- Kapitel 13 -
Briefe
Schon früh am Sonntagmorgen wachte Toireasa auf. Sie hatte mies geschlafen, da sie die Ereignisse der letzten Nacht noch einmal im Traum heimgesucht hatten. So war sie froh, noch vor dem Wecker wach zu sein. Außerdem hatte sie so den Vorteil, dass die anderen Slytherins noch schliefen. Sie zog sich ihre Arbeitssachen an, die sie immer in Kräuterkunde verwendete, und huschte leise aus dem Kerker. In der Großen Halle war sie die erste Person und die Tische waren leer. Doch kaum trat sie zum Slytherin-Tisch, deckte sich dieser für sie. Da es recht wahrscheinlich war, dass die Ereignisse der letzten Nacht bald die Runde machen würden, trank sie schnell eine Tasse warme Schokolade, belegte sich einige Brötchen (ohne Butter, da diese zu schnell zerlief), stopfte diese in ihre Taschen und verließ den Saal. Mit vor Kälte dampfendem Atem ging sie zum Schlosstor hinaus, setzte sich vor Hagrids Hütte auf eine der drei Stufen und begann ihre Brötchen zu vertilgen. Erstaunt sah sie dabei, wie drüben auf dem Quidditchfeld schon ein Team trainierte. Sie kniff ein wenig die Augen zusammen und erkannte nun sieben rot-gelbe Schemen, die durch die Gegend sausten. Gryffindor war am üben. Ziemlich früh für einen Sonntag und noch erstaunlicher war, dass sie glaubte, auf einer der Tribünen den grünen Spitzhut von Professor McGonagall gesichtet zu haben. Ein Lehrer, der am Sonntag in aller Frühe ein Training seiner Mannschaft beobachtete, musste extrem quidditchverrückt sein. Eine solche Sportbegeisterung hatte Toireasa ihr gar nicht zugetraut.
Hinter ihr öffnete sich die Tür der Hütte.
„Was machst du denn hier?", fragte Sekunden später der Wildhüter sehr unfreundlich.
Toireasa stand auf, steckte verstohlen ein angebissenes Brötchen ein und drehte sich herum.
„Professor Dumbledore sagt, ich soll acht Tage lang bei Ihnen Strafarbeit leisten, Sir", antwortete Toireasa förmlich. Normalerweise sprach man anders mit Hagrid, aber in ihrem speziellen Fall…
„So?!", sagte er nachdenklich. „Hab Professor Dumbledore heut noch nich gesehen, aber freiwillig meldet sich keiner sonntags zur Arbeit. Also wird's schon stimmen. Also gut – im Schuppen steht nen Spaten. Du wirst den ganzen Garten zwei Spaten tief umgraben und alles Unkraut entfernen."
„Ja, Sir!", stimmte Toireasa sofort zu, obwohl sie die Größe des Gartens schaudern ließ – sie hasste Gartenarbeit (und damit Kräuterkunde) und war froh ihre Drachenlederhandschuhe dabeizuhaben.
Es war eindeutig, dass Hagrid Tarsuinn mochte und sie nicht. Schließlich vermutete er anscheinend – und das zu Recht – dass die Strafarbeit eine Folge des gestrigen Abends war.
So ging sie in den Geräteschuppen, holte sich einen Spaten in ihrer Größe, den von Hagrid hätte sie kaum heben können, und begann umgehend ihre Strafarbeit.
Es wurde noch schwerer, als gedacht. Der Boden war sehr nass und so schaffte sie es zwar recht einfach den Spaten im Boden zu versenken, aber die Erde hochzuhebeln, dazu fehlte ihr Kraft und Gewicht. Aus diesem Grund musste sie mehrmals an einer Stelle graben, um die geforderte Tiefe zu erreichen. Aber das war ihr so ziemlich egal. Mechanisch erfüllte sie ihre Pflicht, während ihr Kopf genug zu tun hatte. Ab und an schaute sie nach oben und warf einen sehnsüchtigen Blick hinüber zum Quidditchfeld. Was hätte sie gegeben, um diese Mannschaft zu schlagen. Je besser ein Gegner, desto größer der Sieg, sagte ihre Großmutter immer und soweit sie es sehen konnte, waren die Gryffindors eine wirklich gut zusammenarbeitende Mannschaft. Ob das gegen die technische Überlegenheit von sieben Nimbus 2001 reichen würde blieb abzuwarten, aber die Möglichkeit bestand, wenn Potter es relativ schnell schaffte, den Schnatz zu fangen. Über die Zeit würden die Gryffindors wahrscheinlich verlieren.
Später – als die Gryffindors ihr Training beendet hatten und zum Schloss zurückkehrten – konnte Toireasa erkennen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Professor McGonagall hatte das Training ihres Teams beobachtet. Sie unterhielt sich mit einem großen, gut aussehenden Jungen, unterbrach das Gespräch dann aber, als sie Toireasa erblickte. Mit einer entschuldigenden Geste an ihr Team, trennte sie sich von ihnen und kam zu Toireasa hinüber, die lieber so tat, als hätte sie dies nicht bemerkt.
„Miss Davian-Keary?!", sagte Professor McGonagall und blieb am Rande des Feldes stehen.
„Ja, Professor", sagte sie und schaute auf.
„Kommen Sie her!"
Toireasa ließ den Spaten im Boden stecken und ging zu der Lehrerin.
„Hat Professor Dumbledore heute schon mit Ihnen gesprochen?", fragte McGonagall ohne Umschweife.
„Nein, Professor."
„Gut, dann übernehme ich das. Der Direktor hat mir heute Morgen alles berichtet und wir sind übereingekommen, dass Sie über die gestrigen Vorfälle im Verbotenen Wald schweigen werden. Vor allem werden Sie niemandem über ihren Ritt auf dem Einhorn erzählen. Haben wir uns da verstanden?!", fragte McGonagall kalt.
„Ja, Professor."
„Gut, dann machen Sie hier weiter und versuchen Sie, uns Lehrer in der kommenden Woche möglichst nicht an Ihre Existenz zu erinnern!"
McGonagall drehte sich um und ging davon.
Ihre Schroffheit tat furchtbar weh, vor allem da Verwandlungen zu Toireasas Lieblingsfächern zählte. In McGonagalls Augen hatte eine tiefe Enttäuschung gelegen. Toireasa wollte gar nicht erst wissen, wie Professor Flitwick sie ansehen würde.
Deshalb ließ sie das Mittagessen aus und verspeiste lieber das letzte angebissene Brötchen vom Morgen.
Schon früh am Nachmittag begannen dann ihre Arme zu erlahmen. Die anstrengende Arbeit forderte ihren Tribut, doch Toireasa zwang sich weiterzumachen so gut sie konnte.
Das lag zum Teil auch daran, dass am Nachmittag einige Slytherins vorbei kamen und sich über sie lustig machten. Vor allem Riolet tat sich dabei hervor, während Regina und Vivian sie meist nur böse anstarrten.
Dies war aber auch der einzige Moment, an dem Hagrid sich um etwas kümmerte, was Toireasa anging. Er kam aus seinem Haus und drohte jedem, den er in zehn Sekunden noch in der Nähe seines Hauses erblickte damit, ihm auch einen Spaten in die Hand zu drücken.
Es war der Spott ihrer eigenen Hauskameraden, der Toireasa noch arbeiten ließ, als es schon dunkel und auch das Abendbrot im Schloss vorbei war. Strafarbeiten waren erst beendet, wenn ein Lehrer – oder in ihrem Fall Hagrid – es sagte.
