- Kapitel 10 -
Alles über Träume
Toireasas Wecker schrillte schon um sieben Uhr. Eine Uhrzeit, die ihr einige böse Worte der anderen Mädchen einbrachte. Schließlich war es Sonntag.
Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Leise machte sie sich fertig und ging dann nicht zum Frühstück, sondern Richtung Krankenflügel. Sie hatte einen perfekten Plan, wie sie um acht Uhr anwesend sein konnte, ohne auffällig zu wirken.
Nun ja – der Plan mochte perfekt sein, aber auch recht schmerzhaft. Etwas zittrig holte sie ihr schärfstes Messer hervor und hielt die Schneide an die linke Handfläche. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, dann zog sie das Messer schnell nach unten weg. Komisch! Es tat gar nicht weh. Sie öffnete die Augen und ihr wurde ganz anders. Sie hätte nicht ihr schärfstes Messer nehmen sollen, dachte sie. Der Schnitt war viel tiefer als gewollt und blutete sehr stark. Und jetzt, nachdem sie die Bescherung gesehen hatte, durchfuhr sie auch ein höllischer Schmerz. Sie steckte das Messer weg, holte ein großes, weißes Taschentuch hervor und presste es auf die Wunde. Als sie sich vor dem Schlafengehen diesen hirnrissigen Plan ausgedacht hatte, hatte sie das weiße Taschentuch eingeplant, damit es besonders schlimm aussah. Jetzt, in der Praxis, musste sie mit einer aufsteigenden Übelkeit kämpfen.
Schnell lief sie zum Krankenflügel. Sicher würde sich der Hausmeister furchtbar über die Blutspur aufregen, wenn er sie entdeckte. Doch das war Toireasa völlig egal. Zum einen, weil die Hand mit jedem Herzschlag mehr zu schmerzen schien und zum anderen, weil sie sich die ganze Zeit fragte, wie sie nur auf diese bescheuerte Idee gekommen war.
Das Tuch zeigte keine Spur von weiß mehr, als Toireasa endlich den Krankenflügel erreichte. Madame Pomfrey war gerade dabei, Fieber bei dem Muggel zu messen, stand aber sofort auf, als sie Toireasas blutende Hand sah.
„Sofort da hinsetzen", befahl sie und ging schnell zu einem Schrank, aus dem sie die nötigen Verbandswerkzeuge und eine Schüssel hervor holte.
Dann ließ sie sich die Hand zeigen, aus der noch immer viel Blut quoll, direkt in die Schüssel, die Toireasa nun auf ihrem Schoß hatte.
„Sehr tiefer Schnitt", kommentierte die Schwester, während sie die Wunde reinigte. „Wie ist das denn passiert?"
„Ich hatte meine Messer gestern geputzt, über Nacht zum Trocknen aufgestellt und hab heut morgen nicht mehr daran gedacht. Ich Idiot hab voll rein gegriffen."
„Ja – eine Dummheit kann man das wirklich nennen! Nächstes Mal fällt jemand rein. Muss denn erst etwas Schlimmeres passieren, bevor ihr Kinder eure Messer im Schutzgitter trocknet oder gleich ein Tuch benutzt?"
„Ich bedaure es wirklich aufrichtig!", presste Toireasa zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Reinigen der Wunde tat höllisch weh.
„Das sollte Ihnen eine Lehre sein. Eine Narbe werden Sie wahrscheinlich davon zurückbehalten! Aber keine Angst, nur eine sehr schmale."
Die Krankenschwester zeigte mit dem Zauberstab einmal auf die Wunde, murmelte ein paar Worte und die Verletzung schloss sich ein gutes Stück, aber nicht vollständig.
„Ahnte ich es doch", kommentierte die Schwester. „Das wird jetzt etwas ziehen."
Eine dicke Salbe wurde auf den Schnitt geschmiert. Toireasa hatte gedacht, das Reinigen hätte wehgetan, doch das war noch viel schlimmer. Sie konnte diesmal einen leisen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Doch das Gefühl schwand recht schnell wieder und eine angenehme Taubheit blieb zurück. Außerdem hatte es endlich aufgehört zu bluten. Sorgsam verband Madame Pomfrey nun ihre Hand mit einer langen weißen Mullbinde.
„Morgen früh sind Sie wieder hier. Dann wechseln wir den Verband und übermorgen sollte alles in Ordnung sein."
„Danke, Madame Pomfrey", sagte Toireasa höflich, stand auf, und obwohl sie sich schon besser fühlte, tat sie so, als würde sie das Gleichgewicht verlieren. Sofort wurde sie wieder in den Stuhl bugsiert.
„Na – da ging wohl ein wenig zuviel Blut verloren", sagte die Schwester. „Bleiben Sie hier ruhig sitzen. Ich lass etwas zu essen und trinken bringen, dann geht es Ihnen bald wieder besser."
Die Frau ging zu einer Kordel neben der Eingangstür, zog daran und bestellte Obst, Honigbrötchen und Kakao. Keine Minute später materialisierte ein großer Teller und eine noch größere Tasse auf einem Tisch neben der Schwester, die das alles zu Toireasa brachte. Diese bedankte sich artig und begann langsam, die reichlich bemessene Mahlzeit zu verspeisen. Jetzt musste sie nur ein wenig Zeit schinden.
Was sie jedoch gar nicht brauchte. Es war noch lange nicht acht Uhr, als plötzlich lautes Fußgetrappel vom Korridor zu hören war und Augenblicke später der Mungo, gefolgt von einer Herde Ravenclaws, hereintrampelte. Toireasa kannte alle ihre Namen von ihren Nachforschungen. Innerlich fluchte sie, denn das konnte jetzt ziemlich ins Auge gehen.
Die Ravenclaws sahen den Muggel bleich in seinem Bett liegen, sahen sie mit einer verletzten Hand – da zog sicher jemand den falschen Schluss.
„Madame Pomfrey – was ist mit ihm passiert?", fragte ein Junge, der auf ihren Notizzetteln als Merton Philips auftauchte.
„Wenn die…", die spezielle Freundin – Winona Darkcloud – deutete auf Toireasa und zog ihren Zauberstab, „…etwas damit zu tun, dann ist sie dran."
„Steck den Stab weg!", befahl Madame Pomfrey sofort rabiat. „Tarsuinn ist schon seit gestern hier, sie kam erst heute Morgen!"
Zögerlich nur verschwand der Stab wieder im linken Ärmel des Umhangs. Rechtshänderin, notierte Toireasa im Kopf.
„Was Ihren Freund betrifft. Er hat sich gestern nur im Regen stark unterkühlt, aber wenn er in zwei Stunden erwacht, wird es ihm schon wieder sehr gut gehen. Geht doch einfach essen und kommt nachher wieder."
„Aber warum?", wollte ein Junge wissen – Ian Fawcett, wie Toireasa sich erinnerte. Eigentlich kein sehr enger Freund des Muggels.
„Gehen Sie doch einfach zu Hagrid, der kann es Ihnen erzählen", versuchte die Schwester sie hinauszubefördern. Doch die Ravenclaws schienen kein Interesse daran zu haben. Sie umschwärmten Madame Pomfrey und fragten – mit Seitenblick auf Toireasa – ob sie eventuell irgendwelche Fluchspuren bemerkt hätte.
Nur Luna Lovegood – ein Mädchen, das selten mit mehr als einer Person gleichzeitig sprach – war still geblieben, hatte die Decke am Kopfende ein wenig angehoben und schaute sich Tarsuinn darunter forschend an. Ein wenig, als würde sie ein Studienobjekt betrachten.
Irgendwann gebot Madame Pomfrey Ruhe, begleitet von der Drohung, alle Ravenclaws rauszuwerfen.
Sofort war Stille – und die nutzte Luna Lovegood.
„Hat er einen Schlaftrunk bekommen?", fragte sie leise, fast abwesend.
„Natürlich!"
„Sie müssen ihn sofort wecken!", verlangte das Mädchen.
„Was muss ich?!", fragte die Krankenschwester ungehalten.
„Sie müssen ihn wach machen!", beharrte Lovegood. „Er darf nicht so lange träumen."
„Dank des Trankes hat er keine Träume", stellte Madame Pomfrey klar. „Das ist…"
„Schauen Sie doch selbst", unterbrach das Mädchen und zog die Decke ein Stück herunter.
