- Kapitel 11 -

Der Zauber Halloweens

Tarsuinn wusste nicht, wie ihm die nächste Woche geschah. Keine bösartigen Gerüchte, keine verknoteten Schnürsenkel, keine Mitschriften, die auf magische Art verschwanden und niemand, der ihm Gemeinheiten zuflüsterte. Wäre Winona nicht so verschlossen gewesen, die Woche wäre seine schönste in Hogwarts geworden. Er hatte immer noch nicht herausgefunden, was sie denn nun hatte, dass sie sich in ihrer Freizeit immer so zurückzog. Aber er hatte gelernt, sich nicht aufzudrängen, ansonsten ging sie ihm sicher auch noch während des Unterrichts aus dem Weg.

Deshalb wagte er es auch nicht, sie um Hilfe in Sachen Bücher und Bibliothek zu bitten. Seit drei Tagen versuchte er deshalb selbst die Bücher abzuholen, die laut Professor Dumbledore bei Madame Pince auf ihn warteten. Immer wieder hatte er sich von dem Lärm abschrecken lassen, doch diesmal, für den vierten Versuch, hatte er sich eine neue Strategie zurechtgelegt.

Tarsuinn wappnete sich innerlich, dann betrat er den Gang zur Bibliothek. Schon jetzt war das Geschnatter der Bücher fast unerträglich.

„Bitte seid still", bat er flüsternd und ein wenig senkte sich der Lärmpegel.

Leider nutzten dies einige der anderen Bücher, um noch lauter zu reden.

„Bitte", bat Tarsuinn noch einmal.

Seid doch mal leise…Halt die Klappe…Ich schweige nicht für ein Kind…AHHHHHHHHHH…Mein Rücken löst sich langsam. Warum merkt das keiner?...Ich bin wichtig…Ich auch…Ihr dummen Seiten glaubt auch alles…Hör auf zu schreien…ICH BIN DAS BUCH DER SCHREIE, ALSO HALT DU DIE SEITEN STILL…"

Sich die Ohren zuhaltend, ging Tarsuinn bis zum Eingang der Bibliothek und fragte dann laut.

„Kann mir jemand sagen, wo ich hier ein Buch über die Aufzucht und Fütterung von Bücherwürmern finde?"

Schlagartig war es still. Bis auf ein ganz leises – Hier, hier, ich! - und eine extrem pikiert klingende Madame Pince.

„Dies ist eine Bibliothek. Sie werden sich hier leise verhalten, ansonsten sehe ich mich gezwungen, Sie von hier zu verweisen."

Tarsuinn legte fasziniert den Kopf schräg. Jede unachtsame Stimme in der Bibliothek schien unnatürlich laut zu hallen, doch die Stimme der Frau erzeugte keinerlei Echo.

„Entschuldigen Sie bitte", sagte Tarsuinn, ein Lächeln unterdrückend. „Eigentlich ging es mir nur darum, Sie möglichst schnell zu finden. Ein paar ältere Schüler haben mir erzählt, man müsste einfach nur ein wenig laut werden und schon würden Sie neben einem apparieren."

„Sie sollten nicht alles glauben, was ältere Schüler Ihnen weismachen wollen!", antwortete die Bibliothekarin, minimal milder gestimmt.

„Ja, natürlich. Ich war dumm", bezichtigte Tarsuinn sich selbst.

So etwas kam bei Erwachsenen immer an. Sie standen einfach auf einsichtige kleine Kinder.

„Nun ja – es ist schließlich Ihr erstes Vergehen", fand sie und fügte nachdenklich hinzu. „Wenn man es bedenkt, hab ich Sie noch nie hier gesehen."

Tarsuinn fiel auf, dass von den vielen anwesenden Schülern überhaupt kein Ton zu hören war. Alle schienen ihm und Madame Pince zu lauschen. Das war leider eine unvermeidliche Aufmerksamkeit, die sein Auftritt provoziert hatte.

„Man hat mir gesagt, Sie hätten zwei Bücher für mich, Madame?", sagte Tarsuinn in die Stille hinein.

„Und Sie sind wer?"

„Tarsuinn McNamara."

„Ach, Sie sind das?! Sie kommen spät. Ich hab die Bücher schon wieder einsortiert", sagte Madame Pince und war schon wieder ärgerlich.

„Bekomme ich sie trotzdem? Mir hat niemand gesagt, ich hätte sie bis zu einem bestimmten Tag abzuholen."

Die Bibliothekarin war für einen Augenblick still, dann atmete sie tief ein und stand seufzend auf.

„Warten Sie hier", sagte die Frau kurz angebunden.

Im Weggehen hörte Tarsuinn sie leise murmeln: „Man ist viel zu weich, viel zu weich…"

Dann musste Tarsuinn eine Weile warten.

Dabei kam er nicht umhin, einige leise Gespräche mitzuhören. Vor allem einige der nach Zitrone riechenden Gryffindors unterhielten sich angeregt.

„Der Muggel war doch noch nie hier!"

„Also ich bezweifle, dass er ein Muggel ist."

„Habt ihr gesehen…?"

„Was?"

„Madame Pince holt seine Bücher aus der Verbotenen Abteilung."

„Für einen Erstklässler?"

„Wahrscheinlich hat sie nur die beiden Bücher da abgelegt, damit niemand anderes sie ausleiht."

„Nein. Solche Bücher nimmt sie immer aus dem kleinen Schrank hinter ihrem Tisch."

„Aber warum bekommt er Bücher aus der Verbotenen Abteilung? Ich bin in der fünften Klasse und ich hab noch nie die Genehmigung dafür bekommen."

„Vielleicht stehen darin Wege, wie er seine Magie stärken kann?"

„Das ist nicht möglich! Entweder man hat es oder halt nicht."

„Vielleicht doch. Also ich würde es ihm gönnen."

„Ich hab von einem Ravenclaw gehört, dass er sehr seltsam sein soll. Geradezu beängstigend."

„Warum das? Er ist doch immer sehr freundlich und zuvorkommend."

„Ja, aber anscheinend hat er vor ein paar Tagen die Beherrschung verloren. Es soll furchtbar gewesen sein."

„Ich hab auch davon gehört. Er soll es gewesen sein, der am Sonntag so geschrien hat."

„Wovon redest du?"

„Erinnerst du dich nicht? Die kleine Ginny Weasley kam doch ganz erschrocken angelaufen, weil sie glaubte eine Banshee gehört zu haben."

„Ich dachte, das wären Fred und George gewesen…?"

„Nee – die waren da gerade zum Verhör bei Filch. Die können es nicht gewesen sein."

„Vielleicht ist eine Todesfee in seiner Ahnenreihe…"

„Nun hör aber auf. Das geht doch erst recht nicht."

„Trotzdem ist irgendwas an ihm seltsam. Dumbledore glaubt das anscheinend auch. Warum sonst behält er ihn hier?"

„Ja – Dumbledore weiß schon, was er tut."

„Und Snape hasst ihn. Das macht ihn sympathisch."

„Ist fast ein Ritterschlag."

„Aber sicher nicht so, wie er Harry hasst."

„Harry läuft außer Konkurrenz."

„Ja, das ist sehr speziell. Oliver glaubt, das hat was…"

Leider erfuhr Tarsuinn nicht, was es mit der Feindschaft zwischen Professor Snape und Harry – wenn es nicht noch einen anderen Harry gab, dann wahrscheinlich Harry Potter – auf sich hatte, denn Madame Pince kam mit seinen Büchern.

„Hier! Ihre Bücher. Behandeln Sie die vorsichtig! Das sind Originale", ermahnte sie ihn.

„Natürlich, Madame", versicherte er. „Darf ich noch ein Buch ausleihen?"

„Wenn es aus der Offenen Abteilung ist – selbstverständlich."

„Danke sehr."

Langsam ging er durch die Abteilungen. Da die Bücher leise waren, konnte er wieder auf Tikkis Hilfe reagieren. Langsam näherte er sich einem Regal, schob mehrere Bücher zur Seite und fand dahinter ein schmales, kleines Buch – das einzige, das noch leise flüsterte.

Aufzucht und Pflege von Bücherwürmern. Eine Hilfe.

„Du möchtest wahrscheinlich auch mal wieder gelesen werden?!", flüsterte Tarsuinn dabei.

„Verräter", zischte ein Buch in der Nähe und verstummte sofort wieder ängstlich.

„Haltet einfach die Seiten still, wenn ich in der Bibliothek bin, dann habe ich kein Motiv mein Wissen umzusetzen", flüsterte Tarsuinn grinsend. Ein wenig fies zu sein, stellte manchmal eine echte Alternative dar.

Er ging zu Madame Pince zurück und legte ihr das Buch vor.

„Das haben Sie aus der Offenen Abteilung?", fragte die Bibliothekarin erstaunt.

„Ich glaube schon."

„Eigentlich sollte so was da nicht stehen", murmelte die Frau angewidert.

Madame Pince hatte ganz offensichtlich eine professionelle Abneigung gegen das Thema des Buches. Was Tarsuinn durchaus nachvollziehen konnte. Schließlich war sie die Bibliothekarin.

„Sie haben doch nicht vor, damit irgend etwas anzustellen?", fragte sie immer noch zweifelnd.

Für einen Augenblick sah sich Tarsuinn, wie er ein Glas Bücherwürmer auf Professor Lockharts Gesammelte Werke losließ, verdrängte diesen Gedanken aber sofort wieder. Er wollte eigentlich nur dem kleinen, so selten gelesenen Buch einen Gefallen tun und es gab ihm ein Druckmittel für seine zukünftigen Bibliotheksbesuche in die Hand.

Als er mit einem Hochgefühl die Bibliothek verließ, flüsterte er noch: „Ihr könnt wieder Krach machen", dann verließ er schnell die Nähe des Raumes. Er beglückwünschte die anderen Schüler, die das darauf folgende Meckern nicht hören konnten.

Wenig später im Gemeinschaftsraum, setzte er sich auf den Fenstersims und öffnete das Fenster einen Spalt. Leider war es draußen viel zu kalt und windig, um es ganz zu öffnen, doch so konnte er den Liedern ein wenig lauschen, die aus dem Verbotenen Wald herüber klangen. Da es ihm verboten war das Schloss zu verlassen, war dies für ihn die einzige Möglichkeit ihnen zuzuhören. Er genoss es heimlich und redete sich ein, dass die Entfernung die Verlockung der Töne abmilderte.

Was überhaupt nicht stimmte.

Es war nur so, er brauchte sich nur ein Stück vom Fenster zu entfernen und schon verschwand das Lied und damit der Drang in den Wald zu gehen. Aus diesem Grund mied er es, auch nur in die Nähe eines der großen Tore zu gehen, die nach draußen führten.

Von den Liedern entspannt, nahm er sich seine neuen Bücher zur Hand.

Beide waren noch immer still.

„Ihr dürft ruhig mit mir sprechen", flüsterte Tarsuinn. „Eine kleine Anzahl redender Bücher kann ich durchaus ertragen. Wenn nicht gerade eins von euch das Buch der Schreie ist!"

Magische Stärkungstränke. Ihre Herstellung, Wirkung und Gefahren", flüsterte das eine Buch schüchtern.

Eine Enzyklopädie der Dunklen Artefakte", ergänzte noch ängstlicher das Zweite. Tarsuinn hatte ein wenig das Gefühl, mit der Bücherwurmdrohung doch etwas übertrieben zu haben.