Ihre Hände zitterten, als der Wildhüter endlich das ersehnte Zeichen gab.
„Komm rein!", sagte er und irgendwie klang er deutlich angenehmer in ihren Ohren, als noch heute Morgen. Sie reinigte noch den Spaten, dann betrat sie seine Hütte. Alles hier war auf den großen Mann zugeschnitten. Stühle, Bett, Tassen, Teller. Sie fühlte sich noch kleiner, als sie eh schon war.
„Setz dich und iss", forderte Hagrid und deutete auf eine Holzbank, auf der auch ein Tablett mit heißem Essen und Tee stand.
Sie brachte ein - Danke – hervor, dann verschlang sie mit einem internen Hurra alles Essbare. Danach blieb sie still sitzen und versuchte unsichtbar zu sein. Hagrid hatte sie noch nicht entlassen und für Toireasa war es ein Segen, nicht gleich in den Slytherin-Kerker zu müssen. Wenig später rollte sie sich auf der Bank zusammen und schlief, ohne es bewusst zu wollen, erschöpft ein. Leider wurde sie recht bald geweckt.
„Ich bring dich am besten jetzt zurück ins Schloss", sagte Hagrid laut.
„Das schaff ich auch allein", meinte sie schlaftrunken.
„Lieber nich! Nach dem was gestern an der Wand stand", wehrte er ab.
„Äh?"
Was Intelligenteres fiel Toireasa nicht ein.
„Na das von dem Erben", erklärte er und schaute sie an, als wäre sie dumm.
„Welcher Erbe?", fragte sie, auch auf die Gefahr hin, sich noch mehr zu blamieren.
„Ach stimmt. Warst ja anderweitig am Unsinn anstellen", sagte er und schlug sich gegen die Stirn. „Hat dir denn niemand von erzählt?"
„Mit mir redet man im Moment über andere Themen oder gar nicht, wie Sie sicher bemerkt haben!", entgegnete sie und erinnerte sich zurück. „Ich weiß nur, dass gestern noch etwas anderes im Schloss los war. Es wurde etwas gesucht."
„Na ja – so wichtig is das auch nich. Ging nur um eine alte Geschichte. Nichts, was dich beunruhigen muss."
„Hat man etwas gefunden?", forschte sie vorsichtig.
„Natürlich nich. Is nur ne alte Legende", erwiderte Hagrid und sah dabei ein wenig zu besorgt aus, als dass man es ihm glauben konnte.
„Dann brauchen Sie mich auch nicht zum Schloss zu bringen", erklärte Toireasa und ging zur Tür. „Gute Nacht, Sir."
„Mädchen!", rief Hagrid ihr nach.
Sie blieb noch einmal stehen.
„Wenn du die ganze nächste Woche so fleißig bist wie heut, dann ist ab nächsten Sonntag die Sache für mich abgehakt", versprach er.
Toireasa wollte ihm danken, brachte aber nicht die richtigen Worte zusammen.
„Morgen gleiche Zeit, Sir?", fragte sie stattdessen.
„Erst nach Unterrichtsbeginn", antwortete Hagrid und sie fragte sich, ob er wusste, was er ihr damit alles ersparte. Sie nickte zustimmend. Dann ging sie allein zurück zum Schloss.
Im Slytherin-Kerker wartete schon ihr Empfangskomitee. Glücklicherweise war auch Samuel anwesend.
„Schau mal, Davian!", freute sich Regina schadenfroh. „Wir haben unsere Zauberstäbe wieder. Und Snape hat uns nur zehn Punkte abgezogen, dir aber dreißig. Anscheinend glaubt der senile Dumbledore uns mehr, als dir!"
Toireasa versuchte das zu überhören und wollte die Tür zu ihrem neuen Schlafsaal erreichen.
„He – wir reden mit dir", fauchte Regina und sprang auf. Ihr Anhang folgte wie ein Rudel Wölfe.
Toireasa war nicht bereit schneller zu laufen. Dieses letzte bisschen Würde wollte sie sich erhalten. Als man ihr den Weg versperrte, blieb sie stehen.
„Geht das jetzt jeden Tag so mit den dummen Sprüchen?", fragte sie gespielt gelangweilt.
„Hätte Professor Snape nicht seine Hände über dir, wäre es nicht so langweilig", versprach Vivian.
„Na dann…!", grinste Toireasa und machte eine großen Bogen um die Mädchen. Vergeblich. Gerade als sie das Vorhängeschloss aufgeschlossen hatte, knallte neben ihrem Kopf ein Handballen gegen das Holz und hielt die Tür verschlossen. Unter der Hand klemmte ein voll geschriebenes Papier. Ein wenig schreckte sie diese Vehemenz dann doch und so drehte sie sich langsam herum. Fünf böse Gesichter formten einen Halbkreis um sie herum.
„Das ist deine Aussage", erklärte Regina drohend.
„Ist nicht meine Schrift", antwortete Toireasa.
„Du verstehst falsch. Morgen früh wirst du zu Dumbledore gehen und ihm sagen, dass du gelogen hast. Und dann wirst du ihm dieses hier gestehen!"
Das Mädchen hielt ihr jetzt das Blatt vor das Gesicht. Abfällig schaute Toireasa den Wisch an, las ihn aber nicht. Sie konnte sich denken, was darauf stand.
„Und wenn ich das nicht mache?", fragte sie.
„Dann werden wir deine Wettschulden eintreiben! Als Ausgleich", drohte Regina.
Toireasa nahm sich das Blatt.
„Ich werde es durchlesen", versprach sie.
„Mach, was wir dir sagen und du machst es dir hier deutlich leichter", erklärte Vivian, die wie immer an Reginas Seite stand.
Alle fünf Mädchen machten daraufhin auf der Stelle kehrt und entfernten sich von ihr. Toireasa konnte nicht glauben, dass sie ernsthaft glaubten…
„Ich soll dir was von unseren Eltern ausrichten", sagte Aidan unvermittelt an ihrer rechten Seite. Sie hatte ihn vollkommen übersehen. Ein wenig überrascht schaute sie ihn an und stellte dabei fest, dass sie immer noch zornig auf ihn war.
„Was?", blaffte sie ungehalten.
Er zuckte ein wenig vor ihr zurück.
„Ich soll dir sagen…ähem…du sollst dich bei deinen Mitschülerinnen für deinen Verrat entschuldigen."
Jetzt war es an Toireasa zurückzuweichen. Schmerzhaft bohrte sich die Klinke in ihre linke Hüfte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein?!
„Sie wissen doch gar nicht, was passiert ist!", entfuhr es ihr. „Wie können sie da so was schreiben?"
„Wahrscheinlich wissen sie genug", erklärte Aidan und schaute etwas unsicher an Toireasa vorbei. Sie schaute über ihre Schulter und begegnete dem kalten Blick Risteárds.
„Ich verstehe", zischte Toireasa verletzt. „Ihr wart ja beide mit dabei und habt alles gesehen. Und ihr wisst auch, was ich Dumbledore erzählt habe. Wisst ihr was – ich hätte nie geglaubt das sagen zu müssen – aber ich bin froh, nicht eure richtige Schwester zu sein, denn dann würde ich mir völlig verraten und verkauft vorkommen! Es interessiert euch ja offensichtlich nicht, was wirklich passiert ist oder wie meine Sicht der Dinge ist. Ihr habt mich ja nicht einmal gefragt!"