Toireasa saß zu ungünstig, um einen Blick erhaschen zu können, aber die Besorgnis auf dem Gesicht der Krankenschwester sprach Bände.
„Das sollte nicht sein", stammelte sie überrascht.
„Wecken Sie ihn!", verlangte jetzt auch Darkcloud.
„Das kann ich nicht", sagte die Schwester hilflos, doch dann fasste sie sich wieder.
„Sie!", sie deutete auf Fawcett. „Schauen Sie, ob Professor Dumbledore schon zurück ist und holen ihn hierher, wenn ja."
„Sie!", jetzt war Merton Philips dran. „Zu Professor Flitwick und wenn er nicht da ist, gehen Sie zu Professor Snape. Los!"
„Der Rest verschwindet entweder, oder setzt sich ruhig dahin", die Schwester wies auf Toireasas Ecke „Und sollten Sie Ärger machen, dann befindet sich Ihr Haus innerhalb von Sekunden auf null Punkten. Verstanden?"
Leise murrend kamen die Ravenclaws zu Toireasa hinüber. Der übrig gebliebene Junge – Alec Lancaster, ein Junge aus einer Familie, die alle Personen aus dem Haus Slytherin offen hasste, nahm sich einfach ein Honigbrötchen von Toireasas Teller und starrte sie herausfordernd an. Doch sie hatte keinen Bedarf nach Streit. So setzten sich alle neben Toireasa, einen Stuhl Platz lassend, und unterhielten sich flüsternd. Sie tat so, als würde sie das alles nicht interessieren, aber in Wirklichkeit lauschte sie angestrengt.
„Warum wollen wir eigentlich, dass Tarsuinn aufwacht?", fragte Darkcloud.
Lovegood warf Toireasa einen wachsamen Blick zu und schüttelte dann nur den Kopf.
„Es ist wichtig!", flüsterte sie, nichts erklärend. Das andere Mädchen verstand.
„Was machen wir mit dem Verursacher, wenn herauskommen sollte, dass es kein Unfall war?", fragte Lancaster gut hörbar und gehässig.
„Eiterbeulen", schlug Darkcloud sofort vor.
„Geschmacks-Fluch", steuerte Cassandra Sheara bei.
„Beinklammer-Fluch und im See versenken", steigerte Lancaster.
Luna sagte nichts.
„Dazu müsste man die Flüche erst einmal können", provozierte Toireasa stattdessen ungerührt. Sie fing sich einige mörderische Blicke ein.
„Wir würden sie extra dafür erlernen", sagte nun doch noch Lovegood.
„Sagte ich nicht Ruhe?!", bellte Madame Pomfrey genervt, was das geflüsterte Gespräch verstummen ließ. Toireasa aß in aller Ruhe ihr Obst, während die anderen wie auf Kohlen da saßen.
Zehn Minuten vergingen, in denen der Muggel sich immer heftiger unter seiner Decke bewegte. Ab und zu kam ein leises, angstvolles Stöhnen über seine Lippen. Dann trat plötzlich Professor Dumbledore aus dem Kamin.
„Probleme, Madame Pomfrey?", fragte er ein wenig besorgt.
„Ja, er träumt trotz des Traumloser-Acht-Stunden-Schlaf-Trank und zwar offensichtlich einen immer schlimmer werdenden Alptraum."
„Das sollte so schlimm nicht sein", kommentierte Dumbledore sinnend. „Ihn zu wecken, könnte mehr Probleme machen."
Luna Lovegood war aufgestanden, nachdem sie den anderen bedeutet hatte sitzen zu bleiben, und war selbst zu Professor Dumbledore getreten.
„Er hat jede Nacht Alpträume, Professor!", mischte sich das Mädchen leise ein und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Und er wacht immer nach spätestens vier Stunden und elf Minuten auf."
Das schien nun doch auch dem Professor zu denken zu geben. Eine Weile schaute er forschend in die Augen des Mädchens, dann wandte er sich Madame Pomfrey wieder zu.
„Wie lange schläft er schon?", fragte er.
„Fast sieben Stunden", kam die Antwort nach einem kurzen Blick auf die Uhr.
Dumbledore schien recht unzufrieden mit dieser Antwort und trat zum Bett des Muggels. Er zog die Decke vom Kopf des Jungen, deutete mit dem Zauberstab auf dessen Kopf und murmelte eine sehr lange Zauberformel.
Für einen Moment geschah gar nichts und es war so still, dass man die Atemzüge jeder einzelnen Person hören konnte, doch dann durchfuhr ein markerschütternder Schrei den Saal. Mit einem Ruck richtete sich der Muggeljunge auf und schrie, als wäre er eine Banshee. Absolute, unbeherrschte Panik war in sein Gesicht geschrieben. Nach mehreren Augenblicken drückte er die Hände auf seine Ohren und biss durch die Bettdecke in sein Knie. Das dämpfte seine Schreie ein wenig. Doch sein Körper zuckte und sein Brustkorb pumpte immer weitere Luft aus seinen Lungen.
Es war entsetzlich. Eine Aura der Angst lag unheimlich dick in der Luft. Toireasa hatte das Gefühl, von ihr zusammengedrückt zu werden, und sie war sich sicher, niemals wieder den Anblick und die Schreie vergessen zu können.
Erst als das Gebrüll langsam in ein leises Wimmern überging, schaffte es Toireasa ihren Blick loszureißen und die anderen Anwesenden zu betrachten. Auch sie schienen geschockt zu sein, selbst Madame Pomfrey und Professor Dumbledore rührten sich keinen Fingerbreit.
Dann – als auch das Weinen nachließ, konnte Toireasa ein leises: „Kontrollier dich, Tarsuinn. Nur ein Traum, es war nur ein Traum", hören, das immer wieder von dem Muggel wiederholt wurde.
Professor Dumbledore bedeutete still allen Schülern, sofort und leise den Saal zu verlassen. Niemand diskutierte darüber.
Schweigend ging Toireasa davon, sie achtete nicht auf die Ravenclaws, da sie über McNamara nachdachte und was er wohl Schlimmes, Nacht für Nacht erleben musste. Das stellte sich als schwerer Fehler heraus. Sie war gerade erst zwei Korridore weit gekommen, als mehrere Flüche in ihrem Rücken einschlugen. Zuerst traf sie ein Beinklammer-Fluch, der sie schwer mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlagen ließ und danach noch einige andere. Ihre Nase blutete und als sie es schaffte den Kopf ein wenig zu heben, sah sie, dass ihr gesamtes Kopfhaar neben ihr liegen blieb. Ein Knie legte sich in ihren Rücken, eine Hand drückte ihren Kopf auf den Boden und ein Mund kam ganz nah an ihr Ohr.
„Selbst wenn du das heute nicht warst…", flüsterte eine Mädchenstimme so leise, dass sie diese nicht erkennen konnte, „…nimm es als Warnung und für alles, was ihr ihm in den letzten Wochen angetan habt. Lasst Tarsuinn in Ruhe! Oder aber ihr bekommt eine Menge Ärger."
Dann wurde Toireasa losgelassen und sie hörte, wie sich schnelle Schritte entfernten. Sie drängte die Tränen zurück. Ihr Nase blutete und ihr linkes Auge schwoll langsam zu. Alle ihre Kopfhaare waren ausgefallen. Statt Eiterbeulen hatte sie nur unzählige Pickel auf der gesamten Haut. Als der Beinklammer-Fluch langsam nachließ, rappelte sie sich auf und ging zurück zum Krankenflügel. Sie weinte nicht, dafür war keine Zeit. Rachepläne forderten ihre gesamte Energie.
Tarsuinn schaffte es nur langsam, sich unter Kontrolle zu bringen. Der Schmerz seiner Fingernägel an seinen Ohren half ihm dabei. Doch die Schatten seines Traumes waren immer noch da und weigerten sich zu gehen. Er konnte sie in seiner persönlichen Dunkelheit sehen. Sie warteten nur darauf, dass er die Augen schloss, um wieder Besitz von ihm zu ergreifen. Er wusste gar nicht sicher, ob er denn nun wirklich wach war oder ob sein Traum in die reale Welt Einzug gehalten hatte. Und so wehrte er sich vehement, als irgendwer ihm die Hände von den Ohren zog. Doch als man sie dann auf ein weiches, brummendes Etwas legte, entspannte er sich etwas. Tikki, drängte sich der Name in sein Gehirn und der logische Teil davon argumentierte, dass Tikki niemals in seinen Träumen vorkam. Also musste er wohl wach sein. Sanft strich er durch das Fell und es beruhigte ihn. Dieses kleine Fellbündel stellte seinen Anker in die normale Welt dar. Es störte ihn auch nicht mehr, dass jemand sich um die aufgerissene Haut an seinen Ohren kümmerte.