Doch darüber dachte er im Moment nicht nach. Für einen Augenblick presste er überrascht die beiden Bücher an seine Brust. Es war, als wären all seine Hilferufe erhört worden und gleichzeitig fragte er sich, was Dumbledore jetzt von ihm erwartete. Der Professor musste doch wissen, was Tarsuinn versuchen würde, wenn er das Richtige im ersten Buch fand. Doch das konnte Tarsuinn in furchtbare Schwierigkeiten bringen. Genauso schien Dumbledore etwas über seine und Winonas Nachforschungen in Bezug auf magische Artefakte zu wissen. Es war ein leicht unangenehmes Gefühl, vom Direktor persönlich im Auge behalten zu werden. Was hatte der Mann eigentlich für Möglichkeiten hier im Schloss? Einem Gebäude, das seinem eigenen Gefühl nach zu leben schien.

Dieser Gedanke führte ihn zu einer weiteren Frage.

Was machte ein Direktor überhaupt so in Hogwarts? Unterricht schien er nicht zu halten und den Papierkram machte er bestimmt mit einem Fingerschnippen. Also – was machte der Mann die ganze Zeit? Über alles informiert bleiben? Schüler in eine bestimmte Richtung schubsen? Und ansonsten heimlich Go spielen?

Sanft strich Tarsuinn über die Rücken der beiden Bücher, dann schlug er das über die Stärkungstränke auf. Wenig später waren die Musik aus dem Wald, die Ravenclaws im Raum, die Hausaufgaben für morgen und die Zeit vergessen. Er las und las, bis…

„Jetzt sag nicht, du bist die ganze Nacht wach gewesen", unterstellte Penelope Clearwater vorwurfsvoll. „Du sitzt noch genauso da, wie gestern Mitternacht."

„Ich sag's nicht", versicherte Tarsuinn überrascht.

„Hast du deine Hausaufgaben wenigstens gemacht?", wollte sie wissen.

„Ja", log er und hoffte, sie würde es ihm abkaufen.

Da er heute neben Flugstunden nur noch Geschichte hatte, war das auch nicht so schlimm. Den Aufsatz über die Eisblume und ihren größten Feind, ein Unkraut namens Frosttau, konnte er schreiben, während die anderen frühstückten. Waren eh recht langweilige und harmlose Pflanzen, die in der Arktis existieren sollten. Laut Buch waren die Chancen gering, dass je ein Grün- bzw. Weißkraut dieser Art sich hierher verirrte.

Und genau das war das Problem, als er sich daran machte, die Hausaufgabe zu erledigen. Es gab kaum genug zu schreiben, um eine gesamte Pergamentrolle zu füllen. Zum ersten Mal in seinen zwei Monaten Hogwarts beschloss er, besonders große Buchstaben zu malen. Was sich im Nachhinein als völlig legitim erwies, denn wie sich später herausstellte, war er bei weitem nicht der Einzige, der diesen Kunstgriff benutzt hatte. Professor Sprout schien das jedoch nicht im Geringsten zu wundern. Im Gegenteil – sie bedankte sich mit ironischem Lächeln bei allen Schülern, die an ihre schlechten Augen gedacht hatten.

Für die Flugstunde bei Madame Hooch – immer noch extrem sinnlos für Tarsuinn – hatte er sich sein neues Tränkebuch mitgebracht und ein großes Pergament. Er saß allein auf einer Bank, die anderen folgten Madame Hoochs Fluganweisungen hoch oben über den Dächern des Schlosses und Tikki jagte irgendwo Mäuse. Niemand war in seiner Nähe, um zu beobachten, was er schrieb.

Liebe Tante Glenn,

sicher bist Du etwas sauer auf mich, weil ich so selten schreibe, aber Du hattest Recht – Schule ist Krieg!

Doch jetzt ist gerade Waffenruhe, vielleicht, weil sich alle auf Halloween freuen. Ich persönlich wäre zufrieden, wenn es so fließend in den Weihnachtsfrieden übergehen würde. Aber selbst wenn nicht, so schlimm ist es hier auch nicht. Ich hab Freunde gefunden.

Schade fand ich, dass Du es bei Deiner Dienstreise nicht geschafft hast, kurz bei mir vorbei zukommen, aber ich weiß ja, dass Du in Eile warst. Manchmal brennt einfach die Luft im Job. Doch bei den vielen Eulen in Deiner Nähe, hättest Du wenigstens auch mal schreiben können. Damals war es ja deutlich leichter und einfacher, als jetzt.

Reichte das als Hinweis und Warnung? Er konnte nur hoffen.

Wenn man von einigen Problemen absieht, dann gefällt es mir in Hogwarts sehr gut. Immer ausreichend Essen, warme Zimmer und größtenteils freundliche Lehrer. Außerdem treibe ich anscheinend Peeves in den Wahnsinn, weil ich keine Geister sehen und hören kann. Ich schätze, dafür müssen die anderen Schüler umso mehr büßen. Als Ausgleich quält mich Professor Snape ein wenig, mit dem Erfolg, dass meine Zaubertrankzutaten zur Neige gehen. Aus diesem Grund möchte ich Dich bitten, mir die Zutaten zu schicken, die auf dem zweiten Blatt stehen. Natürlich bezahle ich dafür, aber ein neutrales Päckchen wäre nett.

Ansonsten hoffe ich, es geht Dir und Deinen beiden Freunden gut. Ich werde Dich ganz sicher noch einmal besuchen, bevor sie mir meine Erinnerungen löschen.

Tarsuinn

Danach erstellte Tarsuinn das zweite Blatt mit den Zutaten, die er wahrscheinlich brauchen würde. Es waren einige Sachen dabei, die sicher nichts in den Händen von Erstklässlern zu suchen hatten und strengen Bestimmungen unterlagen. Aber er glaubte, Mrs Glenndary würde sie ihm trotzdem besorgen. Am Ende dachte er zum Glück noch daran, einige unzerbrechliche kleine Gläser für Aufbewahrung und Transport zu bestellen.

Gleich nach dem Mittagessen brachte er den Brief in die Eulerei – diesmal ließ er Ninja-chan in Ruhe – und hoffte, dass recht bald eine Antwort kommen würde.

Im Grunde genommen konnte er sich auch nicht erklären, warum er Mrs Glenndary vertraute. Sicher war es auch in der Zaubererwelt strafbar, einen Einbrecher zu schützen und er handelte sich viel Ärger ein, sollte jemals herauskommen, was er verschwieg.

Der Nachmittag danach verging wie im Fluge. Da ein Halloweenwochenende auf sie zukam, hatten die meisten Lehrer, bis auf Snape natürlich, keine Hausaufgaben aufgegeben. Tarsuinn ließ sich von der allgemeinen Vorfreude anstecken, auch wenn er das Fest an sich noch gar nicht kannte. Zumindest aber klang es durchaus spaßig, was man ihm darüber erzählt hatte.

Doch irgendwann beim Abendbrot begann er den Preis für die durchwachte Nacht zu zahlen. Es fiel ihm extrem schwer, die Augen offen zu halten, weshalb er sich nach wenigen Bissen wieder erhob und in den Ravenclaw-Turm zurückkehrte. Dort war er ganz allein und er genoss die fast absolute Ruhe.

„Weißt du was, Tikki", sagte er gähnend. „Ich glaub, ich schlaf heut mal im Bett. Wenn ich mich jetzt hinlege, dann bin ich wieder wach, bevor die anderen schlafen gehen."

Halb in Trance duschte er sich, putzte die Zähne und kletterte dann zum ersten Mal zum Schlafen in sein Federbett. Die Luft im Raum war recht kühl, weshalb er Tikki unterhalb seines Bettes eine kleine Höhle aus dem Schlafsack baute. Mungos war das kalte englische Inselwetter ein Gräuel und Tikki fror recht leicht.

Danach kuschelte er sich selbst in wunderbar weiche Kissen und genoss, wie sein Körper die kühle Decke auf eine gemütliche Temperatur heizte. Wohlig rollte er sich zusammen und war Sekunden später eingeschlafen.

Kurz nach Mitternacht erwachte er so wie immer – mit lautem Begleitgeräusch. Leider hatte er etwas länger geschlafen als normal, weshalb er auch gleich Merton, Ian und Alec mit aus dem Schlaf riss. Leise Entschuldigungen murmelnd, zog er sich daraufhin an, schnappte sich einige seiner Sachen und schlich schnell aus dem Schlafsaal.

Zu seiner gelinden Überraschung war noch jemand im Gemeinschaftsraum wach.

„Guten Morgen", grüßte er freundlich und setzte sich auf seinen Platz auf dem Fensterbrett.

„Auch dir einen Guten Morgen", grüßte eine ihm unbekannte Frauenstimme freundlich.

Doch daran störte er sich nicht. Es gab noch so viele Personen in Hogwarts, die er nicht kannte, so dass er aufgehört hatte sich zu wundern. Stattdessen schlug er die Enzyklopädie der Dunklen Artefakte auf und begann zu lesen. Laut Inhaltsverzeichnis tauchten die Unberührbaren Zauberstäbe nicht im Buch auf, dafür gab es einige Namen, die durchaus auf seinen brennenden Rubin – den Winona Feuerrubin getauft hatte – passen konnten.

Er schauderte ein wenig und zog seinen Umhang enger um seine Schultern. Es war heute ungewöhnlich kalt.

„Ein höchst interessantes Buch", sagte die Frauenstimme plötzlich dicht neben seinem Ohr.

Tarsuinn zuckte erschrocken zusammen. Er hatte keine sich nähernden Schritte gehört.

„Ähem – ja – natürlich", stammelte er und schloss das Buch.

„Ich finde es sehr schön, endlich einmal mit dir sprechen zu können, Tarsuinn", sagte die Frau freundlich. Jetzt, wo er sich mehr darauf konzentrierte, hatte er den Eindruck, dass ihre Stimme etwas hohl klang.

„Auch sehr erfreut", sagte er vorsichtig. „Aber wer sind Sie?"

„Ich bin Lady Hamilton oder besser gesagt, ich war es."

„Sie sind die Graue Lady?", rutschte es Tarsuinn erstaunt heraus. „Unser Hausgespenst!"

Beschützerin des Hauses Ravenclaw kommt besser bei mir an", sagte sie nachsichtig.

„Verzeihung", entschuldigte er sich umgehend.

„Nicht nötig. Du kannst ja nichts dafür, dass du auf diesem Ohr taub bist."

„Warum kann ich Sie dann aber jetzt hören?", fragte er.

„Das ist der Zauber von Halloween. Der Tag der Geister", antwortete sie. Kälte strömte durch seine Wange in Tarsuinn hinein. „Du bist viel empfindlicher, als die anderen Kinder. und gleichzeitig viel widerstandsfähiger gegen meine Berührung."

Er zitterte leicht und trotzdem entzog er sich nicht der Kälte. Egal wie unangenehm die Berührung der Lady war, er fühlte einfach, wie zart sie gedacht war.

„Es muss weh tun, immer in dieser Kälte zu leben", flüsterte er.

„Es wäre nur schlimm, wenn es keine Ravenclaws mehr gäbe", antwortete sie und zog sich etwas von ihm zurück. Wärme übernahm wieder die Herrschaft über seinen Körper. Und trotzdem konnte er den Geist noch spüren. Ja, er konnte die Lady fast sehen, zumindest ihre Umrisse fanden einen Nachhall in der Schwärze seines Sehens.