Dann wandte sie sich ab, ignorierte den Schmerz in Aidans Gesicht, ging in ihren Raum, knallte die Tür geräuschvoll zu und schloss ab. Danach warf sie sich auf ihr Bett, presste ihr Gesicht ins Kopfkissen und weinte sich bitterlich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen sah die Welt auch nicht besser aus. Sie hatte in ihrer Kleidung geschlafen und fühlte sich ziemlich schmutzig. Lustlos beseitigte sie diesen Zustand, zog sich ihren zweiten Satz Arbeitskleidung an und wartete, dass die Unterrichtszeit begann und so alle Slytherins in den Klassenräumen waren. Dabei entdeckte sie einen Satz Hausaufgaben und Mitschriften aus dem Unterricht, die ihr irgendwer durch den Türspalt geschoben hatte. Vielleicht war ja doch noch wer in Toireasas Klasse auf ihrer Seite. Ein kleiner Trost wenigstens. Die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn für die anderen, verbrachte sie damit, ihr Geständnis zu lesen. Wirklich durchdacht geschrieben, musste sie zugeben. Sogar so, dass sie selbst recht gut dabei wegkam und im Endeffekt alles dem dummen Muggel anlastete. Zumindest wusste Toireasa jetzt, was Regina und Vivian erzählt hatten. Laut ihrer Version waren sie Tarsuinn in den Wald gefolgt um ihn zurückzuholen, als sie einem Einhorn über den Weg liefen, Toireasa nicht widerstehen konnte es anzufassen und so die Probleme zustande kamen. Danach hatte Toireasa zuviel Angst vor dem Wald bekommen und wollte sich nicht mehr fortbewegen. Deshalb war sie bei dem verletzten Muggel geblieben, während Regina und Vivian Hilfe holen gegangen waren. Toireasa hatte laut diesem Schriftstück nur gelogen, weil sie ihre Angst nicht hatte zugeben können. Alles vielleicht sogar überzeugend, wenn da nicht ein klitzekleiner Fehler gewesen wäre. Anscheinend hatten Regina und Vivian ihren Ritt auf dem Einhorn nicht gesehen, weil sie die Nase lieber in den Dreck gesteckt hatten. Sie waren danach zu Snape gelaufen, ohne zu wissen, dass Toireasa und Tarsuinn schon lange auf der Krankenstation weilten. Nach Hilfe zu rufen und dabei auf Tarsuinns Tod zu hoffen, hätte sie vor Toireasas Aussage geschützt. Wenn sie ein wenig eher gekommen wären. Aber auch so war es eine gute Geschichte.
Als die Unterrichtszeit endlich begonnen hatte, verließ sie den Kerker, ging aber weder in den Großen Saal, noch zu Hagrid. Zuerst musste sie rauf zur Eulerei.
„Keyx", rief sie mit sanfter Stimme ihre Eule und streckte die Hand aus. Sofort flatterte ihr kleiner Liebling darauf. Sie streichelte sanft mit dem Zeigefinder das Federkleid. Keyx mochte das besonders am Hals, was ihr die Sache unheimlich schwer machte.
„Keyx!", sagte sie eindringlich, um die Aufmerksamkeit ihrer Eule zu bekommen. „Ich muss dich freigeben."
Es war offensichtlich, dass ihr kleiner Liebling nicht verstand. Keyx tippelte ihren Arm nach oben bis zur Schulter und knabberte liebevoll an ihrem Ohrläppchen.
„Du bist frei, Keyx!", betonte sie noch mal. „Flieg wohin du willst, mach was du willst."
Inzwischen verstand Keyx zwar die Worte, aber er blickte sie ungläubig an. Tränen schossen ihr bei diesem Anblick in die Augen.
„Ich brauch dich nicht mehr", sagte sie mit einer Härte, die ihr am meisten wehtat. „Hau ab!"
Damit nahm sie Keyx in die Hand und warf ihn zur geöffneten Dachluke hinaus. Dann lief sie schnell aus der Eulerei hinaus und zu Hagrid. Unterwegs trocknete sie sich die Augen. Der Wildhüter wartete schon ungeduldig.
„Da bist du ja endlich", begrüßte er sie. „Als ich sagte nach Unterrichtsbeginn, meinte ich maximal zehn Minuten später!"
„Tut mir Leid, Sir", entschuldigte sie sich tonlos. „Ich musste mich dringend noch um meine Eule kümmern."
Hagrid winkte schon ab.
„Na ja, wenn's um deine Eule ging, dann drück ich mal nen Auge zu."
„Danke, Sir."
„Sag mal, hast du vor das mit dem Sir die ganze Woche durchzuhalten?"
„Ja, Sir!"
„Lass das bitte. Ich denk sonst immer, hinter mir steht wer."
„Wie Sie wünschen."
„Sag einfach Hagrid, okay?"
„Okay. Was soll ich heute tun?", erkundigte sie sich.
„Du gehst in die Gewächshäuser und sammelst alle Schnecken und ihren Schleim. Sei gründlich und pass bei den purpurnen auf, deren Sekret macht böse Hautausschläge. Stör den Unterricht nicht und geh nicht in Gewächshaus Nummer vier. Das ist zu gefährlich! Alles klar?"
Er drückte ihr einen großen Holzeimer mit Deckel in die Hand.
„Ja", antwortete Toireasa, obwohl sie die Gewächshäuser normalerweise lieber mied. Der Gedanke an die Kräuterkundeprüfung am Ende des Schuljahres bereitete ihr jetzt schon Bauchschmerzen.
Sie ging zu den Gewächshäusern, fing sich einen distanzierten Blick von Professor Sprout, der Kräuterkundelehrerin, und ertrug das Getuschel der sechsten Klasse aus Gryffindor und Hufflepuff. Abseits des Unterrichts begann sie sorgfältig die Pflanzen von Schnecken und ihren widerwärtigen Rückständen zu befreien. Sie versuchte, dabei an überhaupt nichts zu denken, doch immer wieder drängte sich Keyx in ihren Kopf. Er war wahrscheinlich der einzige Freund, den sie noch hatte, und sie hatte ihn wegschicken müssen. Sie war so traurig, dass ihr überhaupt nicht auffiel, wie eklig ihre Arbeit eigentlich war. Irgendwann – die Kräuterkundeklasse hatte auf die dritten Klassen aus Slytherin und Ravenclaw gewechselt – was ihr eine recht unangenehme Aufmerksamkeit bescherte – kam Hagrid zu ihr. Er winkte sie in ein anderes Gewächshaus.
„Was ist mit dir los?", erkundigte er sich. „Du hast eben ein Giftglöckchen angefasst. Das macht nicht mal ein dreijähriges Kind!"
„Oh", entfuhr es ihr als Kommentar und erst jetzt bemerkte sie die kleine Pflanze zwischen ihren behandschuhten Fingern.
„Ich dachte, du wärst intelligent genug eine der Zangen zu benutzen, die da rum liegen. Du hast ziemlich viel Glück gehabt."
„Hab nicht drauf geachtet", sagte sie desinteressiert.
Hagrid wollte ihr anscheinend eine Standpauke halten, hielt aber inne.
„Okay – was ist zu gestern anders?", fragte er stattdessen.
„Ach nichts", antwortete sie.
„Wirklich?"
Er zog die Stirn zweifelnd in Falten.
„Nein", gestand sie ein. „Ich habe meinen einzigen Freund weggeschickt, gegen eine Wette verstoßen und möchte eigentlich nur weg, doch ich weiß nicht wohin."
Hagrid schaute sie für einen Moment zweifelnd an.
„Ich bin wirklich nicht geeignet dafür", murmelte der Wildhüter, dann drückte er Toireasa auf eine Bank und setzte sich selbst sehr vorsichtig und prüfend daneben.