Eine Hand strich sanft über seinen Kopf.
„Es ist vorbei, Tarsuinn", sagte die ebenso sanfte Stimme Professor Dumbledores.
„Es ist nie vorbei", hörte er sich sagen und Bilder stiegen in seinem Kopf auf.
„Sie haben einen unterarmlangen weißen Bart und weiße Haare", sagte Tarsuinn dann leise. „Einen schwarz-weinroten Umhang und einen spitzen Hut mit ganz kleinen goldenen Sternen."
Dumbledore sagte nichts. Tarsuinn konnte nicht anders, als weiter zu reden.
„Sie sind groß, stark und stehen in einem feuerbeleuchteten Saal. Ihr linkes Bein blutet und der linke Arm ist halb verbrannt. Sie wollen töten. Zu Ihren Füßen liegt eine regungslose Gestalt…Sie werden mich töten! Sie…"
Tarsuinn zuckte vor der streichelnden Hand zurück und wollte aus dem Bett klettern, doch wieder verhinderten dies starke Hände.
„Ich will dich nicht töten, Tarsuinn. Ganz ruhig. Ein böser Traum. Nichts weiter. Vertrau mir!"
Seine Stimme hatte solche Macht! Langsam gab Tarsuinn seinen Widerstand auf. Sein logischer Verstand übernahm wieder ein wenig mehr die Herrschaft über seinen Kopf und er begriff langsam, wie falsch seine Erinnerungen aus dem Traum waren. Professor Dumbledore war kein eiskalter Killer und auf Tarsuinn hatte er es sicher nicht abgesehen, das waren andere Menschen.
Genauso wie er unablässig Tikki streichelte, fuhr ihm Dumbledore durchs Haar und vertrieb langsam die Schatten. Irgendwann lehnte sich Tarsuinn dann an den starken Mann an. Ja – Dumbledore hatte einen langen Bart, aber er war viel länger, als in seinem Traum. Nach einer Weile schloss Madame Pomfrey eine Art Vorhang rund um Tarsuinns Bett und dann hörte er, wie sie einen weiteren Patienten verarztete.
Tarsuinn konnte nicht sagen wie viel Zeit verging, bevor er es über sich brachte, sich von Dumbledore zu lösen.
„Es geht mir jetzt wieder gut", sagte er mit rauer Stimme.
„Sicher?"
„Ja!"
„Willst du mir heute einige Fragen beantworten?", fragte der Professor.
„Wenn ich kann", flüsterte Tarsuinn zur Antwort.
„Madame Pomfrey hat mir erzählt, Hagrid hätte dich bewegungslos im Regen stehend gefunden. Hat man dich angegriffen?"
Erinnerungen an den gestrigen Abend durchfluteten seinen Kopf und ein Lächeln fand den Weg zu seinen Lippen.
„Nein. Ganz bestimmt nicht."
„Was war es dann?", erkundigte sich Dumbledore.
„Die Lieder", antwortete Tarsuinn verträumt.
„Kannst du das näher erklären? Welche Lieder?"
„Nachdem ich bei Hagrid war, habe ich die beiden schönsten Lieder meines Lebens gehört", erzählte er, bei der Erinnerung lächelnd. „Sie kamen aus dem Wald, doch da durfte ich ja nicht rein. Also habe ich nur einen Moment gelauscht. Es war so unglaublich schön und so warm. Als Hagrid mich dann anfasste, hatte ich das Gefühl, er würde alles Leben aus mir heraussaugen. Ist das möglich? Ist er ein Vampir?"
„Nein, ist er ganz sicher nicht. Wahrscheinlich hat er dich sogar vor dem Tod bewahrt. Ich vermute, du hast stundenlang im kalten Regen gestanden und es nicht bemerkt. Kannst du eventuell die Lieder beschreiben."
„Nein…ja…vielleicht. Es war als…es war als ob zwei Musiken gegeneinander anspielen und doch gleich sind. Eine glockenhell und verlockend, die andere dunkel und traurig. Ich wollte beide viel lauter hören, aber man darf ja nicht in den Wald."
„Du bist dir sicher, dass dies keine Bezauberung von einem deiner Mitschüler war?"
„Ich habe niemanden einen Zauber sprechen hören. Aber ich verstehe nicht…"
Er versuchte sich noch mal genau zu erinnern.
„Was?", drängte Dumbledore nach einer Weile.
„Ich verstehe nicht, warum ich Tikki weggeschickt habe? Ich hatte das Gefühl, dass es für sie gefährlich wäre bei mir zu bleiben."
„Vielleicht war dem auch so."
„Aber ich hatte keine Angst. Ich glaub, zum ersten Mal in meinem Leben war ich vorbehaltlos glücklich."
„Es gibt Wesen, die dich mit einem solchen Gefühl ins Verderben führen, Tarsuinn. Du solltest vorsichtig sein und dich am besten vom Wald fern halten. Okay?"
Tarsuinn nickte zögerlich. Sein Innerstes wollte die Musik erneut hören. Doch sein Verstand riet ihm, auf den Professor zu hören.
„Waren das Sirenen?", fragte er.
„Möglich, ich werde Hagrid das prüfen lasse. Wenn wir Sirenen hier haben, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Schüler mit weniger gutem Gehör betroffen sein werden."
Wieder blieb Tarsuinn eine Weile still, dann hielt er es nicht mehr aus.
„Professor?"
„Ja?"
„Stimmte meine Beschreibung Ihres Aussehens?", fragte er mit zittriger Stimme und fürchtete die Antwort.
„Heute nicht mehr, aber in der Vergangenheit konnte man deine Beschreibung durchaus korrekt nennen", sagte Dumbledore schlicht und seine Stimme war leicht abwesend und schien selbst aus alten Zeiten zu kommen. „Es war lange vor deiner Zeit."
„Wie kann ich dann träumen…?", begann er und verstummte für eine Weile. „Warum heute?"
„Zur ersten Frage haben ich keine sichere Erklärung", antwortete der Professor. Seine Worte klangen sorgfältig gewählt. „Es kann sein, dass du das Zweite Gesicht hast und du in meine Vergangenheit geblickt hast. Vielleicht träumst du den Traum von jemand anderem oder dein Geist reagiert zu sensibel auf die Ängste deiner Mitmenschen. Ich weiß es nicht. Noch nicht.
Doch deine zweite Frage kann ich beantworten. Es betrifft die Natur eines Alptraumes. Egal, wie schlimm ein solcher Traum auch ist, du wachst nicht an der schlimmsten Stelle auf, sondern an der Grenze der Belastbarkeit deines Geistes. Deine Freundin Luna wusste das. Sie wusste auch, dass ein Schlafmittel dich in dem Traum festhalten würde und dieser so die Grenze deines Verstandes hätte sprengen können."
Tarsuinn nickte versonnen.
„Für einen Augenblick…", murmelte er, „Gibt es eine Möglichkeit mich von diesen Träumen zu erlösen?"
„Auch das weiß ich nicht. Doch ich werde Professor Snape bitten, deinen Schlaf heute Nacht zu überwachen."
„Snape!", brach es entsetzt aus Tarsuinn heraus. „Warum gerade der? Er würde perfekt selbst in die Träume passen!"
„Nun…", sagte Dumbledore nachsichtig, „…Professor Snape kennt sich sehr gut mit dem Abblocken von fremden Gedanken und Träumen aus."
„Nicht nur im Abblocken", rutschte es aus Tarsuinn heraus.
„Oh – du meinst eure erste unerfreuliche Begegnung", sagte Dumbledore zu Tarsuinns Erstaunen. „Er hat mir davon berichtet und vertrau mir, wenn ich sage – er würde lieber Voldemort gegenübertreten, als noch einmal in deine Gedanken eindringen."