„Sie sind wunderschön", sagte er verzaubert. „So wie Sie, habe ich mir immer…"

Er konnte den Satz nicht vollenden. Das war keine Erinnerung, nur ein Nachhall von Tagträumen aus seiner frühesten Kindheit. Er musste sich zusammenreißen.

„Danke für das Kompliment, aber von einem blinden Jungen ist das ziemlich relativ", lachte sie nachsichtig.

„Kann ich dir irgendwie helfen?", wechselte sie plötzlich das Thema.

„Ähem – ich will Sie nicht belästigen", sagte er vorsichtig. Er kannte sie überhaupt nicht, vielleicht war sie Dumbledores Spion, zwar ein netter Spion für einen netten Chef, aber nichtsdestotrotz ein Spion.

„Ich freu mich immer, wenn ich helfen kann und bei dir kann ich das nur heute. Also frag, wenn du etwas auf dem Herzen hast."

Zunächst war Tarsuinn ein wenig ratlos, doch dann spürte er eine Frage aus sich herausdrängen, eine Frage, die er stellen konnte und die ihn seit einiger Zeit belastete.

„Ich würde gern…ich wüsste gern, ob ich ein wirklicher Ravenclaw bin? Ob ich hierher gehöre oder nur ein Eindringling bin?"

„Du stellst keine einfachen Fragen, oder?", fragte sie amüsiert. „Lass mich dir ein paar Gegenfragen stellen. Fühlst du dich wohl hier?"

„Ja."

„Hast du Freunde gefunden, denen du dein Leben anvertrauen würdest?"

„Vielleicht."

„Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass dich deine Freunde für minderwertig halten?"

„Nein."

„Wie viel möchtest du über Magie lernen?"

„Alles!"

„Und jetzt überleg dir, wie deine Antworten gelautet hätten, wenn du nicht hierher gehören würdest. Dann hast du auch die Antwort auf deine Frage."

Darauf konnte Tarsuinn nichts erwidern. Wenn er der Grauen Lady Glauben schenkte, dann gehörte nicht unbedingt Magie dazu, um ein Ravenclaw zu sein. Doch konnte das denn stimmen? Alles hier drehte sich um Magie, sie konnte nicht so unwichtig sein!

„Magie ist nichts,…", sagte die Graue Lady, als hätte sie seine Gedanken gelesen, „…wenn nicht ein guter Charakter sie kontrolliert. Was glaubst du ist es, was dich wahre Freunde haben lässt, Magie oder Charakter?"

„Vielleicht Mitleid", sagte er zur Antwort leise und brachte damit eine seiner größten Befürchtungen zum Ausdruck. Es war ein Gedanke, der ihn immer verfolgte, wenn jemand freundlich zu ihm war.

„Das mag am Anfang so gewesen sein. Doch hast du nicht bemerkt, wie sie dich jetzt behandeln? Jeder von ihnen gibt dir Hilfe – wenn du darum bittest. Niemand bietet sie dir an, weil sie gemerkt haben, dass du weitgehend allein klar kommen möchtest. Mach dir also nicht so viele Gedanken darüber, was andere von dir denken und konzentrier dich darauf zu leben. Glaub mir, es kann recht schnell vorbei sein."

Er sagte ihr lieber nicht, dass er das nur zu gut wusste. Sie schien ein sehr nettes Gespenst zu sein. Nur leider ziemlich kalt in ihrer Ausstrahlung. Das Erschreckende war nur, je länger er sich mit ihr unterhielt, desto fester wurde ihr Umriss vor seinen Augen. Es war, als würde er träumen.

„Ich kann Sie wirklich sehen", flüsterte er fasziniert.

„Der Zauber von Halloween", war die lächelnde Antwort. Sie streckte die Hand aus und er ebenso. Seine eigene Hand konnte er nicht sehen, doch als er die Geisterkälte wieder spürte, sah er, wie die sich Hand der Grauen Lady in einem wabernden Nebel auflöste.

„Das ist unglaublich toll", sagte er atemlos.

Er konnte seinen Blick nicht losreißen. Alles, was er bisher gesehen hatte, waren Monster, scharfe Gegenstände, Blut (vorzugsweise sein eigenes) und ein erschreckender Dumbledore. Doch Lady Hamilton war ein wunderschöner, schwebender Anblick. Ein sanftes Gesicht, vornehm gelockte Haare, ein zurückhaltendes Lächeln und ein wunderbar mittelalterliches, mit Spitzen überfrachtetes Kleid. Sie hielt ein Buch in der linken Hand. Andere Ravenclaws hatten ihm erzählt, dass sie fast immer darin las.

Seine Augen begannen zu tränen und er musste ein wenig zwinkern, damit das aufhörte.

„Diese Erinnerung will ich auf keinen Fall verlieren", flüsterte er.

„Ein schöneres Kompliment kann sich eine Frau nicht wünschen", freute sich die Lady. „Trotzdem musst du noch viel im Umgang mit Mädchen lernen."

„Was meinen Sie?"

„Deine Freundin natürlich."

„Soll das mein Fehler sein? Sie stellt sich doch quer!"

„Das siehst du falsch. Mädchen dürfen Geheimnisse haben, Jungs nicht."

„Sollen wir ihnen also alles erzählen, während sie die Klappe halten dürfen?"

„Nein – aber es hilft stellenweise sehr, wenn irgendeiner den Anfang macht. Und es zeugt von Mut, der Erste dabei zu sein", erklärte sie geduldig. „Außerdem ist es die Natur von Geheimnissen, dass sie an die Oberfläche drängen."

„Dann sind wir wohl beide Feiglinge", gab Tarsuinn zu.

„Mein Tipp ist…", sagte sie verschwörerisch, „…versuch es mal mit Schreiben. Da kann man besser verhindern etwas zu sagen, was falsch verstanden werden könnte."

„Ich weiß nicht…", zweifelte Tarsuinn.

„Hast du Angst sie als Freundin zu verlieren, wenn du ihr dein Geheimnis anvertraust?"

„Ja."

„Dann solltest du daran denken, dass du sie mit Schweigen garantiert verlierst."

Er dachte darüber eine Weile nach.

„Ich find diese Gespräche mit den etwas Älteren hier nervig. Man zieht in der Argumentation immer den Kürzeren", brummte er frustriert, aber ließ die Lady keinen Augenblick aus den Augen.

„Denk in Ruhe darüber nach", sagte sie und schwebte davon, nahm ein wenig entfernt von ihm eine sitzende Position ein und begann zu lesen. Sie wand ihm den Rücken zu und anscheinend verdeckte eine Rückenlehne einen Teil ihres Körpers, denn er konnte nur die Beine sehen und alles, was über den Schulterblättern lag.

Sinnend schaute er der Lady zu.

Eigentlich wollte er über ihre Worte nachdenken, wie sie ihn gebeten hatte, doch zu sehen war so…

Die Tür, die zu den Mädchenschlafsälen führte, wurde geöffnet und energische Schritte kamen zu Tarsuinn herüber. Er wartete, bis die Person neben ihm stand, hörte sie tief einatmen um zu sprechen und konnte es nicht lassen…egal was die Lady über seinen Umgang mit Mädchen gesagt hatte.

„Hallo Penelope, solltest du nicht schon längst im Bett liegen und schlafen?", begrüßte er die Vertrauensschülerin, so ernst er konnte.

Sie stieß überrascht die gesammelte Luft aus, als wäre sie ein Luftballon.

„Du…du…solltest…", sagte sie zornig.

Er gönnte ihr einen – Was denn? – Blick.

„…du gehst sofort ins Bett!", befahl sie.

„Nee – wenn ich da Licht mache um zu lesen, dann störe ich die anderen beim Schlafen! Ich bleib lieber hier."

Für einen blinden Jungen war das eine ziemlich freche Antwort, fand selbst Tarsuinn und seine Mundwinkel zuckten nach oben.

„Du sollst schlafen gehen!", stellte sie laut klar.

„Pst, nicht so laut, du weckst noch die anderen."

„Ich sagte: Ab ins Bett!", befahl sie, jetzt deutlich leiser.

„Ich hab doch schon geschlafen, Penelope", erklärte er. „Ich schlafe selten länger als vier Stunden am Tag."

„Du kannst mir viel erzählen. Aber ich glaub so nen Stuss sicher nicht"

„Das tue ich nicht, Penelope. Ist dir denn nie aufgefallen, dass mich nie jemand schlafen gehen sieht und ich immer schon wach bin, bevor der Erste aufgestanden ist?"

„Um ehrlich zu sein – nein", antwortete sie deutlich zahmer.

Peinliches Schweigen folgte. Irgendwann drehte sich die Vertrauensschülerin um und wollte wieder gehen, doch Tarsuinn hatte beschlossen ein wenig Mädchenstudie zu betreiben.

„Penelope! Hättest du einen Moment?", bat er.

„Ja sicher", sagte sie und setzte sich in seine Nähe. „Ich bin schließlich Vertrauensschülerin."

„Ich habe vor gegen die Regeln zu verstoßen und möchte dich bitten mir zu helfen", sagte er frei heraus und ohne Einleitung. Er bekam zunächst keine Antwort.

„Hätte ich das etwas langsamer angehen sollen?", fragte er amüsiert.

„Ich denke schon", sagte sie daraufhin langsam. „Du kannst doch nicht eine Vertrauensschülerin so etwas fragen."

„Hab ich aber. Schließlich bist du kein Lehrer und hast du nicht gesagt, ich könne mich bei jedem Problem an dich wenden?"

„Ja schon, aber ich meinte nicht so was!"

„Ich werd dich schon nicht verraten", grinste er frech.

Er hörte sie deutlich durchatmen.

„Um was geht es denn überhaupt?"

„Ich brauche einen Ort, an dem ich ungestört diesen Trank brauen kann.

Er hob sein Tränke-Buch und öffnete die Seite mit dem Stärkungstrank, mit dem man Todkranken zu etwas mehr Zeit verhalf.

„Tränke brauen außerhalb des Unterrichts ist ein schweres Vergehen", sagte sie fest. „Warum gerade dieser? Wozu brauchst du den? Und woher hast du überhaupt dieses Buch?"

„Ein Professor hat es mir gegeben", antwortete er ihr. „Und den Trank brauche nicht ich, sondern meine Schwester."

„Der ist doch viel zu kompliziert für dich und es gibt bestimmt Bessere, um diesen Trank zu brauen", gab sie zu bedenken.

„Das geht nicht. Sie ist ein Muggel, ich bin ein Muggel, ansonsten haben wir keine Verwandten. Du kennst sicher das Gesetz – kein…"

„…Zauberer darf reine Muggel mit Magie heilen. Aber du darfst. Theoretisch."

„Ja! Ich darf laut Gesetz den Trank brauen, doch dazu muss ich die Schulregeln brechen."

„Ist es das Risiko wert?", fragte sie.

Tarsuinn fand das ziemlich unpassend.

„Ob es das Leben meiner Schwester wert ist? Lass mich mal kurz überlegen…", antwortete er kalt.

„Verzeihung", bat sie schnell. „Das war unüberlegt von mir. Ich meinte, steht es wirklich so schlimm um sie?"

„Sie sagt es nicht, aber sie muss immer häufiger beim Schreiben pausieren. Ich kann das in ihren Briefen an der Schrift fühlen. Ich fürchte, sie stirbt lange bevor ich meine letzte Chance verspielt habe. Ich vermute, der mir das Buch gegeben hat, glaubt das auch."