„Erzähl!", forderte er Toireasa dann auf und zu ihrem eigenen Erstaunen erzählte sie ihm von der Wette und Keyx.
„Du hast also deine Eule fortgeschickt, damit er nich diesem Mädchen gehören muss? Du weißt, was es bedeutet ne Wette zu brechen?", erkundigte sich Hagrid am Schluss.
„Ja und ja", sagte sie ernst.
„Nur dumm, dass er damit nicht einverstanden ist", sagte Hagrid und deutete nach oben.
Toireasa schaute, wohin er deutete, und sah durch das Glasdach eine kleine Eulengestalt, die sie beobachtete.
„Hab mich schon gewundert, was die Eule ohne Brief da will", meinte Hagrid noch. „Wir sollten ihn rein lassen. Is sicher nich sein Wetter heute."
Hagrid reckte sich zu seiner vollen Größe, öffnete eine Dachluke und ließ Keyx hinein. Dann verschloss er die Luke wieder. Sofort kam Keyx zu Toireasa geflogen und landete auf ihrer Schulter. Er presste sein nasses Federkleid an ihre Wange. Fast automatisch zog sie die Handschuhe aus und trocknete ihn danach mit einem sauberen Taschentuch.
„Den wirst du nicht los", prophezeite Hagrid lächelnd.
„Aber dann wird ihn Vivian bekommen und sie wird nicht nett zu ihm sein, wenn er sie nicht mag. Hagrid, weißt du nicht, wie ich da raus kommen kann? Vivian hat mich verraten und soll dafür auch noch Keyx bekommen? Das kann ich doch nicht zulassen."
„Ich bin in so was nich gut", gab Hagrid zu. „Vielleicht solltest du jemand anderen fragen."
„Ich habe niemanden, den ich sonst fragen könnte", seufzte sie leise. „Nur dich. Und dich wahrscheinlich auch nur, weil dich wer darum gebeten hat."
Ihre Vermutung machte Hagrid verlegen und sie erkannte daraus, wie Recht sie hatte.
„Weißt du", sagte Hagrid nach einer Weile. „Professor Dumbledore hat mich gebeten, dir ne zweite Chance zu geben. Jeder verdient eine, meinte er, und damit hat er Recht."
„Ach – ich kann dich ja verstehen", gestand sie leise ein. „Du magst Tarsuinn. Ich hab ihm wehgetan. Einfache Rechnung."
Hagrid schwieg betreten, aber er nickte auch.
„Hagrid?", fragte sie nach einer Weile. „Wie sind Muggel eigentlich so?"
Er schien ein wenig überrascht von der Frage. Doch dann nutzte er die Gelegenheit vom Thema abzulenken.
„Muggel sind laut, engstirnig und blind", sagte er ernst.
Toireasa runzelte daraufhin die Stirn.
„Das sagt man in Slytherin auch", sagte sie erstaunt.
„Ja, aber anders", ergänzte Hagrid schnell. „Du musst dir immer sagen, dass sie es nich besser wissen. Sie haben keine Zauberkräfte, die ihnen durchs Leben helfen. Können nich die wahre Welt sehen. Müssen mit dem kämpfen, was sie Physsyck, oder so ähnlich, nennen. Wenn du drüber nachdenkst, musst du zugeben, es is unglaublich, was sie ohne Magie alles schaffen."
„Aber sie haben Millionen ihresgleichen umgebracht!", erwiderte Toireasa. „Ich hab darüber gelesen."
„Wir sind in dieser Beziehung auch nich besser als sie", sagte Hagrid. „Schau! In der Zeit von Du-weißt-schon-wem starben in England, Schottland und Irland einige hundert, vielleicht auch mehr, Zauberer und Hexen. Das klingt nich nach viel, aber jetzt überleg mal, dass auf jeden Zauberer und jede Hexe, tausend Muggel oder so kommen."
Diese Argumentation kannte Toireasa noch nicht. Es war nicht schwer auszurechnen, was Hagrid ihr vermitteln wollte.
„Umgerechnet haben wir auch hunderttausende oder gar Millionen umgebracht", teile sie betreten ihr Ergebnis mit.
„Ja", sagte Hagrid traurig. „Wir sehen und verstehn zwar ne Menge mehr von der Welt als Muggel, aber am Ende sind wir genauso gut und genauso böse wie sie."
„Aber sind wir nicht etwas Besseres? Wissen wir nicht mehr als sie?", fragte Toireasa weiter. Das hatte sie gelernt, mit dieser Einstellung war sie aufgewachsen. Das konnte doch nicht grundlegend falsch sein.
„Wir sind etwas Besonderes, aber ob wir besser sind...? Zumindest sind wir stärker. Aber wüsstest du, wie man ein Muggeltaxi in London ruft?"
Sie musste den Kopf schütteln. Toireasa wusste noch nicht mal was ein Taxi war.
„Siehst du! Und das ist eine ganz einfache Sache. Hab es selbst erst im September von Tarsuinn gelernt."
Sie schaute erstaunt zu Hagrid auf. Er klang irgendwie auch zwiespältig. Und schien zu überlegen.
„Frag ihn, ob er dir bei deiner Eule helfen kann", sagte er nach einer Weile.
„Wen?", erkundigte sie sich.
„Tarsuinn!", bestätigte Hagrid ihre Befürchtungen.
„Das wäre sinnlos", schüttelte sie den Kopf.
„Versuch es doch!"
„Wie sollte er mir helfen können? Er kennt sich doch gar nicht mit Magiertraditionen aus."
Diesmal sah Hagrid sie, mit einer Mischung aus verschmitzten Lächeln und Zahnschmerzen, an.
„Tarsuinn ist clever", sagte er vorsichtig. „Aber auch…"
„Ja, Hagrid?"
„Das darfst du ihm aber nich sagen", bat er verlegen.
„Versprochen", sagte sie ernst.
„Nun…", druckste Hagrid. Es schien ihm schwer zu fallen, über den Jungen zu reden. „Na ja – er ist gewandt drin sich anzupassen und andern das zu sagen, was sie hören wollen. Ich hab ihn bei den Muggeln erlebt, wie er die Regeln benutzt hat, um zu bekommen was er wollte und ich habe gesehen, wie er in der Winkelgasse dafür sorgte, dass ein angesehener Zauberer sich selbst blamierte. Er mag ein guter Junge sein, aber ein wenig macht er mir auch Angst."
„Warum?"
„Weil ich mir immer überlege: Was denkt er? Warum fragt er mich das?"
„Und du denkst, er kann – und vor allem würde – mir helfen?"
„Dir vielleicht nich, aber deiner Eule."
„Dann schulde ich ihm noch mehr!"
„Tja – da musst du dir klar werden, was dir wichtiger is. Deine Eule oder dein Stolz."
„Kennst du nicht jemand anderen?", bettelte sie.
„Um ehrlich zu sein, mir fällt niemand ein, der dir sonst helfen würde. Oder aber du kommst selbst auf ne andre Lösung."
„Ich hab doch schon Stunden darüber gegrübelt."
„Dann frag ihn! Heut Mittag wäre gut."
Eigentlich wollte Toireasa nicht noch ein Essen verpassen.
„Geht es ihm denn schon wieder gut genug?", fragte sie.
„Teilweise", wich Hagrid aus. „Hab ihn heut Morgen besucht. Ging ihm doch recht gut."