„Ich vertraue ihm nicht weiter, als ich ihn sehen kann", sagte Tarsuinn, trotz Dumbledores Worten.
„Nichtsdestotrotz ist er der Mann, der am besten feststellen kann, woher diese Träume kommen."
„Aber gefallen muss es mir nicht!", gab Tarsuinn schließlich ein wenig nach.
„Nein, muss es nicht", lächelte Dumbledore. „Aber ich denke, das ist es wert, oder?"
„Tausendfach", stimmte er zu.
„Dann ist es abgemacht. Du wirst heute den Tag und auch die Nacht hier verbringen. Erhole dich gut, morgen ist wieder Unterricht."
Dumbledore stand auf und wollte gerade gehen, als Tarsuinn ihn doch noch zurückhielt.
„Professor, darf ich eine weitere Frage stellen?"
„Nur zu."
„Haben Sie den anderen dann auch noch getötet?"
Dumbledore antwortete zunächst nicht darauf. Aber er ging auch nicht.
„Vielleicht hätte ich es damals tun sollen, aber ich habe es nicht", sagte er dann und ging erst danach.
Tarsuinn sank wieder in seine Kissen zurück und streichelte weiter mechanisch Tikkis Rücken. Innerhalb weniger Stunden hatte er das Schönste in seinem Leben gehört und das Furchtbarste gesehen. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass dies einfach zueinander gehörte.
Wenig später brachte Madame Pomfrey ihm etwas zu essen und seine inzwischen getrocknete Kleidung. Vorsichtig prüfte er diese und stellte beruhigt fest, dass sein richtiger Zauberstab noch sicher in der selbst angenähten, versteckten Beintasche war. Man hatte anscheinend seine Sachen gereinigt, denn der Orangengeruch war wieder sehr stark. Er liebte das inzwischen. Alle Ravenclaws rochen danach. Gryffindors dagegen nach Zitronen, Hufflepuffs nach Erdbeeren und Slytherins nach Waldmeister. Das machte es ihm doch recht einfach sich zu orientieren.
Am Nachmittag sahen dann vorsichtig seine Freunde herein. Alle wirkten ein wenig betreten und es war schon bezeichnend, dass Luna und er den größten Anteil am Gespräch hatten. Egal was sie beide versuchten, die anderen beteiligten sich nur recht einsilbig. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie alle recht schnell wieder verschwanden. Nur Luna blieb noch etwas.
„Haben sie jetzt Angst vor mir?", fragte er das Mädchen traurig, als die anderen gegangen waren.
„Das ist nicht der Grund", sagte sie abweisend, doch schien sie damit nicht Tarsuinn zu meinen.
Gespräche mit Luna waren immer recht unergiebig, wenn man erwartete, dass sie etwas von selbst erzählte.
„Und was ist der Grund, Luna?", zog er ihr die Antwort aus der Nase.
„Sie haben heut Morgen Mist gebaut, für den sie sich schämen. Deshalb können sie dir nicht in die Augen sehen."
„Heh – was ist so schlimm daran? Kann ich doch auch nicht."
Sie hustete, um ein Kichern zu verbergen. Ein Geräusch, das er noch nie von ihr gehört hatte. Es klang irgendwie süß und zu wissen wie sie dabei aussah, wäre ihm einiges wert gewesen.
„Das ist nicht witzig", sagte sie dann wieder ernst.
„Ich darf so was sagen", betonte er ironisch.
„Mag sein."
„Wirst du mir sagen, was sie für Mist gebaut haben?"
„Nein!"
„Dacht ich mir."
Wieder saßen sie eine Weile still nebeneinander. Verzweifelt suchte er nach einem Thema. Doch dann fiel ihm noch rechtzeitig etwas ein.
„Professor Dumbledore hat gesagt, ich würde dir verdanken, nicht verrückt geworden zu sein", sagte er. „Danke dafür."
„Es wäre ein Verlust für den Quibbler gewesen", wehrte Luna schüchtern ab.
„Dann danke ich dem Quibbler und seiner zauberhaften Mitarbeiterin", schmeichelte er sarkastisch.
„Ich werde es ausrichten", antwortete sie ernsthaft.
„Woher wusste der Quibbler eigentlich von meinen Alpträumen?", spielte er das Spiel weiter.
„Eine ungenannte Informantin ist einmal zu früh wach geworden und in den Gemeinschaftsraum gegangen, da hat sie dich gesehen."
„Weißt du auch, was ich danach mache?"
„Ja."
„Erzählst du es weiter?"
„Nein."
„Und woher wusstest du, dass ich unbedingt aufwachen muss?"
„Mein Dad hat mal einen ähnlichen Fall veröffentlicht. Da war ein Mann – ein Diplomat – in das St. Mungos Hospital eingeliefert worden. Er hatte auch jede Nacht Alpträume. Sie gaben ihm ein Schlafmittel und am nächsten Tag war er verrückt. Wenige Wochen später hat er sich dann selbst umgebracht. Laut dem Informanten meines Vaters hat das Ministerium so versucht, einen unliebsamen Diplomaten unauffällig aus dem Weg zu räumen. Es gab überhaupt keine Nachforschungen und es wurde auch keine Geisterbefragung zugelassen!"
„Geisterbefragung? Bedeutet dies das, was ich denke?"
„Ich kann nicht sagen, was du denkst."
„Ich meine, befragen sie da wirklich den Geist eines Verstorbenen?"
„Ja, obwohl die wenigsten noch Erinnerungen an ihren Tod haben. Aber manchmal erfährt man etwas Wichtiges."
„Eigentlich schade, dass ich Gespenster nicht hören kann", sagte er etwas traurig. „Wäre bestimmt interessant."
„Nicht doch, dann müsstest du ja Professor Binns lauschen oder würdest Peeves' Beleidigungen hören."
„Wer ist eigentlich Peeves?", erkundigte er sich interessiert. Er wusste zwar, dass es einen Poltergeist gab, der so hieß, aber niemand wollte mit ihm darüber reden.
Nicht weit von ihnen fiel eine Vase um.
„Das eben war Peeves!", erklärte Luna ruhig. „Ich schätze, er hasst dich besonders."
Ein Fenster zersplitterte, weitere Gegenstände fielen um.
„Warum?", fragte er interessiert. Umfallen und kaputtgehende Dinge waren relativ häufig im Schloss und störten außer den Hausmeister niemanden sonderlich. Die Schäden waren durch die Zauberei immer schnell behoben.
„Weil du ihn ignorierst und weil Professor Dumbledore gedroht hat, ihn aus Hogwarts zu exorzieren, wenn du einen Kratzer abbekommst", antwortete Luna, die anscheinend unter seinem Bett Zuflucht gesucht hatte.
Ein Schwall eiskalten Wassers ergoss sich über Tarsuinns Kopf.
„Ach – und ich dachte die ganze Zeit, es wären die Slytherins!", sagte er prustend. „Hallo – Peeves, schön dich persönlich kennen zu lernen."
Dem Lärm nach zu urteilen, wurde gerade ein ganzes Glasgeschäft zerstört.
„Ich glaub, er mag es nicht, wenn man freundlich zu ihm ist", erklang Lunas Stimme unter dem Bett.
„Oh – böser, böser Peeves", änderte Tarsuinn seine Strategie und drohte mit dem Zeigefinger. Leider schaffte er es nicht, ein Lachen zu unterdrücken. Mit dem Erfolg, dass jetzt größere Dinge durch die Gegend flogen.
„Ich glaub, das wird Madame Pomfrey nicht gefallen", vermutete Luna und das mit Recht. Doch es war nicht die Krankenschwester, die dem Treiben Einhalt gebot.
„PEEVES, RAUS AUS DEM KRANKENFLÜGEL. DU WEISST, DU HAST HIER NICHTS VERLOREN!", brüllte Professor Snape, der ein wenig außer Atmen klang. Schlagartig hörte der Lärm auf.
Snape kam zu ihnen herüber.
„Fünf Punkte Abzug dafür, dass Sie Peeves provoziert haben, McNamara, und fünf Abzug für Lovegood, weil sie nichts unternommen hat", blaffte Snape wütend.
Luna kam unter dem Bett hervorgekrochen, beschwerte sich jedoch nicht. Ganz anders Tarsuinn.