„Hier steht, der Trank muss unter offenem Himmel gebraut werden", bemerkte sie zweifelnd.

„Ja, leider", gab er zu.

„Die Zutaten hast du?"

„Sind hoffentlich auf dem Weg."

Tarsuinn ging davon aus, dass ihre letzte Frage, eine gewisse Zustimmung beinhaltete.

„Ich frag jetzt lieber nicht, wer dir diese Substanzen besorgt und ich schätze, wenn ich dir nicht helfe, dann machst du es trotzdem?!"

Er nickte.

„Dann bin ich mir sicher, der beste Platz für dich ist oben auf dem Kastell", sagte sie tief durchatmend. Es schien sie viel Überwindung zu kosten.

„Wo ist das?"

„Genau über uns. Unser Turm ist der zweithöchste Punkt des Schlosses und man kann aufs Dach. Die Zinnen sind relativ hoch. Selbst wenn du stehst, sollte dich niemand sehen können. Du musst mir nur versprechen, nie da oben zu sein, wenn Quidditchtraining oder Flugstunden sind."

„Ich könnte immer nur nach Mitternacht da oben sein, dann besteht diese Gefahr nicht", bot Tarsuinn an.

„Du musst daran denken, dass andere den Lichtschein sehen können, den dein Brenner macht."

„Ich bastle einen Sichtschutz."

„Keine schlechte Idee."

„Wie komme ich überhaupt auf den Turm?"

„Das ist einfach. Geh so hoch wie die Treppen gehen und sag: Ich möchte die Aussicht genießen. Dann kommt eine Leiter herunter und du kannst raufklettern. Wenn du dann wieder runter willst, brauchst du nur: Ich hab genug gesehen, sagen."

„Kann ich dann davon ausgehen, dass du dieses Gespräch vergisst?", fragte er.

„Ja", sagte sie langsam.

„Trotzdem das Ravenclaw die Hausmeisterschaft kosten könnte?"

„Wenn es sein muss", sagte sie gepresst und eindeutig unglücklich.

Tarsuinn beschloss, sie etwas aufzumuntern.

„Danke. Du bist richtig in Ordnung", sagte er freundlich. „Ich werde niemandem von deiner Hilfe erzählen."

„Ja – schon gut. Ich geh jetzt besser ins Bett", wehrte sie säuerlich ab.

„Eine Frage noch", hielt Tarsuinn sie auf.

„Ja?"

„Warum ist dir das mit der Hausmeisterschaft so übertrieben wichtig?"

„Übertrieben?"

„Ja! Jeder will gern gewinnen, aber du bist fast besessen davon."

So, jetzt würde sich herausstellen, ob die Graue Lady Recht gehabt hatte.

Zunächst schwieg Penelope eine Weile. Wahrscheinlich, weil sie erst mal nachdenken und mit sich ringen musste.

„Wenn du es weiter erzählst, verfluche ich dich", drohte sie plötzlich.

„Ich werd mich hüten. Es reicht schon, wenn das die Slytherins tun."

„Nun gut", sagte sie und es klang fast, als wäre sie froh, es erzählen zu können. „Ich will dieses Jahr unbedingt gewinnen, weil ich… ich will einmal, ein einziges Mal, Percy schlagen."

„Wer ist Percy?"

„Du weißt schon, der Vertrauensschüler der Gryffindors."

„Mit dem liegst du in Fehde? Warum?"

„Nicht direkt in Fehde", sie schluckte hörbar. „Warum erzähl ich das überhaupt einem Elfjährigen. Du verstehst das eh nicht."

Er kommentierte dies nicht. Trotz ihrer letzten Aussage fuhr Penelope fort.

„Percy ist mein, na ja, vielleicht ist er mein Freund. Weißt du, etwas mehr als ein einfacher Freund."

Eigentlich wusste er es nicht, aber er hatte eine Vermutung.

„Er ist dein Verlobter?", fragte er unsicher.

Sie lachte etwas zu laut auf, um selbstbewusst zu wirken.

„Sagen wir es so – wir haben uns recht gern, glaube ich."

„Und warum willst du ihn dann unbedingt besiegen?"

„Weil er immer gewinnt. Jedes Mal, wenn wir wetten, gewinnt er. Ich mag ihn ja, aber dafür hasse ich ihn auch. Einmal möchte ich am Ende lachen und nicht nur gute Miene zum bösen Spiel machen müssen."

„Und du hast mit ihm gewettet, dass wir den Pokal gewinnen?"

„Nicht ganz! Eigentlich müssen wir nur besser als Gryffindor sein."

„Das erreichst du aber nicht, wenn du alle Ravenclaws vor den Kopf stößt", versuchte er es mit ein wenig vorsichtiger Kritik.

„Wie kommst du darauf, ich würde alle…", wehrte sie ab.

„Du merkst es gar nicht, aber du bist wie ein Drillseargent hinter allen her", unterbrach er sie. „Mach dies, mach das, lass das sein und so weiter. Keiner mag das. Und wenn das so weiter geht, wird dich keiner mehr mögen."

„Es ist aber meine Verantwortung als Vertrauensschülerin."

„Ich glaub nicht, dass dich dieser Ehrenposten zwingt, gegen deine Mitschüler zu arbeiten. Ich dachte, ein Vertrauensschüler ist ein Mittler zwischen Schülern und ihren Hauslehrern und gleichzeitig Hilfe für beide Seiten."

Zeit verging.

„Bist du wirklich erst elf?", fragte sie nach einer Weile.

„Soweit ich weiß – ja."

„Du wirkst älter, wenn du so sprichst."

„Das ist nur der Schein. Man hat mir vor einer halben Stunde auch erst die Nase in die…"

„Na!", mischte sich die Graue Lady beiläufig ein.

„Mir wurden einige Dinge klar gemacht", korrigierte er sich schnell.

„Ich dachte, du kannst keine Geister hören?", fragte Penelope misstrauisch.

„Das ist der Zauber von Halloween!", erklärte Tarsuinn lächelnd, die Worte Lady Hamiltons nutzend. „Morgen ist leider wieder alles vorbei."

Die Graue Lady drehte sich ihm zu und nickte bestätigend. Sein Lächeln wurde breiter und er nickte zurück. Dann flackerte das Gespenst plötzlich.

„Du kannst sie auch sehen?", fragte Penelope verblüfft.

Das hatte er eigentlich nicht zugeben wollen, aber er war zu unvorsichtig gewesen.

„Ja", bestätigte er, da das Kind eh in den Brunnen gefallen war. „Sie ist wunderschön, nicht wahr?"

„Natürlich", bestätigte Penelope, nicht besonders überzeugt klingend.

Tarsuinn ließ ein wenig Zeit vergehen, dann schubste er Penelope leicht.

„Im Gegensatz zu mir, brauchst du Schlaf", sagte er ironisch. „Ab ins Bett mit dir!"

„Ich kann nur hoffen, dass du niemals Vertrauensschüler wirst", gab sie lachend zur Antwort.

„Drück mir die Daumen", entgegnete Tarsuinn. „Ich mach lieber Unsinn, als ihn zu verhindern."

„Ich werde auf dich aufpassen. Verlass dich drauf", drohte sie amüsiert.

„Gegen mich hast du keine Chance!", versprach er.

„Schlimm wird es erst, wenn du endlich zaubern kannst", versicherte sie ihm, dann strubbelte sie ihm kurz die Haare und ging zurück in ihren Schlafsaal.

„Sie ist netter, als ich dachte", murmelte Tarsuinn zu sich selbst und musste gleichzeitig zugeben, dass die Graue Lady mit ihren Tipps Recht gehabt hatte. Ein Geheimnis für ein anderes und im Endeffekt schien die Vertrauensschülerin sogar froh gewesen zu sein, es jemandem erzählen zu können.

Dankbar und anerkennend lächelte er der Grauen Lady zu, dann vergrub er seine Finger bis zum Morgen in seiner Enzyklopädie der Dunklen Artefakte. Er schaffte ungefähr die Hälfte, bevor es zum Frühstück ging, und danach warf er seine gesamte Tagesplanung – lesen, lesen, und außerdem lesen – über den Haufen und machte sich auf Gespenstersuche. Er hatte immer gedacht, es gäbe nur die Hausgeister und Peeves, aber dem war bei weitem nicht so. An allen Ecken und Enden traf er auf die Geister der Verstorbenen. Manche sahen dabei so harmlos aus, wie zum Beispiel Sir Nicholas, das Hausgespenst der Gryffindors. Andere, wie der Blutige Baron, eher etwas martialischer. Trotzdem gefielen sie ihm alle. Selbst Peeves schaute er sich gern an, da dieser deutlich mehr Farbe aufzuweisen hatte, als der Rest der Gespenster. Natürlich gab Tarsuinn sich Mühe, sein Interesse nicht zu zeigen, damit Peeves nicht auf den Gedanken kam, dass heute die Regeln nicht gelten würden. Das war gar nicht so einfach, denn der Poltergeist schien beweisen zu wollen, dass Tarsuinn gar nicht blind war. Ständig täuschte Peeves Würfe auf ihn an oder kam laut schreiend auf ihn zugebraust. Da nicht zu zucken, war eine ziemliche Herausforderung für Tarsuinns Selbstbeherrschung.

Am Nachmittag, als alle sich schon ganz aufgeregt auf das abendliche Fest vorbereiteten, stieg Tarsuinn heimlich ganz nach oben im Turm der Gryffindors und sagte leise und übertrieben betont: „Ich möchte die Aussicht genießen!"

Ein leises Klacken und Knarren erklang, dann lotste Tikki ihn zu einer Leiter, mit deren Hilfe er sich und Tikki nach oben brachte.

Es war kühl draußen, genau genommen sogar ziemlich kalt. Er verstaute Tikki unter seinem Umhang und schlug die Kapuze über seine Ohren. Platz hatte er genügend hier oben. Der Turm war rund, mit einem Durchmesser von mindestens zehn Metern. Die Zinnen waren an der niedrigsten Stelle etwas höher als seine Schultern.

In seiner Fantasie konnte er Zauberer und Hexen sehen, wie sie an den Schießscharten standen und Drachen oder fliegende böse Magier abwehrten. Ein guter Platz zur Verteidigung und auch zum Brauen von Zaubertränken. Der Sichtschutz war hervorragend und der Raum mehr als ausreichend. Er musste sich nur um ein wenig Regenschutz für sich und sein Werkzeug kümmern. Ein paar Leinen und eine ausgebreitete Zeltbahn sollten da eigentlich reichen. Dann vielleicht noch ein paar Platten rund um den Brenner und man würde den Schein der Flammen sicher nur sehen, wenn man direkt über dem Turm schwebte. Es war perfekt, vor allem da er hier den Liedern des Verbotenen Waldes viel besser lauschen konnte. Er konnte diesmal sogar einzelne Stimmen heraushören. Stimmen, die ihn riefen. Verführerisch, verheißungsvoll, wunderschön. Er wollte…

„Aua!", rutschte es ihm heraus. Tikki hatte ihm ins Ohr gebissen. „Was soll das?"

Tikki schimpfte ausgiebig mit ihm und das, wie er feststellen musste, mit Recht, denn er war auf eine der Zinnen geklettert, war nur einen Schritt vom Abgrund entfernt und sein Umhang triefte vor Nässe.