Wieder war da dieser Ton, den Hagrid verwandte, wenn er etwas verschwieg und dabei darüber nachdenken musste. Man hatte immer das Gefühl, er hätte den Faden im Gespräch verloren, aber soweit sie feststellte konnte, bedeutete es eigentlich nur, dass sich die Gedanken etwas langsam durch Hagrids Gehirn fraßen. Das ließ den Wildhüter etwas dumm erscheinen, was Toireasa inzwischen nicht mehr glauben konnte. Hagrid mochte manchmal etwas Zeit brauchen, doch ihm die Intelligenz abzusprechen, wie es zum Beispiel Malfoy tat, war ein deutliches Fehlurteil.
„Könntest du mitkommen, Hagrid?", bat sie. „Ich glaub nicht, dass Madame Pomfrey mich sonst zu ihm lässt."
„Könntest damit Recht haben", stimmte Hagrid zu. „Ich komme mit. Aber mit Tarsuinn musst du allein reden!"
„Danke, Hagrid", sagte sie und das kam von Herzen.
„Wer so gut zu nem Tier ist, kann nich von Grund auf schlecht sein", antwortete Hagrid lächelnd. „Doch jetzt sollten wir weiterarbeiten. Sonst denken die noch, du würdest nich bestraft werden."
Toireasa nickte zustimmend und sie begann wieder mit ihrer widerlichen Arbeit. Keyx hatte sie vorher in die Tasche gesteckt. Dabei waren ihre Gedanken jetzt weniger düster, auch wenn Toireasa sich ernsthaft fragte, ob Hagrid wirklich Recht hatte, sie für schlecht zu halten.
Sie war sich nie so vorgekommen. Und die Vorgehensweise Lord Voldemorts und seiner Todesser hatte sie immer verabscheut.
Gegen Mittag holte Hagrid sie aus dem Gewächshaus. Sie wusch sich schnell, um Madame Pomfrey keinen Vorwand zu geben, ihr den Zugang zum Krankenflügel zu verweigern.
Wie erwartet sträubte sich die Krankenschwester zunächst mit einem bösen Blick auf Toireasa. Die Krankenschwester mochte keine Schüler, die ihr Arbeit an anderen Schülern verschafften. Das war offensichtlich und verständlich. Glücklicherweise brachte Hagrids Begleitung die erhoffte Wirkung. Doch Madame Pomfreys kritischer Blick begleitete Toireasa auf Schritt und Tritt.
Schon als sie den Krankenflügel betrat, wusste Toireasa, dass es eine unangenehme Sache werden würde. Tarsuinn hatte mit aufgestellter Rückenlehne in einem Buch gelesen. Sie hatte noch nie einen derart verschlossenen Gesichtsausdruck bei ihm gesehen, als er das Buch auf den Nachttisch legte und sich mit einem kurzen, schmerzerfüllten Zucken zur Seite drehte, so dass er ihr den Rücken zuwandte.
Konnte er die Menschen an ihren Schritten erkennen?
An seinem Bett standen zwei Nachttische. Einer mit Büchern und Schreibzeug belegt, der andere voll von Karten, Blumen und Süßigkeiten. Von seinem Mungo war nirgends etwas zu sehen.
„Ich geh dann ma. Das Essen wartet", flüsterte Hagrid und drehte um.
Toireasa erwartete nicht sein Bleiben. Dies hätte so ausgesehen, als würde er sie in ihrem Anliegen unterstützen. Doch soweit wollte er offensichtlich nicht gehen.
Zögerlich ging sie zu Tarsuinn und wusste nicht, was sie sagen sollte. Nicht, dass sie keinen Plan gehabt hätte. Bloß, jetzt kam ihr alles unpassend und dumm vor, was auch immer sie sagen würde.
„Verzeih mir!", bat sie dann, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Sie hatte erwartet, er würde sie ignorieren, doch die einfachen Worte provozierten eine Reaktion. Langsam und vorsichtig drehte er sich zu ihr um.
„Wie könnte ich dir verzeihen?", fragte er mit leiser, eindringlicher Stimme.
„Ich wollte nicht, dass du verletzt…", begann sie.
„Nein!", unterbrach er sie deutlich vehementer. „Es geht nicht um mich. Du hattest vor, meinen Freunden zu schaden. Sie in meine Alpträume zu zerren! Mir meine Gedanken zu rauben, sie anderen aufzuzwingen! Wie konntest du nur…?"
Obwohl seine starren Augen nichts sehen konnten, konnte sie ihm nicht ins Gesicht sehen und senkte den Kopf.
„Ich kann es nicht entschuldigen", erklärte sie leise. „Ich kann nur versuchen, es wieder gut zu machen."
Sie schwiegen eine Weile. Er schien sehr mit sich zu ringen. Widerwillen und Neugier hielten sich lange Zeit die Balance.
„Warst du heut bei Professor Dumbledore und hast alles zurückgenommen?", fragte er plötzlich.
„Woher weißt du?", entfuhr es ihr erstaunt.
„Deine Freundinnen sind mir heut Morgen erschienen, als Madame Pomfrey kurz abgelenkt war und haben sich ein wenig auf meine Kosten amüsiert. Sie meinten, du würdest mir heut alles in die Schuhe schieben."
„Dann waren sie etwas vorschnell", erklärte Toireasa abweisend. „Und sie sind ganz sicher nicht meine Freundinnen."
Er legte interessiert den Kopf schräg.
„Dann stimmt es, dass eine von ihnen für das Austicken des Einhorns gesorgt hat?"
„Darkcloud hat es dir erzählt?"
„Schon gestern."
„Es ist alles wahr, was sie dir erzählt hat", erklärte Toireasa.
„Das kannst du doch gar nicht wissen!", sagte er stirnrunzelnd.
„Es gibt keinen Grund für sie zu lügen. Außerdem trau ich ihr das nicht zu."
„Du hast ihr deinen Zauberstab gegeben. Warum?", verlangte er zu wissen.
„Ich gab ihn Professor Dumbledore", stellte sie richtig. „Er hat ihn dann an deine Freundin weitergereicht."
„Warum hast du ihn überhaupt weggegeben?", forschte er.
Sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte viele Gründe.
„Sühne", gestand sie zuerst ein.
Er blieb still, so als spürte er, dass sie noch nicht fertig war.
„Ich habe Angst zu zaubern und wieder jemanden zu verletzen", gestand sie als Zweites.
Wieder wartete er mit einem Kommentar. Konnte sie ihm den dritten Grund sagen?
„Und ich wollte wissen, wie du dich fühlst", flüsterte sie kaum hörbar. Sie wusste, er würde es so klar hören, als hätte sie es laut gesagt. Madame Pomfrey jedoch fehlten diese guten Ohren.
Langsam hob sie nun den Blick und schaute zum ersten Mal offen in seine leeren Augen. Sein Gesicht war eine unbewegliche Maske. Einzig seine Wangenknochen traten ein wenig hervor.
„Alle Ravenclaws werden dich in Ruhe lassen", versprach er leise.
Sie wünschte, er hätte ihr verzeihen können, doch dazu schien er im Moment nicht in der Lage. Obwohl sie es nicht anders erwartet hatte, war sie enttäuscht und wollte gehen, doch die Erinnerung an das Gespräch mit Hagrid, ließ sie zögern. Was war ihr wichtiger? Ihr Stolz oder Keyx?
„Ich bräuchte…", begann sie und verstummte.
„Könntest du mir…", setzte sie zum zweiten Mal an.
„Hagrid meint, du könntest mir vielleicht helfen", brachte sie dann heraus.
Tarsuinn sah sie kalt an.
„Ich denke, ich hab dir schon mehr als genug geholfen", sagte er.