„Könnten Sie mir bitte erklären, wie ich Peeves provoziert haben soll und was Luna hätte tun können?"
„Stellen Sie sich nicht dumm, McNamara", zischte Snape nur schwer beherrscht.
„Und tun Sie nicht so, als wären Sie außer Atem!", schoss er zurück. „Ich hab schon vor einigen Minuten gehört, wie Sie die Tür erreicht haben. Außerdem haben Sie kein so gutes Gehör, als dass Sie meine Worte auf hundert Meter hätten hören können."
„Unterstellen Sie mir eine Lüge?", drohte Snape fragend.
„Sie haben nichts gesagt, was eine Lüge wäre, aber…", Luna kniff ihm in den Handrücken.
„Aber was…?", fragte Snape lauernd.
Tarsuinn riss sich mühsam zusammen. Es störte ihn relativ wenig, wenn er Minuspunkte bekam, wenn er es verdient hatte, aber erstens hätte Peeves auch so gewütet und zweitens hatte er schon oft miterleben dürfen, wie einfach und schnell solche Schäden durch den Reparo-Spruch behoben wurden. Dass Snape auch noch Luna Punkte abzog, war blanke Willkür.
„…aber es wäre wirklich sehr nett, wenn Sie mir meine Fehler erläutern könnten und uns erklären, wie wir Peeves im Zaum halten können", sagte er gezwungen.
„Ich bin nicht nett!", wehrte Snape ab, als hätte Tarsuinn ihn schwer beleidigt.
„Das war kl…"
Wieder wurde er gekniffen und so hielt er lieber den Mund. Snape wartete eine Weile, ob Tarsuinn den Satz noch vollenden würde, dann atmete er tief und zischend ein.
„Es ist spät! Lovegood, die Besuchszeit ist zu Ende."
Plötzlich fiel Tarsuinn noch etwas ganz Wichtiges ein. Etwas, das Snape auf keinen Fall erfahren durfte.
„Wenn Sie entschuldigen, Professor. Könnte Luna mir nicht einige meiner Schulsachen bringen? Ich muss noch meine Zaubertrank-Hausaufgabe zu Ende anfertigen."
„Nein, kann sie nicht. Sie sollten jetzt schlafen!"
„Professor! Ich kann noch nicht schlafen. Ich schlafe nie vor Mitternacht und heute Morgen habe ich schon länger geschlafen als sonst. Sie haben sicher bis dahin Wichtigeres zu tun, als hier sinnlos darauf zu warten, dass ich einschlafe, was ich im Moment ganz sicher nicht kann."
Er konnte Snape kurz mit den Zähnen mahlen hören.
„Holen Sie sein Zeug, Lovegood", sagte er dann. „Ich bin Mitternacht wieder da, McNamara."
„Danke, Professor", rief Tarsuinn ihm nach.
Einige Minuten später war Luna wieder da und brachte ihm seine spezielle Schreibfeder und seine Zaubertrankbücher. Inzwischen hatte eine äußerst aufgebrachte Krankenschwester Peeves Verwüstungen aufgeräumt und dabei einige unschöne Kraftausdrücke während der Arbeit ausgestoßen. Natürlich so leise, dass jedes andere Kind sie nicht verstanden hätte.
Er nahm sein Zeug von Luna entgegen, was ihn eigentlich überhaupt nicht interessierte, da er mit den Hausaufgaben schon fertig war. Es ging ihm um etwas anderes.
„Luna, sind wir bis auf Madame Pomfrey allein?", fragte er das Mädchen flüsternd. Er wollte sichergehen, dass nicht irgendwo ein Geist sein Ohr in der Nähe hatte.
„Ja."
„Könntest du etwas für mich verwahren und mir versprechen nicht nachzusehen was es ist?"
„Ja."
Er gab ihr seine Schulkleidung, als gut zusammengelegtes Bündel.
„Es ist wichtig, Luna. Fass nichts an, außer dem Stoff. Bitte! Zu deiner eigenen Sicherheit. Es…"
Er stockte und überlegte, wie viel er ihr sagen sollte.
„…es könnte dich verletzen oder schlimmeres und das meine ich ernst."
Es dauerte eine Weile, ehe ihm seine Kleidung aus der Hand genommen wurde.
„Was immer es ist, vielleicht solltest du es Snape finden lassen", sagte sie sarkastisch.
„Ich glaube nicht, dass Snape uns den Gefallen tun würde. Du weißt doch – Unkraut vergeht nicht."
„Ja, leider", sah sie ein. „Ich bring dir morgen früh frische Kleidung."
Daran hatte Tarsuinn noch gar nicht gedacht. Er wollte nur seinen Zauberstab und seine Abschrift aus dem Buch Snapes Zugriff entziehen.
„Oh ja – danke. Hätte ich vergessen", sagte er.
„Na dann – bis morgen früh", verabschiedete Luna sich.
Keine Ermahnungen von ihrer Seite die Klappe zu halten. Eine echte Abwechslung.
Tarsuinn machte sich einige Sorgen wegen Luna. Er glaubte zwar nicht, dass sie ihr Versprechen brechen würde, aber sie war dafür bekannt, häufig Sachen nicht mehr finden zu können und wenn es dann jemand anderes in die Finger bekam…daran wollte er eigentlich gar nicht denken.
Danach wartete er, dass es Mitternacht wurde. Zum Glück hatte Luna netterweise ein neues Exemplar des Quibblers in sein Zaubertränke-Buch gelegt, da sie wusste, dass er dank seiner Quasi-Freizeit in Dunkle Künste und den Flugstunden meist schon vor dem Wochenende mit den Hausaufgaben für Snape fertig war.
So las er interessiert über ein Flugwesen namens Kintaro, das in Asien einen Tsunami ausgelöst hatte, über ein magisches Tor im Keller des Zaubereiministeriums, das in die Zukunft führen sollte (eine Einbahnstraße übrigens) und – besonders interessant – einen Aufsatz über den kleinen Bruder von Dem-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf.
Besonders bemerkenswert fand Tarsuinn dabei, dass es jedes Mal bei diesem Namen ein kleines Verweissternchen gab, das ganz am Ende des Artikels und noch viel kleiner auf den Namen Lord Voldemort verwies.
Tarsuinn hatte durchaus begriffen, wie viel Angst dieser Name erzeugen konnte. Auch wenn es einige Zeit bei ihm gedauert hatte. Einen Namen zu fürchten, wo es doch so viele reale Bedrohungen gab, erschien ihm nicht sonderlich logisch. Außerdem hatte ihm niemand sagen können, wie die Nennung des Namens diesen schlechten Menschen zurückholen sollte. Doch dann hatte er sich vorsichtig mit der Geschichte beschäftigt und wenn nur ein Zehntel von dem stimmte, was in den Büchern stand und die Schüler erzählten, dann musste es die Hölle gewesen sein, in dieser Zeit zu leben. Vor allem, weil die Magiergemeinschaft so übersichtlich war – er schätzte sie auf einige Zehntausend in England – waren alle Grausamkeiten der damaligen Zeit so unmittelbar nah. Anscheinend hatte es in jeder Zaubererfamilie Opfer oder Täter gegeben. Manchmal sogar beides.
Aus diesem Grund respektierte Tarsuinn die Angewohnheit, Voldemort nicht beim Namen zu nennen. Nur intern behielt er die Kurzform bei. Er hatte genug Phantome, vor denen er sich ängstigte, da musste er nicht noch eines hinzufügen, indem er es als wichtig erhob. Außerdem hatte heute Morgen Professor Dumbledore auch den Namen ausgesprochen, also konnte es nicht so schlimm sein.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht legte er dann den Quibbler unter sein Kopfkissen und wandte sich den Hausaufgaben zu. Er verfeinerte sie noch ein wenig, damit er Snape nicht angelogen hatte.
Pünktlich, kurz vor Mitternacht, tauchte Snape auf. Er sagte zwar nichts, aber sein Geruch war einfach unverkennbar.
Genau um zwölf legte Tarsuinn Pergament und Feder beiseite auf den kleinen Tisch neben dem Bett, wünschte Tikki eine Gute Nacht und legte sich hin. Sofort griff sich Snape, ohne zu fragen, seine Hausaufgabe. Tarsuinn war das egal. Eine Weile versuchte er zu schlafen, aber es war lange her, dass er nicht allein beim Einschlafen war und außerdem brannte es ihm auf der Zunge Snape zu ärgern.