„Ich muss in den Wald, ansonsten drehe ich durch", sagte er. Tikki hielt dies für eine blöde Idee und teilte ihm das auch deutlich mit.

„Wer weiß, ob ich nicht das nächste Mal springe!", argumentierte er.

Damit war Tikki auch nicht einverstanden.

„Nein, ich werde niemandem etwas sagen."

Noch mehr Geschimpfe.

„Hör auf, dich wie meine Schwester aufzuführen. Ich zwinge dich nicht mitzukommen."

Tikkis Schwanz wickelte sich fest um seinen Hals.

„Okay – das ist deutlich. Wenn ich erstickt bin, kannst du mich dann loslassen. Aber vorher gehen wir ins Warme. Hier oben findet man meine Leiche wahrscheinlich erst in ein paar Tagen."

Er kletterte wieder nach unten, wechselte seine Sachen, legte sich dann in sein Bett, zog die Vorhänge zu und schrieb einen Brief für Winona.

Hallo Winona,

man hat mir heute klar gemacht, dass Mädchen anders funktionieren als Jungs und ich Dich deshalb vor den Kopf gestoßen hab. Aber vielleicht verstehst Du es, wenn Du dies jetzt liest.

Seit ich in der Zaubererwelt bin, sind mir einige wirklich seltsame Dinge passiert. Einige wirklich tolle, einige recht beängstigende.

Nun, Du erinnerst Dich sicher an die leeren Seiten in dem Buch, die ich vor Dir verborgen habe. Sie waren zusammengeklebt und die Tinte gelöscht, doch die Kerben des Drucks konnte ich noch erfühlen. Was ich dort lesen konnte, gehörte zu den beängstigenden Dingen.

Ich schreib Dir am besten auf, was ich entziffert habe. Bilde Dir selbst ein Urteil.

Die Unberührbaren Zauberstäbe

Nur wenige Geschichten sind so widersprüchlich, wie die der Unberührbaren Zauberstäbe. Sie gehörten lange Zeit zum Leben der Zaubergesellschaft in Europa. Heutzutage werden sie eher der Folklore zugeordnet.

Meine Nachforschungen haben jedoch ergeben, dass dem nicht so ist. Lässt man die romantisierten Versionen der Neuzeit außer Acht und konzentriert sich auf die überlieferten Schriftstücke, welche einen real nachgewiesenen, zeitgeschichtlichen Hintergrund beinhalten, dann entdeckt man regional übergreifende Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame Entstehungsgeschichte und einen realen Hintergrund nahe legen.

Prinzipiell kann man zusammenfassen, dass alle Unberührbaren Zauberstäbe aus einem reinen Material gefertigt sein müssten, welches durch dunkle Rituale auf eine abnormale Aura geeicht wird. Mögliche Materialien sind Kinder- oder Delphinknochen, der magische Stoff ist mit fast absoluter Sicherheit Blut oder die Essenz der Kinglu-Pflanze. Diese Kombination schafft, aktuellen Experimenten zufolge, eine harte Magie/Welt-Verbindung. Was diese Verbindung jedoch stabil hält, ist ein Geheimnis der Vergangenheit.

Dies ist wahrscheinlich die Erklärung für die Unberührbarkeit. Es gebraucht einen abnormen Geist und Körper, um solche Zauberstab berühren zu können.

In rund der Hälfte der Sagen braucht es ein sehr blutiges Ritual, um einen Unberührbaren Zauberstab auf sich zu eichen. Für einige recht detaillierte Schilderungen empfehle ich einen Besuch der Ozeanischen Internationalen Bibliothek von Atlantis, jedoch ist meinen Forschungen nach, keine der Beschreibungen genau und vollständig genug. Es muss sicher nicht zusätzlich erwähnt werden, dass man für die Durchführung dieser Rituale einen starken Willen und ein tiefgehendes Verständnis für Magie braucht.

Die anderen fünfzig Prozent der Legenden beschreiben jedoch eher eine angeborene Befähigung. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Personen, welche am Rande des Wahnsinns wandeln, meist körperlich verkrüppelt und von der Gesellschaft ausgestoßen sind. Bezeichnend ist, dass alle bekannten Magier der Geschichte, auf welche die Beschreibung passt, früher oder später die Kontrolle verloren und offen gewalttätig wurden. Meist gegen andere, manchmal gegen sich selbst.

Aus welchem Grund nun die Unberührbaren Zauberstäbe geschaffen wurden, lassen fast sämtliche Geschichten offen. Ausgehend von der Annahme über die möglichen Benutzer, kann es sich zum einen, um eine Möglichkeit handeln einen anderen – und eventuell mächtigeren - Zugang zur Magie zu finden oder aber es ging darum, magischen Personen mit einem geistigen– möglicherweise angeborenen und vererbbaren – Defekt, das Zaubern zu ermöglichen. Welche der beiden Annahmen die richtige ist, wage ich nicht zu entscheiden.

Auffällig ist jedoch, dass seit circa dem 18. Jahrhundert keine passenden Ereignisse in den Aufzeichnungen mehr zu finden sind. Desweiteren verschwinden immer mehr Quellen in privaten Bibliotheken oder werden gar zerstört. Desweiteren sind Forschungen auf diesem Gebiet sehr mit Vorurteilen behaftet und stoßen recht häufig auch auf aktiven Widerstand…

So – auf Seite zwei stand dann ein unerprobtes Rezept für die Herstellung eines Unberührbaren Zauberstabes und eine wirklich ekelhafte Beschreibung eines „Eichungsrituals", die ich Dir erspare.

Jetzt fragst Du Dich sicher, warum ich das alles aufschreibe, aber ich weiß nicht, wie ich sagen soll, dass ich keinen normalen Zauberstab berühren kann. Als ich bei Ollivander war, stand beim Ausprobieren sogar einmal meine Hand in Flammen! Der Zauberstab, den ich hier benutze, sieht nur wie einer aus, er ist jedoch innen hohl und niemand kann damit einen Zauber oder Fluch wirken. Hinzu kommt auch, dass einige der Beschreibungen in dem Text erschreckend genau auf mich passen und ich fürchte, sie könnten teilweise der Wahrheit entsprechen.

Ich hatte Angst, Du würdest Dich von mir zurückziehen, wenn Du die gleichen Schlussfolgerungen ziehst. Aber da Du das eh gemacht hast, ist es jetzt nicht mehr so schlimm.

Für einen Moment setzte er seine Feder ab. Konnte er den letzten Satz so stehen lassen? Sollte er noch mehr schreiben? Dass er einen Unberührbaren Zauberstab besaß? Noch nicht, aber etwas anderes fiel ihm ein.

Es ist etwas im Verbotenen Wald, was mich ruft. Ich hab das Gefühl, es ist wichtig. Ich werde mich heute während des Essens davonschleichen und sehen, was mich erwartet. Sollte ich morgen nicht zurück sein, kannst Du ja zu Professor Flitwick oder Professor Dumbledore gehen und es ihnen sagen.

Hoffe, wir treffen uns wieder

Tarsuinn

P.S.: Achte auf Tikki, wenn ich wieder da bin. Ich schätze, an ihr kann man recht gut erkennen, ob ich durchgedreht bin.

P.P.S.: Und komme ich ohne Tikki zurück, kannst Du mich auch gleich umbringen.

Was für ein dramatischer Abschluss. Völlig übertrieben. Er trennte das P.P.S. vom Brief ab, verpackte den Rest in einen dicken Umschlag und versiegelte diesen mit Wachs.

Froh war Tarsuinn über sein Geschriebenes nicht. Er hatte es nicht geschafft, die volle Wahrheit zu schreiben, aber schließlich musste er auch damit rechnen, dass es die falsche Person zu lesen bekam. Er fühlte sich nun ein wenig besser, vor allem da jetzt jemand wusste, wohin er heute Abend gehen würde. Hoffentlich reagierte Winona gelassen und mobilisierte nicht gleich das gesamte Schloss, wenn er ein wenig später zurückkam.

„Kommst du?", unterbrach Merton Tarsuinns Gedanken, indem er an den Bettpfosten klopfte. „Das Fest beginnt bald."

„Ja, klar. Ich komme gleich. Muss man sich dafür anders anziehen?", fragte Tarsuinn, schließlich war das sein erstes Halloween und er wusste nicht, was angemessen war.

„Du musst dir einen rein schwarzen Umhang umlegen, dir eine Perücke mit schulterlangen schwarzen Haaren aufsetzen, diese in Unmengen Gel tunken und dir eine lange Hakennase anzaubern", erklärte ihm Merton ernsthaft.

„Ich hab nichts dergleichen da", gestand Tarsuinn bedrückt, was ihm ein schallendes Gelächter einbrachte. Er verbarg den Brief in seiner Tasche, dann kletterte er aus dem Bett.

„Ich denke, es reicht auch, wenn ein Snape rum läuft", sagte Merton amüsiert.

„Oh, sehr witzig", grinste auch Tarsuinn. „Und wo wolltest du mich begraben?"

„Ich hab gehört, du magst den Rand des Verbotenen Waldes sehr", antwortete Merton, wobei der Satz gegen Ende etwas von seiner Fröhlichkeit verlor. Tarsuinn tat so, als hätte er es nicht gehört.

„Aber ich verlange den protzigsten Grabstein, damit Filch immer daran erinnert wird, dass ich niemals Hogwarts verlassen habe. Oder noch besser, ich werd ein Gespenst und spuke Snape und Filch in den Wahnsinn."

So übel war die Vorstellung gar nicht.

„Das wäre toll", sinnierte Merton und beeilte sich dann erschrocken hinzuzufügen. „Nicht, dass ich deinen Tod begrüßen würde."

„Ansonsten wärst du mein drittes Opfer", genoss es Tarsuinn ihn zu quälen. „Aber bevor es soweit kommt, ziehen wir hier heute durch die Schule und rufen: Süßigkeiten oder Saures?"

„Leider nein. Ist hier nicht üblich."

„Schade! Ich hätte so gern in Filchs Büro eine Stinkbombe gezündet", bedauerte Tarsuinn ehrlich.

„Das können wir heut Abend trotzdem machen", schlug Merton begeistert vor. „Die Älteren durften doch heut nach Hogsmeade. Ich hab mir ein paar Feuerwerkskörper und Stinkbomben mitbringen lassen."

„Super, wenn Filch dann heut Abend von der Feier zu seinem Büro kommt, wird er das ganze Aroma genießen. Hat er mal verdient."

„Das Problem ist, dass Mrs Norris immer die Schule durchstreift, wenn Filch am Lehrertisch sitzt."

Das war tatsächlich ein Problem. Doch Tarsuinn hatte die Lösung.

„Wir bitten Cassandra, uns etwas Katzenminze zu überlassen", schlug er vor.

„Und wenn sie keine hat?"

„Dann müssen wir ihre Katze fragen, warum sie manchmal danach riecht."

„Aber Cassandra wird fragen, wozu wir das brauchen. Du weißt doch wie sie ist. Korrekt bis zum Abwinken. Man könnte sie fast für einen Penelope-Klon halten."

„Dann gönnen wir Snapes Büro auch eine kleine Überraschung. Sie hasst Snape, weil er sie immer mit der Eleganz einer Seekuh an Land vergleicht."

„Das könnte sie überzeugen", sagte Merton und seine Stimme war angereichert mit Vorfreude.