Das konnte sie nicht abstreiten. Traurig drehte sie sich um und wollte gehen. Sanft tastete sie nach Keyx, der in ihrer Tasche warm und sanft schlief.
„Ich bitte nicht für mich", bat sie ihn eindringlich und lauter als gewollt. „Es ist für Keyx."
Wieder traten Tarsuinns Wangenknochen hervor. Das war eine Angewohnheit, die sie bei ihm noch nie bemerkt hatte. Immer wenn er mit einer zwiespältigen Entscheidung rang, biss er die Zähne fest aufeinander.
„Es ist Zeit zu gehen", sagte Madame Pomfrey von der anderen Seite des Raumes. „Tarsuinn braucht Ruhe!"
„Kann sie noch etwas bleiben?", fragte Tarsuinn von seinem Bett aus und ein echt wirkendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Aber es konnte nicht echt sein. Es war ein Lächeln nur für Madame Pomfrey, um sie zu beruhigen und um zu erreichen, dass Toireasa bleiben durfte.
„Gut, aber nur zehn Minuten", sagte die Krankenschwester einlenkend und ging aus dem Saal.
Tarsuinn drehte wieder den Kopf in Toireasas Richtung. Das Lächeln war verschwunden.
„Wie kann ich Keyx helfen?", fragte er, hart den Namen ihrer Eule betonend.
Toireasa erzählte ihm alles von der Wette mit Vivian und beobachtete eine fast identische Reaktion, wie bei Darkcloud. Dann erklärte sie ihm, gegen welche Traditionen sie zu verstoßen gedachte. Er hörte sehr aufmerksam zu, stellte ab und an eine Zwischenfrage zum genauen Wortlaut der Wette, wie der Besitz an Haustieren geregelt war und was sie kosteten.
„Ich denke, du kannst Vivian austricksen. Du brauchst nur jemand, der dir bei der Durchführung hilft", sagte er nach längerem Überlegen. „Im Grunde genommen ist es ganz einfach."
„Und wie?", fragte sie neugierig und überrascht. Wie konnte es einfach sein?
„Ihr habt ausgemacht, dass Vivian deine Eule bekommt. Es wurde nicht gesagt, welche Eule. Kauf einfach eine andere, verschenke oder verkaufe Keyx an jemanden dem du vertraust und der ihn gut behandelt und du verstößt nicht gegen den Wortlaut der Wette."
Sie starrte ihn erstaunt an. War es wirklich so simpel?
„Ich könnte Hagrid fragen", sagte sie begeistert.
„Das geht nicht. Er weiß, dass du damit betrügen willst, also darf er es nicht tun. Für mich gilt das Gleiche."
„Aber ich hab doch niemanden sonst", sagte sie, schon wieder frustriert. „Kann ich nicht einfach eine zweite Eule kaufen und die dann selbst abgeben."
„Geht nicht, wegen der Schulregeln. So offen darfst du auch nicht das Schlupfloch nutzen."
Sie fluchte wortlos in sich hinein.
„Was ist mit deinen Brüdern?", fragte er.
„Die sind der Ansicht, ich hätte dich verbluten lassen sollen", zischte Toireasa und meinte damit vor allem Risteárd und weniger Aidan.
„Jemand anderes? Freunde, Eltern, andere Verwandte?"
„Nein", gestand sie beschämt ein.
Wieder spannte sich die Haut über seinen Wangenknochen. Dann griff er zum Nachttisch und holte Papier, Feder und Tinte hervor, zusammen mit einem Schreibbrett als Unterlage. Das alles reichte er Toireasa.
„Okay – schreib!", sagte er mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Sie gehorchte.
Hallo Tante Glenn,
ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber Tarsuinn hat Sie mir empfohlen. Er hat mir gesagt, dass man mit Ihnen auch recht ungewöhnliche Geschäfte machen kann. Deshalb hoffe ich, Sie können mir helfen und es soll Ihr Schaden nicht sein.
Die Eule, welche diesen Brief zusammen mit einer Galeone überbrachte, heißt Keyx. Ich möchte ihn Euch für zwei Monate verkaufen. Er gehört in dieser Zeit Euch und wird Ihnen gute Dienste leisten. Als Ersatz bitte ich Euch, mir die älteste, hässlichste und bösartigste Eule zu kaufen, die Ihr finden könnt und dann hierher zu schicken.
Wenn die zwei Monate um sind, werde ich Keyx mit einer weiteren Galeone auslösen.
Ich weiß, dies ist ein ungewöhnliches Anliegen, aber es würde mir sehr helfen. Sollte der Handel nicht zustande kommen, dann bitte ich Euch, mir Keyx sofort seine Rückkehr zu ermöglichen.
„…und Unterschrift!", beendete Tarsuinn das Diktat. „Jetzt bleibt nur die Frage, ob du mir soweit vertraust, um mir Keyx jetzt überlässt?"
„Du würdest Keyx nicht schaden", sagte Toireasa voller Überzeugung. „Nicht mal, um mich zu verletzen."
Er schüttelte nur den Kopf.
„Du glaubst gar nicht, zu was ich fähig sein kann", sagte er in einem Ton, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie schüttelte das ab.
„Aber warum sollte diese Tante Glenn auf den Vorschlag eingehen?", fragte sie.
„Weil ich sie darum bitte und weil…"
Er vollendete den Satz nicht, so als hätte er beinahe zuviel gesagt.
„Sag bitte Keyx, was ihn erwartet", überspielte er den angefangenen Satz.
„Aber kann er das denn bis heute Abend schaffen?", fragte sie. „Ist deine Bekannte denn so nahe?"
„Nein", jetzt grinste er. „Aber du kannst ihnen ja die Wahrheit sagen. Deine Eule ist unterwegs und wird morgen früh hoffentlich zurück sein."
Sie sah ihn für einen Augenblick an. Wenn er so schaute, konnte sie Hagrids Angst vor diesem Jungen ein wenig verstehen. Ein gewisser boshafter Humor blitzte in seinen Augen. Um ihn ihre Aufmerksamkeit nicht merken zu lassen, wandte sie sich schnell ab. Geduldig erklärte sie Keyx, was sie von ihm erwartete. Das war nicht sonderlich einfach und die kleine Eule sträubte sich nach Kräften gegen diesen Plan, aber da keine Alternative existierte, stimmte die kleine Eule dann doch zu. Zögerlich flog Keyx zum Fußende von Tarsuinns Bett und beäugte den Jungen intensiv.
„Ich geh dann mal", sagte Toireasa, da es nichts mehr zu besprechen gab.
„Ja, das solltest du", antwortete er, als wäre sie eine Unperson.
„Ich schulde dir jetzt noch mehr", sagte sie leise und war versucht seine Hand zu ergreifen.
„Tust du nicht!", widersprach er kühl, aber wenigstens mit etwas Emotion. „Damit bist du mit Ravenclaw quitt!"
„Das bin ich schon seit Halloween", erklärte sie ernsthaft.
„Gut! Dann werden wir hoffentlich in Zukunft keine Probleme mehr miteinander haben?", vermutete er.
„Nicht von mir", bestätigte sie.
„Aber von deinen Freunden?"
„Ich habe keine Freunde mehr, ich kann für niemanden sprechen", sagte sie und versuchte den gequälten Ton aus ihrer Stimme zu verdrängen. Sie fühlte sich so allein.
Obwohl er nichts sagte, konnte sie erkennen, dass Tarsuinn einen Moment Mitleid hatte. Oder zumindest bildete sie sich das ein.