Irgendwann gab er auf und drehte sich noch einmal dem Professor zu.
„Professor, wenn Sie etwas Interessantes lesen wollen, dann kann ich Ihnen den Quibbler empfehlen", sagte er, griff unter das Kopfkissen und legte die Zeitung auch auf den Tisch. Dann drehte er sich von Snape weg und zog die Decke über den Kopf, auf dass der sein Grinsen nicht sehen konnte. Tarsuinn wusste, Snape würde ihm diese indirekte Beleidigung heimzahlen – der Quibbler galt als Lektüre für Spinner und Sonderlinge – aber das war für den Augenblick egal. Snape konnte ihm unmöglich Punkte für ein nett gemeintes Angebot abziehen. Obwohl? Snape vielleicht…aber wenn, dann erst nachdem Tarsuinn wieder wach war.
Die Träume waren diesmal anders, als er sie gewohnt war. Sie fingen wie üblich an, doch es berührte ihn weniger. Recht schnell – fast wie beim schnellen Vorspulen an einem Videorekorder – erreichte er die Stelle, an der er sonst immer aufwachte. Erst dann ging es langsamer voran und der Schrecken war wieder von der gleichen Qualität wie immer, nur mit anderen Bildern. Irgendwann erreichte er sogar die Stelle, wo er glaubte, Dumbledore würde ihn töten, doch da er jetzt wusste, dass dies nicht geschehen würde, ging auch dieser Moment vorbei. Dumbledore befreite ihn von seinen Fesseln. Dann verschwand die Szene im Nebel, wirbelte durcheinander und als sich neue Bilder formten, wachte er sofort mit einem schwer zu unterdrückenden Schrei auf. Doch es gelang ihm diesmal wieder, sich sofort unter Kontrolle zu bringen. Nicht, wie am vorangegangenen Tag, wo er ewig mit sich gerungen hatte.
„Ihre Hausaufgaben sind weit unter Standard und behandeln das Thema unzureichend", begrüßte Snape ihn. „Ich erwarte heute Nachmittag den Text neu geschrieben und von doppeltem Umfang."
Dann stand er auf und ging davon.
„Auch Ihnen einen schönen Guten Morgen", rief Tarsuinn ihm nach. Der Schritt des Professors stockte für einen Moment, dann ging er schnell durch die Tür. Konnte Snape ihm nicht wenigstens sagen, was seine Beobachtungen erbracht hatten? Und dann das mit den Hausaufgaben! Heute vor der Stunde Zaubertränke hatte er Zauberkunst, Verwandlungen und Kräuterkunde. Alles Fächer, in denen er keine Hausaufgaben machen konnte. Also musste er jetzt und während Frühstück und Mittagessen den Aufsatz schreiben. Das war wohl Snapes Rache für gestern Abend. Wahrscheinlich hatte der Professor die ganzen vier Stunden seines Schlafes daran gefeilt.
Zunächst aber hatte Tarsuinn etwas zu tun, was er seiner Schwester versprochen hatte. Er wartete einen Moment, bis Madame Pomfreys Kontrollblick vorbei war. Als Krankenschwester musste sie einen leichten Schlaf haben und es wäre untypisch gewesen, wenn sie nicht nach einem schreienden Patienten geschaut hätte. Sie fragte, ob er etwas brauche, er verneinte und sie legte sich wieder schlafen. Fünf Minuten später kletterte Tarsuinn aus seinem Bett. Es war recht kühl im Schlafanzug. Er war barfuß und der Boden kalt, doch er überwand sich und begann seine Übungen.
In Europa nannten viele das, was er jetzt tat, Schattenboxen. In Asien hieß das Thai-Chi-Chuan. Es war eine Mischung aus Gymnastik, Kampfsport, Atem- und Konzentrationsübung. Seit seiner frühesten Kindheit hatte seine Schwester ihn dazu angeleitet, da sie glaubte, er könne so seine Angstzustände unter Kontrolle bringen. Für die Wachzeit funktionierte das sogar. Normalerweise lief er zwar vorher eine Runde um den Teich, doch dazu war seine Kleidung im Augenblick etwas zu luftig und das Wetter zu kalt.
So übte er und nach und nach verschwanden die Schatten der Träume aus seinem Geist. Es war, als würde er alles Schlechte ausatmen. Wenn man davon absah, dass Snapes Geruch seine Lungen füllte, dann war das gar nicht mal so schlecht.
Der Überfall auf Toireasa war das Hauptgesprächsthema unter den Slytherins der Ersten Klasse beim Frühstück am Montagmorgen. Von den Folgen war dank Madame Pomfrey nicht mehr viel zu sehen. Die Schwellung des Auges war verschwunden und die Haare wieder so lang wie vorher. Einzig die leichte Rosafärbung ihrer Haut war als Hinweis geblieben, denn die Salbe gegen die Pickel hatte über Nacht ein paar Hautschichten abgelöst und nach dem Duschen war nur noch neue Haut übrig geblieben, die jetzt ein wenig spannte und juckte. Aber wenigstens war ihre Haut so glatt wie vorher.
„Das werden die bereuen", sagte der groß gewachsene William, der Toireasa ein wenig mochte, weil sie beide unglücklich im Auswahltraining zur Hausmannschaft im Quidditch gescheitert waren.
„Schnappen wir sie uns einzeln und prügeln sie ein wenig durch", pflichtete dessen bester Freund Aaron Burke bei.
„Jungs sind ja so primitiv", sagte dazu Regina abfällig. „Werdet erwachsen. Prügeln bringt gar nichts. Sie brauchen eine Lektion, die sie sich merken und unsere Überlegenheit demonstriert."
„Genau", pflichtete Riolet bei, die eh alles toll fand, was Regina sagte.
„Außerdem sind Ravenclaws fast nie allein unterwegs", gab Vivian zu bedenken. „Es ist unheimlich schwer an sie heranzukommen. Mit indirekten Attacken hat man da mehr Erfolg, wie Toireasa schon bewiesen hat."
„Ja, aber sie hat sich von denen erwischen lassen", gab Riolet zu bedenken. Sie hasste Toireasa seit der Sache mit dem Päckchen. Deshalb hatte sie auch die Sache mit dem Muggel und dem Umhang an Malfoy ausgeplaudert. Und deshalb war dieses Gefühl ein gegenseitiges. Riolet hielt sich nur mit ihren Äußerungen zurück, weil Regina und Vivian sie fast zur Gruppe zugehörig behandelten.
„Wir müssen halt nur wieder so was, wie bei dieser Darkcloud organisieren", fand Regina. „Irgendwelche Leichen hat doch jeder im Keller."
„Und wir sollten den Muggel ein wenig direkter rannehmen", schlug Vivian vor. „Damit sie sehen, dass ihre Drohung nur das Gegenteil bewirkt hat."
„Das werden wir nicht!", mischte sich nun Toireasa zum ersten Mal an diesem Morgen ein.
„Warum?", fragte Riolet lauernd. „Hast du Angst bekommen?"
Toireasa schaute das Mädchen eiskalt an.
„Nein, aber ich bin nicht so dämlich."
Vorsichtshalber ließ sie den Zusatz – wie Du – weg. Es wusste auch so jeder, was sie meinte.
„Du planst doch was!", vermutete Vivian. Toireasa hatte festgestellt, dass Vivian eine eiskalte Intelligenz auszeichnete, die Regina nur durch Aussehen und eine bessere Redegewandtheit übertraf. Regina mochte das Herz Der Fabelhaften Fünf sein, wie sie sich selbst gern nannten, aber Vivian war ganz bestimmt der Kopf.
„Ja, ich habe einen Plan, aber er funktioniert nur, wenn sie glauben, ihre Drohung hätte was bewirkt", erklärte Toireasa. „Und wenn es klappt, erwischen wir alle."
„Und was genau hast du vor?", fragte Riolet neugierig.
„Das erzähl ich ganz bestimmt nicht am Frühstückstisch in der Großen Halle", bügelte Toireasa das Mädchen ab. „Aber ein wenig gefährlich wäre es schon und ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen. Hättet ihr heute Abend ein wenig Zeit für ein kleines Treffen im Kerker?"