Auch Tarsuinn konnte eine aufsteigende Fröhlichkeit kaum unterdrücken. Sollte der Wald wirklich so gefährlich sein, wie Hagrid und die anderen Lehrer immer betonte, dann konnte das so was wie ein Abschiedsgeschenk werden.

„Okay – aber ich bekomme Snape, abgemacht?", fragte Tarsuinn ein wenig später auf dem Weg zum Fest.

In der Tasche seines Umhangs steckte nun auch ein kleines Kissen, welches mit getrockneter Katzenminze gefüllt war. Tikki ritt stolz auf seiner Schulter, so als würden sie zu einem Empfang zu ihren Ehren gehen.

„Nur zu. Ich bin nur an Filch interessiert", antwortete Merton flüsternd. „Dank ihm durfte ich vor einer Woche drei Stunden lang den Misthaufen am Gewächshaus umsetzen."

„Oh je!", sagte Tarsuinn mit gespieltem Entsetzen, als sie den Eingang der Großen Halle erreichten und er McGonagalls Stimme hören konnte.

„Was?", erkundigte sich Merton besorgt.

„Ich hoffe, McGonagall wird nicht zu anschmiegsam", erklärte Tarsuinn und holte kurz das Kissen aus seiner Tasche. „Wäre doch etwas peinlich."

Einen Augenblick lang war es ruhig, dann brach Merton in schallendes Gelächter aus.

„Was für eine Vorstellung", japste er.

„Ich weiß nicht, wie ich es überspielen sollte, wenn sie ihren Kopf an meiner Tasche reibt", legte Tarsuinn nach. Merton musste daraufhin anhalten und sich an einer Wand festhalten.

„Wie es wohl klingen mag, wenn sie liebevoll schnurrt?"

„Hör auf!", bat Merton.

„Geht es Ihnen gut, Mr Philips?", erkundigte sich plötzlich Professor McGonagall, die, für Merton unbemerkt, näher gekommen war. Ihre Stimme schwankte zwischen echter Besorgnis und leichtem Missfallen.

„Alles in Ordnung, Professor", versuchte sich Merton zusammenzureißen, doch es gelang ihm kaum. Er hatte eindeutig einen Lachkrampf, aus dem er nicht herauskam.

„Entschuldigen Sie ihn bitte, Professor", sagte Tarsuinn ernsthaft. „Die Fröhlichkeit des heutigen Tages und die Aussicht auf nette weibliche Begleitung haben sein Gefühlsleben stark durcheinander gewirbelt. Ich werde ihn an unseren Tisch bringen, auf dass er sich beruhigt."

Tarsuinn griff nach Merton und wollte ihn in den Saal bugsieren. Doch Professor McGonagall hielt ihn zurück.

„Mr Philips kann allein gehen. Sie, Mr McNamara, werden kurz auf einer Wort mit zur Seite kommen", bestimmte sie und ging in einen Seitengang. Tarsuinn folgte ihr.

„Gut, Mr McNamara", begann McGonagall nachdem sie nicht mehr gehört werden konnten. „Haben Sie Feuerwerkskörper, Stinkbomben oder Ähnliches dabei?"

„Nein, Professor!", konnte er ehrlich antworten. Merton hatte das ganze Zeug.

„Machen Sie mir nichts vor. Ich habe genug Unruhestifter kennen gelernt, um zu sehen, dass Sie etwas aushecken", unterstellte sie völlig zu Recht. „Leeren Sie bitte Ihre Taschen aus."

Tarsuinn kam ihrer Aufforderung gerne nach.

„Was ist das für ein kleines Kissen?", wollte sie nach einem Blick auf seinen Tascheninhalt wissen.

„Ein Geschenk", antwortete Tarsuinn und hoffte, Professor McGonagalls Geruchssinn war ihrer gegenwärtigen Gestalt angemessen.

„Von einem Mädchen?", fragte sie weiter.

„Ja", sagte Tarsuinn und versuchte einen schüchternen Tonfall zu benutzen.

„Gut. Sehen Sie zu, dass Sie auf die Party kommen", sagte McGonagall danach ein wenig sanfter.

„Danke, Professor", antworte er – vielleicht etwas zu schnell. Doch McGonagall ließ es dabei bewenden und so konnte er endlich in die Große Halle gehen. Ein unheimlicher Lärm empfing ihn. Versuchte man normalerweise bei den Mahlzeiten einen eher leisen Tonfall zu benutzen, so schien diese Regel heute außer Kraft gesetzt. Jeder unterhielt sich, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Was in seinen Ohren einen erheblichen Krach erzeugte und ihn ein wenig abschreckte.

Doch es gab einen Ausgleich dafür. Köstliche Gerüche durchfluteten seine Nase. Kuchen, Pudding, Sirup, Gummibärchen, Lakritz und viele andere Sachen, welche eines gemein hatten – sie waren meist unheimlich süß und zahnfeindlich. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen.

Enttäuscht war er jedoch etwas von den Geistern Hogwarts. Kein Einziger ließ sich bei Tisch blicken. Er hatte zwar heute schon viele von ihnen getroffen und sich mit einigen auch heimlich unterhalten, doch irgendwie hatte er gehofft, sie heute Abend gemeinsam und in all ihrer Pracht zu sehen.

Na ja – man konnte nicht alles haben. Er setzte sich auf seinen Stammplatz zwischen Winona und Merton. Tikki setzte er auf den Boden, so dass sie tun und lassen konnte, was sie wollte.

„Was hat die McGonagall von dir gewollt", fragte Merton neugierig, der sich inzwischen wieder gefangen hatte.

„Sie war auf der Suche nach Feuerwerk und Stinkbomben und hat mich meine Taschen leeren lassen", grinste Tarsuinn. „Natürlich hatte ich keine dabei."

„Da haben wir ja Glück gehabt", flüsterte Merton erleichtert. „Wenn sie mich meine Taschen hätte leeren lassen…!"

„Du warst zu auffällig", erklärte Tarsuinn. „Aber sie hat wirklich ein gutes Gespür. Muss man zugeben."

„Was habt ihr denn vor?", fragte Winona missbilligend. „Ich hoffe nichts Ungesetzliches!"

„Natürlich nicht, Cassandra", sagte Tarsuinn und verwechselte absichtlich den Namen. „Heut ist doch Halloween, das Fest des Friedens."

„Ahnt ich es. Lasst es bleiben, versteht ihr!"

„Wir überlegen es uns, Cassandra", antwortete Tarsuinn verärgert.

„Hör auf mich Cassandra zu nennen. Das trifft mich nicht, denn sie hat Recht, wenn sie euch von Unsinn abhält!", giftete sie ihn an.

„Vor zwei Wochen hättest du noch begeistert gefragt, ob du mitmachen darfst. Und jetzt spielst Du plötzlich die unschuldige Jungfrau Maria", pflaumte er sie an. „Es ist so, als wärst du schon tot."

„Ach, ist mir doch egal, wenn ihr Ärger bekommt", tat sie beleidigt und trat viel zu früh den Rückzug an. Tarsuinn hörte, wie sie sich demonstrativ von ihm abwandte.

Innerlich fluchte er über sich selbst. Eigentlich hatte er mit ihr reinen Tisch machen und nicht auch noch weiteren Streit anfangen wollen. Die gute Laune war verflogen. Lustlos aß er ein paar kleine Stücke Kuchen und lauschte auf die Gespräche um sich herum. Irgendwann wurde ihm dann dieses stille Herumsitzen zu dumm. Er beugte sich zu Merton, der Ian und Alec gerade intensiv über Quidditch ausfragte.

„Ich lenke dann schon mal Mrs Norris ab", flüsterte er.

Danach stupste er Winona sacht in die Seite. Sie ignorierte das zunächst, doch nach dem dritten Versuch, drehte sie sich abrupt herum.

„Was?", zischte sie unfreundlich.

Er legte ihr unter dem Tisch den Brief auf den Schoß.

„Lies ihn, wenn du allein bist oder verbrenn ihn, mir egal. Aber bitte – er ist nur für dich bestimmt", sagte er leise, dann stand er auf und verabschiedete sich von den anderen.

„Tut mir Leid, es ist mir einfach zu laut. Ich komme nachher wieder, mit etwas Watte im Ohr", log er und verließ möglichst normal wirkend die Halle, wobei er sich ab und zu die Ohren rieb, als würden ihn diese schmerzen.

„Tikki? Kannst du Mrs Norris für mich finden?", fragte er, nachdem er sich ein wenig vom der Halle entfernt hatte und niemand in seiner Nähe zu hören war.

Tikki sprang sofort von seiner Schulter und führte ihn durchs Schloss. Sie fanden die Katze vor Filchs Büro, wo sie anscheinend Wache hielt. Sie fauchte Tarsuinn und Tikki laut an. Anscheinend hatte sie ihre erste Begegnung nicht vergessen.

„Sei nicht mehr böse, Mrs Norris", säuselte Tarsuinn, holte das Kissen aus seiner Tasche und näherte sich in der Hocke langsam der Katze. „Ist eine Entschuldigung."

Allmählich wurde das bösartige Fauchen zum interessierten Schnüffeln. Doch Mrs Norris war keine normale Katze. Sie blieb auf ihrem Posten, so schwer es ihr anscheinend auch fiel. Doch Tarsuinn wusste schon, dass er gewonnen hatte. Er legte das Kissen sacht vor der Katze ab.

„Wir wollen nichts anstellen", versicherte er, langsam wieder zurückgehend. „Wir verschwinden jetzt."

Das war einfacher gesagt als getan, denn Tikki war definitiv nicht damit einverstanden, dass Mrs Norris ein Spielzeug von Tarsuinn geschenkt bekam und war schon fast auf dem Weg, um es der Katze streitig zu machen. Nur mit großer Überredungskunst und Unmengen Streicheleinheiten gelang es ihm, einen Kampf zu verhindern.

Er zog sich mehrere Ecken weit zurück, dann lauschte er angespannt. Wenige Minuten später konnte er lächelnd seinen Weg fortsetzen. Das laute Schnurren einer Katze, die sich anscheinend gerade herumwälzte, erreichte seine Ohren und er wusste, der Zauber Halloweens zog gerade auch Mrs Norris in seinen Bann.

Das sollte Merton freie Bahn verschaffen. Er selbst kümmerte sich nicht um Snapes Büro, sondern schlich sich nach draußen, rannte dann so schnell wie möglich über die Wiese vor dem Schloss und erreichte – nur einmal hingefallen – den Wald. Hoffentlich hatte ihn niemand gesehen. Vor allem da ihm gerade einfiel, dass er sich nicht darum gekümmert hatte, ob Hagrid nun auf der Feier war oder nicht. In dessen Hütte war es zumindest still. Auch von Fang war nichts zu hören.

Tikki wollte hochgenommen werden und Tarsuinn kam der Bitte nach. Jetzt, wo er sich darauf konzentrieren konnte, hörte er die Lieder des Waldes so klar wie nie zuvor und da war es sicher ganz gut, wenn Tikki die Möglichkeit hatte ihn ins Ohrläppchen zu zwicken, sollte er wieder die Kontrolle über sich verlieren.

Deutlich langsamer ging er tiefer in den Wald. Er fühlte sich elend bei dem Gedanken, wie viele Punkte er damit von Ravenclaw riskierte, wie viele Leute er indirekt angelogen hatte und dass einige von ihnen sich vielleicht Sorgen machen würden. Das Erstaunliche dabei war, dass er überhaupt keine Angst hatte. Er konnte all das nächtliche Leben hier hören und auch fühlen. Es beunruhigte ihn überhaupt nicht, dass wenige hundert Schritt entfernt ein großes Tier gerade einem kleinen den Gar ausmachte.