Toireasa streichelte Keyx noch einmal sanft über den Kopf, dann verließ sie schnellen Schrittes den Krankenflügel. Jetzt war sie wirklich ohne Freunde in Hogwarts. Zwei Monate ohne Keyx – wenn alles klappte – waren aber immer noch besser, als ihren kleinen Liebling auf ewig zu verlieren.
Erstaunt war sie nur, wie bereitwillig sie gegen die Ehre beim Wetten verstieß. Natürlich war es Vivian, die Toireasa zuerst verraten und beinahe umgebracht hatte. Aber die Wettbedingungen hatte sie nicht gebogen. Sie jedoch plante den Wortlaut einer Wette zu interpretieren, um den Folgen einer verlorenen Wette zu entgehen. Das war zwar nicht strafbar, aber es stellte einen extremen Ehrverlust dar. Niemand würde je wieder mit ihr wetten wollen. Doch sie wollte das eh nie mehr tun. Nur der Gesichtsverlust würde schmerzen.
Nachdenklich ging sie um die Ecke und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Im Halbdunkel sah sie sich einer hellroten Schrift an der Wand gegenüber.
DIE KAMMER DES SCHRECKENS WURDE GEÖFFNET.
FEINDE DES ERBEN, NEHMT EUCH IN ACHT!
Wie angewurzelt blieb sie stehen. Konnte das wirklich wahr sein? Der Erbe des großen Salazar Slytherin war in Hogwarts?! Glorreiche Zeiten! Jetzt erst verstand sie das Getuschel einiger Schüler und auch was Hagrid gesagt hatte.
Ein Hochgefühl ergriff Toireasa. Sie hatte alles über den Gründer Slytherins gelesen. Seine großen Leistungen, seine Werke, sein friedlicher Kampf gegen die anderen, illoyalen Hausgründer, welche seine Ideen allesamt abgelehnt hatten.
Besonders hatte sie seinen abenteuerlichen Rückzug aus Hogwarts studiert, da er zu Recht befürchtete, seine Anwesenheit würde die anderen Zauberer dazu bringen – das große Werk namens Hogwarts – um seinetwillen zu zerstören.
Der Erbe würde jetzt wahrscheinlich den Einfluss in Hogwarts nehmen, wie er im Sinne Salazar Slytherin war. Sicherlich würde er…
…und da traf es sie wie ein Schlag. Das Lächeln wich von ihren Lippen und voll Entsetzen klappte ihr Kiefer nach unten.
…um zu reinigen, was rein sein sollte. Um ein Beispiel zu geben für die Zaubererwelt und den Schlammblütern ihren Platz zu weisen…
Tarsuinn, dachte sie erschrocken. Was würde der Erbe mit einem Muggel anstellen, der nicht nach Hogwarts gehörte? Sie kannte die schreckliche Antwort. Und die betraf nicht nur Tarsuinn. Wenn der Erbe wirklich hier war, dann war sie dazu verdammt sich gegen ihn zu stellen. Sie schuldete Tarsuinn ihr Leben. Unter keinen Umständen durfte dem Jungen irgendetwas zustoßen!
Und dann wandt sich ein zweiter Gedanke durch Toireasas Bewusstsein.
Einer ist wie tausend…
Tarsuinn hatte seinem Körper niemals den Schlaf gegönnt, den dieser verlangte. Es war ihm bewusst, dass er zwei oder drei Mal am Tag seine vier Stunden hätte schlafen müssen, aber er hasste es wie die Pest. Leider war Madame Pomfrey der Meinung, dass er viel Schlaf zum Genesen brauchte und hatte für ihn extra einen leichten Schlaftrunk besorgt, der ihm zwar das Wachbleiben unmöglich machte, aber das Erwachen nicht verhinderte. Auf diese Weise war er gezwungen vormittags, nachmittags und nachts in seine Alpträume zu versinken. Er hatte mehrmals versucht den Trank zu vermeiden, doch Madame Pomfreys aufmerksamer Blick entlarvte alle seine Versuche und sie ließ auch nicht mit sich reden.
Einen Vorteil hatte jedoch dieses Verfahren. Tarsuinn wachte zum ersten Mal in seinem Leben auf, ohne den jeweiligen Höhepunkt seines Alptraums erreicht zu haben. Schlicht und einfach deshalb, weil sein Körper erwachen wollte und nicht sein Geist. Oder anders ausgedrückt – er war ausgeschlafen. Was er jedoch vorsichtshalber verbarg, da er Madame Pomfreys Tranktasse fürchtete. Doch anscheinend hatte sie eh im Moment Besuch. Er hörte zwei ziemlich leise Stimmen aus ihrem Raum. So leise, dass sogar er angestrengt lauschen musste.
„Ich halte es für sehr gefährlich ihn so viel schlafen zu lassen, Poppy", hörte er Professor Dumbledore mit seiner sanften Stimme sagen.
„Es muss sein! Und diesmal werde ich Ihr Eingreifen nicht zulassen", antwortete Madame Pomfrey überzeugt. Nur selten hatte Tarsuinn jemand Professor Dumbledore widersprechen hören, vor allem in einem solchen Ton. Die Krankenschwester klang so, als stünde sie kurz davor, eine Gardinenpredigt zu halten.
„Könnten Sie mir das erklären?", fragte Dumbledore.
„Oh ja – das kann ich!", erwiderte sie laut, dämpfte aber sofort wieder die Stimme. „Sie haben ihm Lebensessenz gegeben! Dass es illegal ist, stört mich dabei wenig, da Sie es sicher rein hergestellt haben. Aber es ihm heimlich zu geben, in meinen Räumen, ohne mein Wissen…! Wenn es ihm nicht die Zeit geschenkt hätte, die der Heiler brauchte, dann könnten Sie jetzt Ihr Büro ausräumen."
„Ich wollte Sie nicht mit dem Ministerium in Konflikt bringen, Poppy. Das Gesetz zu dem Trank mag veraltet sein, aber uns blieb nicht die Zeit es schnell zu ändern", versuchte der Professor sie gnädig zu stimmen.
„Sie hätten es mir sagen müssen", beharrte die Krankenschwester. „Das hätte es für ihn und mich einfacher gemacht."
„Ihr seht mich unwissend, Madame", sagte Dumbledore erstaunt. „Ein Tag Fieber ist doch normal. Ob nun durch die Essenz von einem Fremden, oder die Wunde."
Tarsuinn quälte sich aus dem Bett und schleppte sich, halb gebeugt und vorsichtig tastend, Richtung Gespräch. Er wollte kein Wort verpassen von dem, was die Erwachsenen besprachen.
„Das dachte ich auch – nur – er hat kein Fieber, solange er wach ist. Nicht einmal erhöhte Temperatur. Und selbst wenn er die Augen geschlossen hält, er schläft niemals wirklich."
„Wie ist er, wenn er wach ist?", forschte Dumbledore, so als wolle er auf etwas hinaus.
„Nichts. Keine Anzeichen Ihres Wesen, Ihrer Sprachweise."
„Der Trank war ein Geschenk an mich", hörte Tarsuinn Dumbledore rätselhaft erklären.
„Nun, wenn diese Person Tarsuinns geheimer Zwilling war, dann würde das sein Verhalten erklären."
„Der Spender war grundverschieden zu dem Jungen."
„Dann mache ich mir jetzt noch mehr Sorgen!", schlussfolgerte Madame Pomfrey. „Es sei denn, Sie wissen etwas mehr als ich."
„Ich glaub, ich habe eine Idee, warum das passiert. Aber ich kann leider nicht sagen, was das für Konsequenzen haben kann", sagte Dumbledore seufzend. „Ein Lachkrampf oder eine Explosion – alles ist möglich."