Alle um sie herum nickten zustimmend.
„Gut!", freute sie sich. „Ach ja – da fällt mir ein. Ich bräuchte nachher jemanden, dem ich ein paar dumme Fragen stellen kann. Hat wer Lust mir zu helfen?"
Wieder allgemeines, wenn auch diesmal ein wenig verständnisloses, Nicken.
Toireasa scherte sich nicht darum. Auch wenn der Muggel eine große Rolle in ihrem Plan spielen würde, so ging es ihr gar nicht mehr um McNamara. Sie wollte nur noch die Rechnung mit dessen Freunden begleichen. Er geriet jetzt einfach zwischen die Fronten, was sie etwas bedauerte. Aber sobald das Konto wieder ausgeglichen war, würde er vor ihr seine Ruhe haben, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Doch das musste erst einmal warten. Zunächst einmal musste sie den Montag ohne Zwischenfälle überstehen. Bei Kräuterkunde und Zauberkunst zusammen mit den Ravenclaws war das nicht sonderlich einfach, es lag eine ziemliche Spannung in der Luft und am Ende der Stunden war Toireasa jeweils stolz, dass es trotz Provokationen durch die Ravenclaws zu keinen Auseinandersetzungen gekommen war, die über kleine Wortgeplänkel hinaus gingen.
Geschichte der Zauberei dazwischen war eine willkommene Abwechslung, denn mit den Hufflepuffs, mit denen sie den Unterricht teilten, hatten sie keinen Streit. Eigentlich seltsam. Alle aktuellen Slytherin-Jahrgänge bekriegten sich begeistert mit Gryffindor. Nur die Erste Klasse tanzte aus der Reihe und hatte Ravenclaw zum Feind erklärt. Mit den Gryffindors gab es irgendwie eine Art unausgesprochenes Stillhalteabkommen.
Nach dem Mittagessen hatte sich Toireasa mit William am Eingang zur Großen Halle verabredet. Sie warteten dort darauf, dass Professor Kesselbrand seine Mahlzeit beendete. Toireasa bedauerte es sehr, noch keine Stunde in Pflege magischer Geschöpfe zu haben. Sie wollte zu gerne wissen, wie der Professor seinen rechten kleinen Finger und die Kuppe des Zeigefingers verloren hatte. Außerdem hasste sie es, nachmittags den älteren Klassen beim Umgang mit den seltsamsten Wesen zu beobachten, ohne selbst dabei sein zu dürfen.
Toireasa war es recht peinlich, sich gleich so dumm anstellen zu müssen. Eigentlich wollte sie keinen schlechten Eindruck bei dem Lehrer hinterlassen.
„Er steht auf und kommt rüber", unterbrach William ihre Gedanken.
Toireasa schaute auch verstohlen in den Großen Saal hinein und sah den Mann mit den vielen Narben festen Schrittes näher kommen.
„Okay", flüsterte sie. „Wie abgesprochen! Alles klar?"
„Fang einfach an, wenn er nah genug dran ist."
Sie wartete, bis der Professor aus der Tür trat.
„… und ich sag dir", tat Toireasa so, als würden sie schon länger diskutieren. „Einhörner können Giftstachel verschießen. Genau wie dein Irischer Giftstacheligel. Nur viel weiter und genauer."
„Ach, red keinen Unsinn", hielt William wie abgesprochen gegen. „Einhörner sind doch völlig harmlose Viecher, die sich sogar in den Süden verziehen, nur weil es im Winter ein wenig kalt wird."
„Tun sie nicht", fauchte Toireasa. „Sie bleiben hier und trampeln diese schlafenden Igel im Schnee…"
„Oh, bitte!", unterbrach Professor Kesselbrand genervt und Toireasa unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Sie hatte gehofft, dass der Mann bei soviel geballter Inkompetenz seine Klappe nicht halten konnte.
„Ihr beide solltet unbedingt Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind lesen."
„Da steht nichts über den Irischen Giftstacheligel drin, Sir!", schöpfte Toireasa aus ihrem Bücherwissen.
„Und auch nichts über die Überwinterung der Einhörner!", ergänzte William.
„Genau genommen steht da auch nichts über Giftpfeile bei Einhörnern", erklärte Professor Kesselbrand augenrollend. „Woher habt ihr nur solche Ansichten?"
„Das hat mir mein Onkel immer erzählt", log Toireasa und bemühte sich um einen unschuldigen Augenaufschlag.
„Na, dann wollte dich dein Onkel wohl ein wenig aufs Glatteis führen", sagte der Lehrer.
„Aber Einhörner ziehen im Winter doch in den Süden, nicht wahr?", erkundigte sich William.
„Das haben sie früher einmal getan, als das Land noch nicht so voller Muggel war", stimmte Kesselbrand zu. „Aber heutzutage bleiben sie relativ ortsfest. Allein hier im Verbotenen Wald gibt es zwei Herden, die auch hier überwintern."
„Aber ist das nicht viel zu kalt, Professor?", tat Toireasa blauäugig und als würde sie sich um ihre Lieblingstiere sorgen."
„Da mach dir mal keine Sorgen, kleine Miss", erklärte der Professor amüsiert. „Es gibt drei warme Quellen im Wald, sodass die Einhörner selbst in harten Wintern hier gut überleben können. Und außerdem hilft Hagrid, sollte die Nahrung knapp werden."
Toireasa strahlte ihn begeistert an.
„Professor, werden wir Einhörner in Pflege magischer Geschöpfe behandeln?", formulierte sie den ersten ehrlichen Satz des Gespräches.
„Das hängt vom jeweiligen Lehrer ab", erklärte Professor Kesselbrand.
„Aber Sie sind doch der Lehrer", entgegnete Toireasa ein wenig ungläubig. „Sie müssten doch wissen, was dran kommen wird."
„Lassen Sie sich einfach überraschen", zwinkerte der Mann und obwohl er dabei mysteriös zu sein versuchte, schienen seine Augen eher ein wenig leer. Für einen kurzen Moment wirkte der so kraftvolle Lehrer mit dem gefährlichen Beruf sehr alt und Toireasa fragte sich unwillkürlich, wie lang er das schon machte.
„So – jetzt muss ich aber", beendete Professor Kesselbrand das Gespräch. „Die sechsten Klassen haben immer einen recht großen Fluchtinstinkt und ich wage nicht zu spät zu kommen. Und ihr beide, sucht die Bibliothek auf und redet mit Hagrid, wenn euch das Thema wirklich interessiert. Ein wenig Vorwissen kann ganz gewiss nicht schaden, wenn es in der dritten Klasse ernst für euch wird."
Nach dem Abendbrot trafen sich dann ihre Verbündeten im Gemeinschaftsraum, in einer der hinteren und dunklen Ecken. Davon gab es ja glücklicherweise viele in Slytherin.
„Also Toireasa, wir haben uns heute alles gefallen lassen und ich hab dieses peinliche Spontangespräch mit Kesselbrand mitgemacht. Jetzt sag uns auch wofür das alles", eröffnete William im verschwörerischen Tonfall.
Und dann erzählte Toireasa zunächst einiges von dem, was sie am Wochenende herausgefunden hatte. Als sie von den ständigen Alpträumen McNamaras und der Gefahr des Wahnsinns dadurch erzählte, gab es einiges an recht unangebrachter Schadenfreude. Toireasa überging das jedoch. Sie hatten es nicht mit ansehen und anhören müssen, wie konnten sie dann richtig urteilen.
Als sie mit ihrem Bericht geendet hatte, starrten sie alle jedoch nur verständnislos an.
„Und? Was hilft uns das?", verlangte Regina zu wissen. „Das reicht für ein paar hässliche Gerüchte, mehr aber auch nicht."
„Schon mal was von den Traumteilertränken gehört?", fragte Toireasa, ohne dabei direkt auf Regina einzugehen.
„Nein", sagte das hübsche Mädchen.
„Ich schon", meldete sich Aaron. „Der wird häufig in der Traumdeutung und in St. Mungos benutzt."
„Und was macht der?", wollte Vivian interessiert wissen.