So ging er sicher eine Stunde lang immer tiefer in den Wald. Solange er voranschritt, bestand auch keine Gefahr, dass sein Verstand sich ausschaltete. Nur wenn er versuchte umzukehren, hatte er das Gefühl, sein Gehirn würde in einen Schwamm verwandelt und langsam jeder Flüssigkeit beraubt. Das vermochte ihn doch ein wenig zu beunruhigen, aber das war inzwischen völlig egal. Wenn man einmal eine Stunde lang in den Wald gelaufen war, dann war um Hilfe schreien relativ bis absolut sinnlos.

Eine weitere Stunde verging, ohne dass etwas passierte, wenn man von einer zunehmenden Wildheit des Waldes absah. Viel Strecke legten er und Tikki nicht zurück. Ständig musste er über umgestürzte Bäume klettern und kleine Umwege in Kauf nehmen. Langsam fragte er sich, ob er jemals erreichen würde, was ihn rief. So, wie bei einem Regenbogen, schien sein Marsch kein Ende zu nehmen. Es war inzwischen so spät, dass er es garantiert nicht mehr zum Fest zurück schaffen würde, bevor dieses endete. Ravenclaw-Führung ade!

Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt, als er endlich doch den Geburtsort seines musikalischen Regenbogens erreichte.

Es war eine Hütte. Eine Hütte, die wie ein kleines Hogwarts auf ihn wirkte. Nicht aufgrund des Baustiles, sondern weil er die Mauern spüren konnte. Nur dass diese hier nicht so gut erhalten waren.

Dafür war das Empfangskomitee vom Feinsten.

Zehn Gespenster, eines schöner als das andere und alle mit freundlichem Lächeln auf den Lippen, schauten ihm unter einem Vordach der Hütte entgegen. Niemand sprach ihn an, doch alle bedeuteten ihm freundlich einzutreten. Langsam schritt er zu ihnen und sofort wurde ihm kalt.

„Guten Abend", grüßte er, doch die einzige Antwort, die er erhielt, war erneut die wortlose Einladung. Intensiv musterte er die Geister. Alle waren wirklich jung und schön. Wie bei der Grauen Lady, konnte man nicht sehen, woran sie gestorben waren.

Er zögerte ein wenig. Der helle, fröhliche Teil des Liedes, welchem er folgte, kam eindeutig von hier. Aber der düstere Anteil erklang von irgendwo anders, er konnte nicht genau sagen woher. Und der gefiel ihm eigentlich viel mehr. Er setzte Tikki auf den Boden.

„Besser du wartest hier, Tikki", sagte er.

Sie war nicht wirklich damit einverstanden, aber sträubte sich auch nicht wirklich. Tikki mochte keine Geister. Laut Winona knurrte sie beständig den Fetten Mönch und vor allem den Blutigen Baron an.

„Ich ruf dich, sollte es Probleme geben. Versprochen!", versicherte er ihr, dann wandte er sich wieder den Geistern zu.

„Darf ich eintreten?", vergewisserte er sich.

Ein zehnfaches Nicken war die Antwort.

„Na dann – danke!", sagte er und trat vorsichtig ein.

Hoffentlich war der Fußboden in besserem Zustand, als die Wände draußen.

Kaum war er drin, fragte er sich, warum Magier immer tricksen mussten. War es denn wirklich nötig die Wände so eng zu bauen? Seine Wahrnehmung spielte für eine Weile absolut verrückt. Entweder stand er mitten im Weltall und fiel ins Bodenlose oder aber man hatte ihn eben in einer Streichholzschachtel eingesperrt.

Aber als sich seine Gefühle an alles gewöhnt hatten, fand er sich für das Fernbleiben der Hogwartsgeister vom Fest deutlich entschädigt. In einem heruntergekommenen Ballsaal, der vielleicht halb so groß wie der Große Saal der Schule war, tummelten sich um die einhundert Geister, die alle ihn anschauten und sich aufrichtig zu freuen schienen. Wieder sprach niemand, aber die Musik erklang hier, als würde eine unsichtbare Kapelle musizieren. Farben umspielten Tarsuinn.

Fasziniert ging er in die Mitte des Saales. Er versuchte, sich jeden einzelnen Geist anzusehen. Wie auch das Empfangskomitee, sahen alle fast normal aus. Als wären sie jung im Bett gestorben. Manche winkten ihm zu, andere machten einen Knicks oder verbeugten sich. Er mochte zwar der einzige Lebende hier sein, aber diese Aufmerksamkeit war übertrieben. Es war, als hätte man ihn – und nur ihn – hier erwartet. Die vielen ungewohnten Blicke schüchterten ihn ein wenig ein.

Er drehte sich langsam einmal im Kreis und als er einmal herum war, stand da plötzlich ein Geist direkt vor ihm. Er musste ein stattlicher Mann gewesen sein und er war recht – kontrastreich. Ein anderes Wort fiel Tarsuinn nicht ein. Nicht so greifbar wie Peeves, aber weit farbiger als alle anderen Gespenster. Tarsuinn fehlte ein wenig die Erfahrung, um das Alter dem Aussehen nach zu schätzen, aber trotzdem war er sich sicher vor einem Mann zu stehen, der lange Zeit gelebt hatte. Vielleicht war er vierzig, vielleicht älter. Seine Kleidung sah vornehm aus, altmodischer noch als die der Grauen Lady und des Fast Kopflosen Nicks.

Nicht genau wissend was er tun sollte, entschied Tarsuinn sich für eine harmlose Geste – er verbeugte sich.

Das brachte seinen Gegenüber zum Lachen. Ein recht gutmütiges, wie Tarsuinn bemerkte. Die anderen Geister stimmten darin ein.

„Ein wohlerzogener Suchender. Welch erfrischende Abwechslung!", verkündete der Geist dröhnend und versuchte Tarsuinn freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen, was natürlich nicht funktionieren konnte und nur für einen kalten Schauer sorgte.

„Ich bin nur unsicher, nicht vorzugsweise höflich", relativierte Tarsuinn, nur um noch mehr Gelächter zu erzeugen.

„Ja natürlich. Ist wohl etwas anders hier, als du es dir vorgestellt hast?", erkundigte sich der Geist.

„Ich hatte eigentlich nur ein Wesen erwartet", gab Tarsuinn zu. „Das Lied klang zunächst nicht nach einem Chor."

„Nicht alle unsere Stimmen tragen weit", erklärte der Geist. „Aber ich bin selbst sehr unhöflich – ich sollte mich dir vorstellen. Mein Name ist Sir Oliver."

„Tarsuinn McNamara."

Für einen Augenblick glaubte Tarsuinn, er hätte ein unangenehmes Zucken im Gesicht des Geistes gesehen, doch er war nicht sonderlich gewandt darin, Gesichtzüge zu lesen. Seine Erfahrungen damit waren nur knapp zweiundzwanzig Stunden alt.

„Erfreut dich kennen zu lernen, Tarsuinn", sagte der Geist mit seiner freundlichen Stimme. „Dies wird ein besonderer Tag für dich werden."

„Das ist er schon, Sir", versicherte Tarsuinn. „Wobei ich wirklich keine Ahnung habe, was mich hier erwartet."

„Du willst wissen, was dich hier erwartet? Sind die Aufzeichnungen inzwischen alle so unvollständig oder gar vernichtet?"

„Ich habe bisher nichts über dieses Haus, oder über das, was mich hier erwartet, gelesen, noch konnte es mir jemand sagen", erklärte Tarsuinn.

Das führte zu einem entsetzten Raunen im Saal. Die Geister tuschelten miteinander. Sir Oliver gebot mit einem Wink Ruhe.

„Nun, zumindest ist es dir gelungen den ersten Schritt zu tun und hierher zu kommen. Mit deiner Hilfe werden wir wieder in das Bewusstsein der Menschen zurückkehren. Trotzdem ist es sicher schwierig für dich, alles das zu verstehen. Deshalb will ich erst einmal mit dem Wesentlichen beginnen."

Sir Oliver machte eine effektvolle Pause.

„Du, Tarsuinn, bist zu etwas Großem bestimmt. Du wirst ein machtvoller Zauberer werden und die Menschen anleiten, eine bessere Welt zu erschaffen."

„Eigentlich will ich nicht in die Politik oder irgendein großes, weltbewegendes Werk vollbringen", wehrte Tarsuinn ab.

„Aber du wünschst dir doch mehr magische Macht?", fragte Sir Oliver.

Tarsuinn wäre schon mit einem bisschen Macht zufrieden, doch das konnte er nicht zugeben. Sir Olivers Augen glühten vor Begeisterung.

„Ja!", sagte er deshalb nur.

„Doch wofür? Du willst doch nicht etwa Macht um der Macht willen", erkundigte sich der Geist.

Tarsuinn schüttelte entschieden mit dem Kopf. Um ehrlich zu sein, war die Magie ihm ziemlich egal. Er wollte seine Schwester geheilt wissen. Dazu brauchte er Magie, alles danach war vollkommen belanglos.

„Du willst die Magie gar nicht für dich?", vermutete Sir Oliver, welcher Tarsuinn die ganze Zeit genau musterte. „Wer braucht denn deine Kraft so sehr?"

„Meine Schwester", erklärte Tarsuinn leise.

„Sie wird bald sterben, nicht wahr?"

Wieder nickte Tarsuinn.

„Ich kann ihr Leben nur etwas verlängern, wenn ich Glück habe", gestand er stockend.

„Vielleicht!? Vielleicht kannst du aber auch mehr tun", sagte Sir Oliver mysteriös. „Komm folge mir."

Mit diesen Worten schwebte er auf eine Balustrade hinauf. Tarsuinn nahm den Umweg über die Treppe. Die Geister machten ihm freundlich Platz.

Oben angekommen sah er noch, wie Sir Oliver durch eine Tür ging. Wieder folgte er neugierig, wobei er natürlich daran dachte, die Tür vorher auch zu öffnen. Dahinter blieb er erst mal einen Augenblick mit offenem Mund stehen. Er stand in einer Bibliothek, die keinen Vergleich mit der in Hogwarts scheuen musste. Außer, dass hier die Bücher die Klappe hielten und er sie sehen konnte. Sie mussten teilweise uralt sein. Von Sir Oliver war nirgends etwas zu sehen.

„Hierher, Tarsuinn", erklang es links von ihm. „Ich denke, dieser Bereich hier könnte dich interessieren."

Er ging der Stimme nach und fand den Geist auf ein Regal deutend. Tarsuinn trat hinzu und studierte die Titel.

Neben dem ihm schon vom Namen her bekannten Buch: Die dunklen Wege der Heilung, gab es hier auch noch Bücher wie: Übertragung – Wie mache ich mir die Kräfte der Tiere zu eigen?... Länger Leben – Möglichkeiten und Grenzen der LebenskraftübertragungHeiltränke für FortgeschritteneDie Heilkräfte der Pflanzen und Tiere… oder Heilkräfte von Dämonen und deren Herbeirufung.

„Eine unglaubliche Auswahl", sagte Tarsuinn staunend.

„Das stimmt und es ist an der Zeit,ihr neue Werke hinzuzufügen."

Tarsuinn ließ noch einmal seine Finger über die Buchrücken gleiten.

