrunken haben, denn er verschluckte sich furchtbar und hustete.

„Wie kommst du denn darauf?", krächzte er heiser.

„Na ja – weil sie dich so rumkommandiert."

„Sie kommandiert jeden rum."

„Ach, das ist also deine Meinung von mir", sagte Rosmerta und stellte dem Wildhüter etwas hin, was nach gebratenem Kaninchen roch.

Tarsuinn konnte sich wieder ein Lachen nicht verkneifen. Er hatte gewusst, dass sie hinter Hagrid stand.

„Und du junger Mann, solltest dich etwas schämen, den armen Hagrid so in die Falle zu locken."

Sie gab Tarsuinn einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. Dann bekam auch er etwas köstlich Riechendes vor die Nase gesetzt.

„Und jetzt esst!", sagte Madame Rosmerta und setzte sich zu ihnen.

Es schmeckte hervorragend. Fast wie bei seiner Schwester und deutlich besser als alles, was er je im Waisenhaus bekommen hatte. Hungrig schlang er alles herunter, nicht ohne ständig von Madame Rosmerta ermahnt zu werden, er solle sorgsamer kauen.

Kurz vor Mitternacht verabschiedeten sie sich dann von ihr und bedankten sich sehr für die Hilfe und das Essen. Er bedauerte, dieses Jahr nicht wieder nach Hogsmeade zurückkehren zu dürften, denn laut Hagrid war es zu spät, um sich noch eine von den tollen Sachen im Dorf anzuschauen.

Eine Stunde später erreichten sie dann endlich wieder Hogwarts. Hagrid hatte fast Tarsuinns gesamtes Zeug getragen, während er nur die zerbrechlichen leichten Sachen bei sich hatte.

„Da seid ihr ja endlich", begrüßte sie Penelope Clearwater, die Vertrauensschülerin, in der Eingangshalle. „Ich warte schon fast eine halbe Stunde. Ich soll Tarsuinn in unseren Turm bringen."

„Na, dann denk ich mal, kann ich mich in meine Hütte verdrücken", freute sich Hagrid und stellte die Sachen ab.

„Danke für deine Hilfe, Hagrid", sagte Tarsuinn ehrlich. „Und vor allem für deine Worte, du weißt schon welche."

„Aber immer doch. Kannst mich ja mal besuchen, wenn dir danach ist. Freu mich immer, wenn Schüler mal vorbeisehen."

„Werd dran denken, Hagrid."

„Na dann – gute Nacht."

Hagrid drückte ihm vorsichtig die Hand, dann stampfte er davon.

„Können wir?", fragte Penelope ungeduldig. „Es ist schon spät."

„Natürlich."

Er machte sich daran, sein ganzes Gepäck einzusammeln.

„Aber nicht doch", hielt Penelope ihn zurück.

Wingardium Leviosa", sagte sie.

„Was passiert jetzt?", fragte er neugierig.

„Deine Sachen schweben", erklärte das Mädchen stolz.

Tarsuinn tastete nach seinen Sachen – und wirklich, alles befand sich weit über dem Boden in der Luft. Ohne irgendein Seil.

„Das muss ich unbedingt auch lernen", staunte er.

„Einfache Übung", wehrte sie ab. „Kann jeder am Ende der Ersten Klasse, zumindest mit leichten Sachen."

Dann führte sie ihn über Treppen, welche die Richtung änderten, in einen ihm bisher unbekannten Flügel des Schlosses.

„Das Passwort holde Maid", ertönte plötzlich eine ehrfurchtserweckende Stimme, die irgendwie ein wenig wie ein Adlerschrei klang.

Aquila volatus!", antwortete Penelope und da, wo das Schloss Tarsuinn bisher hatte eine Wand spüren lassen, öffnete sich ein Durchgang durch den sie hineingingen.

„Das hier ist der Ravenclaw Gemeinschaftsraum", erklärte die Vertrauensschülerin. „Unser heiliges Refugium. Hier haben nur Ravenclaws, Professor Flitwick und Professor Dumbledore Zutritt. Letzteren habe ich jedoch noch nie hier gesehen und auch Professor Flitwick kommt nur ganz selten vorbei. Du kannst hier lernen, Hausaufgaben machen oder deine Zeit mit den anderen verbringen. Ansonsten geht es hier rechts nach oben und unten zu den Mädchenschlafräumen. Denk nicht mal dran da hinzugehen."

„Warum sollte ich?", fragte er. Was gingen ihn denn die Schlafräume der Mädchen an?

„Ist eine Warnung eher für später", sagte sie nur. „Links geht es zu den Jungen. Komm – du schläfst ganz oben. Aber sei leise, damit wir die anderen nicht wecken."

„Die anderen?", fragte er leise. „Kann ich nicht irgendwo allein schlafen?"

„Nein, wir schlafen immer zu viert in einem Raum. Schämst du dich etwa?"

„Das nicht, aber ich schnarche manchmal sehr laut", log er.

„Wenn dem so ist, dann geh morgen zu Madame Pomfrey. Sie kann das kurieren. Ist nur ein kleiner Zaubertrank."

„Ähem – ja, danke für den Tipp."

„Jetzt aber leise."

Sie waren nach mehreren Wendeltreppen endlich oben angelangt.

„Die Tür da führt zum Waschraum, die zur Toilette und die…", Penelope öffnete leise eine Tür und ließ sein Zeug hineinschweben, „…führt zum Schlafraum."

„Das hier ist dein Bett", flüsterte sie drinnen. „Das dein Schrank, Kiste, Stuhl, Lampe usw. Deinen Rucksack habe ich heute Nachmittag schon rauf gebracht. Richtig ansehen kannst du dir alles morgen. Du wäschst dich jetzt schnell und siehst zu, dass du schnell schläfst. Morgen früh ziehst du deine Hogwartsuniform an und bleibst immer in der Nähe deiner Klassenkameraden. Deinen Stundenplan findest du in der obersten Schublade deines Nachttisches. Und wenn du morgen Schluss hast, holst du den Stoff nach, den du heute verpasst hast. Alles klar?"

„Ja."

„Dann eine gute Nacht", verabschiedete sie sich und ging auf Zehenspitzen hinaus.

Tarsuinn tat, wie ihm geheißen. Er wusch sich, zog einen Schlafanzug an und dann legte er sich ins Bett zum Schlafen. Obwohl das Bett ungeheuer weich und kuschelig war, konnte er sich doch nicht entspannen. Er lauschte den drei regelmäßigen Atemzügen und wünschte sich, er könne auch so friedlich schlafen.

Tarsuinn stand wieder auf, holte seinen Schlafsack hervor und ging leise in den Gemeinschaftsraum hinunter. Dort suchte er sich hinter einem breiten Sofa ein weiches Stück Teppich und legte sich schlafen. Wenn er schon in vier bis fünf Stunden schreiend aufwachte, mussten ja nicht unbedingte seine Mitbewohner darunter leiden.

Kurz bevor ihm die Augen zu fielen – etwas was er jeden Abend mehr fürchtete als alles andere – streichelte er noch einmal seine kleine Tikki.

„Das war doch heute ein wirklich schöner und aufregender Tag, nicht wahr, Tikki?", brummte er und bekam ein herzhaftes Gähnen zur Antwort. Dann entfernte sich Tikki von ihm. Sie schlief niemals in seiner Schlagreichweite, aus beidseitig schmerzhafter Erfahrung.

Und so schlief er, seit langer Zeit wieder einmal, mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ein Lächeln, das jedoch recht bald wieder verschwand.

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