„Es sind zwei Tränke", erklärte Aaron weiter. „Meine Mutter ist Traumdeuterin und nutzt sie manchmal bei Leuten mit geistigen Blockaden. Die Tränke werden zusammen gebraut und irgendwie speziell entnommen, so dass ein Trank für den Träumer entsteht und einer für den Teilnehmer am Traum. Durch die Tränke legt man also fest, wer träumt und wer Zuschauer ist. Ich weiß nur nicht, ob mehrere Leute am selben Traum teilnehmen können."
„Es geht", erklärte Toireasa. „Ich hab alles dazu gelesen und auch das Rezept."
„Du willst ihnen ein paar einfache Träume geben? Das ist ja lächerlich!", sagte Riolet abfällig.
„Ach halt die Klappe, Riolet!", fauchte Toireasa. „Selbst Professor Dumbledore und Madame Pomfrey waren für einen Moment geschockt. Vielleicht habe ich es vorhin nicht deutlich genug ausgedrückt, der Muggel hatte absolute Todesangst."
„Er ist halt ein Feigling!", zischte Riolet zornig.
„Ich kann mich nicht erinnern, ihn vor diesem Wochenende jemals ängstlich gesehen zu haben. Du etwa?"
Das stopfte Riolet die vorlaute Klappe. Denn wenn man ehrlich zu sich selbst war, dann musste man erkennen, McNamara fürchtete keinen Slytherin. Nicht einmal Professor Snape, wenn die Erzählungen der Hufflepuffs stimmten.
„Wenn ich raten müsste,…", lenkte Vivian ab, „…dann würde ich vermuten, dass irgendetwas von dem Einhorn in den Zaubertrank muss, und du hast dich deshalb vorhin so blamiert."
„Ja, leider", stimmte Toireasa zu. „Fünf frisch gezupfte Schweifhaare eines erwachsenen Einhorns brauchen wir mindestens. Und das ist auch der Knackpunkt meines Plans. Es ist recht gefährlich, die zu besorgen. Einhörner mögen zwar Mädchen, aber einfach Haare aus dem Schweif gerupft zu bekommen, mögen sie ganz sicher trotzdem nicht. Egal von wem."
„Wir sollen in den Verboten Wald gehen und einem Einhorn ein paar Schweifhaare ausrupfen?", erkundigte sich Regina, und anscheinend versuchte sie dabei ein gerütteltes Maß an Furcht zu überspielen.
„Ich werde die Haare holen", beruhigte Toireasa sie. „Aber ich bräuchte jemanden, der im Zweifelsfall mit einem Zauber das Einhorn ablenkt oder behindert. Besser wäre natürlich mehr als nur einer. Vorzugsweise Mädchen!"
„Ähem – ja – natürlich kommen wir mit", sagte Regina mit leicht schwankender Stimme und schaute auf die anderen Mädchen ihrer Gruppe. „Nicht wahr?"
Die vier pflichteten natürlich sofort bei, auch wenn es ihnen genauso an Begeisterung fehlte.
„Und wie verabreichen wir es ihnen?", fragte Vivian. „Ich bezweifle, dass irgendein Ravenclaw etwas trinkt, was wir anbieten."
„Auch da habe ich einen Plan", grinste Toireasa schelmisch. „Wir bitten Lockhart darum!"
„Ach, und der gibt es den Ravenclaws so einfach?", meckerte Riolet. „Sorry, aber falls du es noch nicht gemerkt hast, Lockhart ist ein Muggelfreund."
„Nur nach außen hin!", warf die sonst so stille Irine McClary ein. Sie war ein wenig verschossen in Lockhart. Von William und Aaron kam ein abfälliges Pfeifen, während die anderen Mädchen Irine beipflichteten.
„Natürlich werden wir ihn nicht bitten, den Ravenclaws einen Trank zu verabreichen", beeilte sich Toireasa zu versichern. „Ich dachte eher, einer von uns erwähnt demnächst Lockhart gegenüber, wie toll ein wenig Adventsstimmung im Dezember wäre. Tee und Lebkuchen und so weiter. Wenn wir ihm das schon jetzt in den Kopf setzen, dann hält er es im Dezember für seine eigene tolle Idee und es würde mich doch wundern, wenn wir es in sechs Stunden nicht schafften, da was gezielt reinzumixen."
„Aber wenn das rauskommt…?!", warf Vivian ein.
„Wie? Lockhart würde doch behaupten, er hätte es bemerkt, wenn man etwas untergemixt hätte."
„Lockhart wird es bemerken!", behauptete Irine überzeugt.
Wieder gaben William und Aaron ein abfälliges Geräusch von sich. Toireasa stimmte dem zwar zu, aber sie brauchte eine bekannte glühende Anhängerin Lockharts, um ihren Plan umzusetzen.
„Nicht, wenn es die richtige Person macht", zwinkerte Toireasa Irine zu.
Diese wirkte hin und her gerissen zwischen geschmeichelt sein und der Gefahr, es sich mit Lockhart zu verscherzen. Toireasa ging davon aus, dass Regina sie schon unter Druck setzen würde es zu tun, weshalb sie selbst nicht weiter zu drängen brauchte.
„Also, was ist? Helft ihr mir?", fragte sie abschließend.
„Kannst du denn den Trank überhaupt brauen?", fragte Vivian und traf damit den Schwachpunkt ihrer Planung.
„Nein, aber mein ältester Bruder kann."
„Wird er auch?"
„Sicher. Wenn er was verabscheut, dann Muggel. Er ist sich nur nicht ganz sicher, ob er diesen Trank hinbekommt."
„Er ist doch erst in der fünften Klasse! Vielleicht sollten wir jemanden bitten, der älter ist?", warf Regina ein.
„Risteárd ist wirklich gut", verteidigte Toireasa ihre Wahl. „Aber der Trank ist mehr als kompliziert. Er wird erst bei einem Heiler- oder Wahrsagestudium gelehrt."
„Willst du damit sagen, wenn wir einen Besseren wollen, sollten wir Professor Snape fragen?", erkundigte sich Vivian.
„Zumindest hier in Hogwarts", stimmte sie zu.
„Dann würde ich sagen, wir sehen, ob wir die Einhornhaare beschaffen können, und alles andere ergibt sich dann."
„Gute Idee. Ich muss mich eh noch um ein paar Details kümmern", schloss Toireasa das Treffen ab.
Die anderen standen auf, nickten ihr zu und gingen dann zu Bett. Nur William blieb noch einen Moment zurück. Der Junge wartete, bis alle weg waren. Sein Gesicht wirkte wie eine kühle Maske.
„Was ist noch?", fragte Toireasa.
William schien sich ein wenig ungemütlich in seiner Haut zu fühlen.
„Ich möchte dir nur sagen, dass du gerade im Begriff bist zu übertreiben", sagte der Junge ernst.
„Der Ansicht bist du also?", fragte sie.
„Ja!", entgegnete er fest. „Ich hätte dir nicht geholfen, wenn ich gewusst hätte, was du vorhast. Es ist falsch."
„Ach – und mir vier Flüche von hinten auf den Hals zu hetzen, war wohl richtig?", fauchte sie ihn überrascht an. Sie fühlte sich von dem Jungen verraten, was besonders wehtat, weil sie eine recht hohe Meinung von ihm hatte.
„Überhaupt nicht. Aber wenn die Träume McNamaras wirklich so schlimm sind, dann solltest du es nicht machen. Mach was Normales. Hüll sie in Schleim, kleb sie an der Klobrille fest, aber mach nicht so einen ernsten Mist, wo so viel schief gehen kann!"
„Ich werd drüber nachdenken", sagte Toireasa in einem Ton, der das Gegenteil ausdrücken sollte. Sie hatte nicht vor, ihre Pläne zu ändern. Man hatte sie für etwas bestraft, das sie nicht gemacht hatte und dafür würde sie sich rächen. Und zwar so, dass es denen für immer in Erinnerung blieb.
William hatte sie anscheinend verstanden. Er stand auf.
„Ich werd dich nicht verraten", versprach der Junge ernst. „Aber ich helf dir ganz sicher nicht bei so was. Damit will ich nichts zu tun haben!"
„Niemand zwingt dich!", fuhr Toireasa ihn enttäuscht an.
„Und für dich gilt dasselbe", entgegnete er und ging stocksteif davon.
Toireasa schaute ihm wütend hinterher. Feigling!
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