„Keines der Bücher ist jünger als fünfzig Jahre", stellte er fest.

„Richtig. Deshalb freuen wir uns ja so, dass du neue hinzufügen wirst."

„Ich?", fragte Tarsuinn erstaunt.

„Natürlich!", lachte Sir Oliver wieder. „Der baldige Besitzer wird doch hoffentlich seine Bibliothek pflegen."

„Der baldige…ich…ähem…das geht doch nicht", stammelte er erschrocken.

Wieder lachte Sir Oliver schallend.

„Und ob das geht!", erklärte der Geist amüsiert. „Komm!"

„Warten Sie! Kann ich mir eines der Bücher schon jetzt – ausleihen?", fragte er hoffnungsvoll.

„Du könntest schon, aber es würde nichts bringen. Erst der Besitzer kann darin lesen. Doch komm. Es gibt noch viel zu entdecken."

Sir Oliver führte ihn wieder in den großen Eingangssaal und schritt auf eine weitere Tür zu.

„Dein künftiges Studierzimmer der Vergangenheit und Gegenwart", verkündete er.

Tarsuinn öffnete die Tür und schaute in einen gemütlich eingerichteten Raum mit Schreibtisch, Kamin, Sesseln und leiser, beruhigender Musik.

„Dein Esszimmer."

Ein Raum mit lecker duftenden Speisen erwartete ihn.

„Dein Schlafzimmer."

Ein riesiges Bett, welches sicher auch für Hagrid gereicht hätte, nahm einen Großteil des Zimmers ein.

„Dein Studierzimmer der Zukunft und des Ätherischen."

Gläserne Kugeln aller Größen und Farben, zwei Teleskope und Sternenkarten bester Qualität an den Wänden. Alles für ihn sichtbar.

„Und hier deine Schatzkammer!"

Und jetzt war es mit Tarsuinns Beherrschung endgültig vorbei und er fühlte sich geblendet. Ein Raum voller Gold und Edelsteine glitzerten in einem Licht, dessen Quelle er nicht sehen konnte.

„Das hier vorn ist nur das normale Zeug, hinter dem Vorhang dort befinden sich viele magische Hilfsmittel der besonderen Art."

Tarsuinn wollte sich diese auch ansehen, doch schon nach dem ersten Schritt prallte er gegen eine unsichtbare Wand.

„Erst wenn ich Besitzer bin", bemerkte er trocken und rieb sich die schmerzende Nase.

„Korrekt erkannt", lachte Sir Oliver.

„Damit könnte ich sicher hunderte Heiler bestechen, damit sie meine Schwester heilen", murmelte Tarsuinn versonnen.

„Damit kann man sich auch noch mehr kaufen. Anerkennung, Macht, Menschen. Man kann viel damit bewegen, solange man sich selbst bewegt. Man könnte auch noch viele andere heilen, nicht nur deine Schwester."

In seinen Gedanken sah Tarsuinn sich, wie er der alten Frau half, die im gleichen Zimmer wie seine Schwester auf ihren Tod wartete. Und das kleine Kind mit dem Wasserkopf und den Klumpfüßen, das er auf der Kinderstation einmal berührt hatte. Es war ein unglaublich gutes Gefühl.

„Wie kann ich das…", es war schwierig zu formulieren, ohne gierig zu klingen.

„Wie du das Recht darauf erlangen kannst?", half Sir Oliver aus.

„Ja."

„Das ist recht einfach und kann doch kompliziert werden", erklärte der Geist verschwommen und winkte einem Geist zu, der Sekunden später mit einem silbernen Becher zu ihnen aufschloss. Es war ein Mädchen etwa in seinem Alter, so farbenkräftig wie Peeves, das ihn verschüchtert anlächelte und vor ihm einen schwebenden Knicks machte. Sie hatte Augen, die ihn erschreckend an seine Schwester erinnerten. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die er an seine Zeit vor seiner Erblindung hatte. Ein Blick voll Wärme und Sorge.

Aber noch mehr als vor den Augen des Mädchens, erschrak er sich vor dem Becher auf ihrem Tablett. Er war die Quelle des verführerischen Liedes, das ihn so sehr anzog.

„Du musst dies hier trinken", begann Sir Oliver.

Tarsuinn nahm den Becher in die Hand, führte ihn jedoch nicht zum Mund, sondern wartete auf eine Erklärung.

„Der Trank stellt den zweiten Schritt auf dem Weg dar. Mit dem ersten hast du die Fähigkeit erlangt uns zu finden, der dritte bringt dir einen neuen, besseren Zauberstab. Dann braucht es nur noch einen vierten Schritt, um dich zum Besitzer all des Wissens und des Reichtums hier zu machen", erklärte Sir Oliver widerwillig.

„Und der vierte Schritt wäre?"

„Im Grunde der gleiche Trank wie den, welchen du in der Hand hältst, nur aus einem anderen Gefäß", erklärte Sir Oliver etwas ungeduldig.

„Und was für ein Trank ist das hier?", fragte Tarsuinn weiter und deutete auf seinen Becher. Er konnte die Flüssigkeit nicht sehen, aber sie roch irgendwie nicht ansatzweise nach etwas, was er aus Snapes Unterricht kannte.

„Pure Macht", erklärte der Geist und wich Tarsuinn damit aus. „Es wird die in dir schlummernden Möglichkeiten wecken."

Tarsuinn merkte, dass es keinen Sinn hatte, noch weiter in diese Richtung zu fragen. Doch den Becher führte er immer noch nicht an seine Lippen. Langsam schlenderte er die Treppe hinunter in den Saal.

„Darf ich Euch etwas fragen, Sir Oliver?", fragte er dabei so ganz nebenbei.

„Natürlich!", war die freundliche Antwort. Ein unguter Ton des Misstrauens schwang jedoch darin mit.

„Waren Sie auch mal der Besitzer?"

„Ja!", antwortete der Geist mit Begeisterung.

„Alle hier?"

„Ja", lautete wiederum die Antwort.

„Sind dies alle?"

„Fast alle", bestätigte Sir Oliver und blieb stehen. „Warum fragst du?"

Tarsuinn drehte sich zu ihm herum.

„Nun", Tarsuinn machte sich Gedanken, wie er das formulieren sollte. „Ich mache mir Sorgen, um die geringe Lebenserwartung, die mich anscheinend hier erwartet."

Dabei deutete er auf die fast ausnahmslos jungen Geister.

„Sieht man von Euch ab, sind alle sehr früh gestorben."

„Aber nach einem erfüllten Leben!", bestand Sir Oliver.

„Und alle hatten das Pech, als Geist in der Welt zu bleiben – kein erstrebenswertes Schicksal in meinen Augen", sagte Tarsuinn jetzt mutiger. Auch wenn er heute behauptet hatte, dass er nach seinem Tod als Geist hinter Filch und Snape würde herspuken wollen, so war das doch nur einfach so dahin gesagt gewesen. Tarsuinn konnte sich nicht vorstellen, dass ewiges Existieren erstrebenswert war.

„Sie alle blieben, um Nachfolgende anzuleiten!", rief Sir Oliver empört, doch es klang falsch.

„Und gehe ich richtig in der Annahme, dass es Ihnen verwehrt ist den Bereich der Hütte zu verlassen?"

Diesmal erhielt Tarsuinn keine direkte Antwort.

„Du trinkst jetzt!", befahl Sir Oliver stattdessen. Seine Freundlichkeit war wie weggewischt.

„Nein!", entschloss sich Tarsuinn. „Ich werde gehen."

„Das wirst du nicht!", entgegnete Sir Oliver.

Tarsuinn warf den Becher weg und wollte zur Tür laufen, doch schon nach wenigen Metern war er durch zehn Geister gelaufen und zu Boden gestürzt. Es war ein Gefühl, als hätte man ihm zehn Mal einen Eiszapfen durch sein Herz gerammt. Noch ein paar Geister mehr und es wäre vielleicht stehen geblieben.

Als er sich wieder aufgerappelt hatte, sah er sich von hundert Geistern umzingelt. Das Lied des Bechers war nun schmerzerfüllt und voller Hass.

„Du hast den ersten Schritt getan. Du kannst dich dem zweiten nicht entziehen!", verkündete Sir Oliver.

„Du musst trinken", flüsterte das Mädchen, das ihm schon wieder den Becher hinhielt. Doch wieder irritierten ihn dabei ihre Augen.

Tarsuinn beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.

„Vielleicht bin ich ja schon der Besitzer dieses Hauses hier", rief er laut und holte seinen richtigen Zauberstab hervor.

Hieß es nicht, man erlangte seine erste Zauberkraft, wenn man in Gefahr war? Tarsuinn fühlte, dass dies ein solcher Moment sein musste.

„Wie kannst du schon…", stotterte Sir Oliver zurückweichend.

Auch die anderen Geister gaben ihm mehr Raum. Tarsuinn nutzte den Platz für ein paar Schritte Richtung Tür.

„Er ist ein Abkömmling!", rief plötzlich eine irre Stimme. Um einen Kronleuchter herum rotierte plötzlich ein Geist, den Tarsuinn ganz sicher hier noch nicht gesehen hatte. Er schien recht alt zu sein, war nackt und anscheinend hatte man ihm Arme und Beine aus seinem Körper herausgerissen.

„Tötet ihn", rief eine andere Stimme und ein großer Mann stieg hinter den anderen Geistern auf. In seinem Bauch und Rücken war ein riesiges Loch von der Größe eines Fußballs.

„Ja… töten… zerstückeln… niedermähen… umbringen… zerfetzen… zerlegen… foltern… niedermachen…"

Ein riesiges Brausen schwoll hinter der Barriere der Geister an. Tarsuinn beschloss nicht abzuwarten, was da noch kommen möge. Er sprintete Richtung Ausgang, den Zauberstab vor sich haltend.

Einige der normal aussehenden Geister machten ihm Platz und für einen Moment glaubte er Mitleid in ihren Augen zu entdecken, doch dann durchfuhr ihn von hinten auch schon der erste Angreifer und Tarsuinn schrie vor Schmerz auf. Das war schlimmer als jede Berührung, die er jemals von einem Geist erhalten hatte. Es war, als würden ihm beide Arme und Beine fortgerissen werden. Einen Augenblick später schoss der verrückte Geist ohne Arme und Beine, vor Schmerzen schreiend, aus seinem Brustkorb hervor.

Es befriedigte Tarsuinn ein wenig, dass es dem Geist auch wehtat, doch leider war er allein und sie viele. Der nächste Geist war schon da und plötzlich erlebte Tarsuinn (in etwas abgeschwächter Form), wie eine Kanonenkugel durch seine Eingeweide schoss.

Lumos", schrie Tarsuinn verzweifelt, in der Hoffung, das Licht würde die Kraft der Geister etwas reduzieren, doch sein Zauberstab rührte sich nicht.

Auf den Knien rutschte er in Richtung Tür, immer wieder von Geistern durchdrungen, die ihm ihre Todesursache auf so direkte Weise vermittelten.

Noch mehrere Male versuchte er die verschiedensten Zauber. Nichts!

Fünf Meter vor der Tür brach er dann endgültig zusammen. Er hatte keine Kraft mehr und Kälte machte sich in ihm breit. Er rollte sich um seinen Zauberstab zusammen und versuchte das Sterben noch eine Weile herauszuzögern.

„Tikki!", krächzte er weinend und viel zu leise. „Tikki, bitte hilf mir!"

Dann schloss er die Augen.

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