„Und warum hat er nun nicht das nötige Fieber und die Wesensveränderung, welche typisch wäre?", erkundigte sich Madame Pomfrey etwas ungehalten.
„Weil er es gewohnt ist, sich selbst zu kontrollieren, Poppy. Seinen Körper, seine Gedanken. Was immer ihn in seinen Träumen heimsucht, es hätte auch Macht über ihn, wenn er wach ist. Ich vermute, nur diese unnatürliche Kontrolle erlaubt ihm überhaupt bei klarem Verstand zu bleiben. Um ehrlich zu sein – das habe ich befürchtet, doch ich sah keinen anderen Weg ihm die nötige Zeit zu verschaffen."
„Und wenn er Pech hat, dann haben Sie sein geistiges Gleichgewicht zerstört", sagte die Krankenschwester eher traurig, denn vorwurfsvoll.
„Er ist stärker, als er aussieht", sagte Dumbledore leise lachend. „Es würde mich nicht wundern, wenn er, schneller als wir glauben, wieder durch die Gegend schleicht, um andere Leute zu belauschen."
Tarsuinn beeilte sich bei diesen Worten, schnell in sein Bett zurück zu finden. Wusste der Professor, dass er gelauscht hatte? In der Eulerei vor einigen Wochen war er davon ausgegangen, gesehen worden zu sein. Doch hier hätte Dumbledore ihn hören müssen und das würde ja bedeuten, der Mann hätte ein genauso gutes Gehör wie Tarsuinn. Das fand er unfair, Sehen können und ein ausgezeichnetes Gehör war einfach zuviel des Guten. Wie zum Teufel sollte man diesen Mann austricksen? Oder war es das Schloss, das Tarsuinn verraten hatte?
Er krabbelte wieder vorsichtig unter seine Decke und tat dann so, als würde er schlafen. Leider konnte er nichts weiter hören. Professor Dumbledore ging nach einiger Zeit und Madame Pomfrey schwebte auf Zehenspitzen durch den Raum und putzte mit ihrem Zauberstab. Wahrscheinlich fand sie an allen Ecken und Enden des Krankenflügels sein Blut. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er an Filch gedacht hatte und dass dieser ihn wegen der Extraarbeit umbringen wird, sollte er das überleben.
Anscheinend war es ziemlich knapp gewesen. Das Zeug, das Dumbledore ihm herunter gezwungen hatte, hatte gebrannt wie Feuer und hatte sein Herz zum Rasen gebracht. Doch es war nur halb so schlimm gewesen, wie die Hände des Heilers und Madame Pomfreys in seinem Bauch zu fühlen. In dem Moment hatte er sich gewünscht, sie hätten ihm doch diese Spritze verabreicht. Er hatte panische Angst gehabt zu sterben, ein Geist zu werden und in die Hütte im Wald zurückzumüssen.
Dass Professor Dumbledore seinen Geisteszustand für grenzlastig hielt, störte Tarsuinn nicht. Es war nichts Neues für ihn. Außerdem fühlte er sich auch nicht anders als sonst, wodurch er sich um seine geistige Stabilität nicht sonderlich sorgte.
Eher störte ihn, dass er sich kaum daran erinnern konnte, was in der Hütte passiert war. Er wusste nur noch, dass er es irgendwie geschafft hatte, sich nach draußen zu schleppen. Erst als er Toireasa und das Pferd – inzwischen wusste er, dass es ein Einhorn gewesen war – hörte, war er wieder halbwegs klar gewesen und konnte sich jeden einzelnen Laut ins Gedächtnis rufen. Genauso, wie er sich an seine Überraschung erinnern konnte, als er plötzlich aufgespießt worden war. Sein Plan war gewesen, dem Tier im letzten Moment auszuweichen, doch das unerwartete Horn hatte sein Vorhaben effektiv durchkreuzt. Er hatte instinktiv gehandelt und als Muggel gedacht. Die Strafe war sofort erfolgt. Das Magieuniversum hatte letzte Nacht stark an Reiz für ihn verloren. Man starb hier genauso schnell, wie in der normalen Welt, wenn nicht noch schneller. Einzig die Heilmethoden waren viel effektiver.
Aber die Probleme in dieser Schule waren die Gleichen wie überall. Hänseln, Drangsalieren, sich das Leben zur Hölle machen, Mist bauen – alle Kinder waren gleich. Er nahm sich davon nicht aus. Heute Mittag, als Toireasa sich bei ihm entschuldigte und um Hilfe bat, da hatte sein Verstand gesagt, er solle nett zu ihr sein und Frieden mit ihr schließen. Aber gleichzeitig war er so wütend auf sie gewesen, dass er ihr am liebsten eine runter gehauen hätte. Im Endeffekt hatte er einen Mittelweg zwischen Verstand und Herz gewählt.
Immer den Ausgleich anstreben, immer die Kontrolle behalten.
Wenn das wirklich der Grund war, dass er nicht als sabbernder Idiot herumrannte, dann fühlte er sich dabei schlecht. Warum war es ihm nicht möglich, mal konsequent einseitig zu handeln? War es nicht leicht krank, auf der einen Seite Toireasa mit ätzenden Kommentaren zu verletzen und ihr andererseits aus der Klemme zu helfen? Er hatte durchaus den Schmerz in ihrer Stimme gehört. Ihre Entschuldigung war ehrlich gewesen. Sie hatte sogar ihren Zauberstab freiwillig und aus eigenem Antrieb weggegeben und nahm laut Hagrid die Strafarbeit ohne murren hin. Tat sogar mehr, als sie musste. Seine Schwester hätte sicher Nachsicht mit ihr geübt. Rica versuchte immer das Gute im Menschen zu sehen. Tarsuinn konnte das nicht so einfach. Er war kein Heiliger.
Aber er konnte fühlen und wenn er eines wusste, dann dies – die Geister in der Hütte waren ein Übel. Und das Wissen in der Hütte hatte nur ein Ziel, Übel zu verbreiten. Tarsuinns Wunde schmerzte heftig, als er sich vorstellte, dass ein anderer die Hütte fand – vielleicht gar ein Slytherin – und auf die Geister einging. Das konnte nicht gut gehen, vor allem da die meisten Geister ihn als Feind betrachtet hatten. Aber warum? Was war ein Abkömmling? Warum waren ihm die Geister nicht gefolgt?
Fragen über Fragen und - last, but not least – sollte er Dumbledore davon erzählen? Und wenn nicht – was sollte er erzählen, warum er im Verbotenen Wald gewesen war? Irgendetwas musste er ja sagen.
Doch wie weit konnte er denn überhaupt Dumbledore vertrauen? Ja – der Professor war immer nett und hilfreich gewesen. Aber kannte er den Mann überhaupt? Wie würde er bei so viel Macht und Reichtum reagieren? Wie würden andere Lehrer reagieren? Snape zum Beispiel. Einige der Schüler. Wer würde nicht in Versuchung geführt?
Dazu auch noch die Sache mit seinem Zauberstab. Er war sich absolut sicher, dass die Geister ihm die Möglichkeit hatten geben wollen, einen der Unberührbaren Zauberstäbe zu finden und in Besitz zu nehmen. Dass Tarsuinn schon einen solchen Stab hatte, hatte die Geister verwirrt und feindselig gemacht. Sie waren durch ihn hindurch geflogen. Er hatte ihre Formen des Todes miterlebt und…Stopp!
Er richtete sich ruckartig auf und schrie vor Schmerz auf. Sofort war Madame Pomfrey zur Stelle. Sie glaubte natürlich, er wäre aus seinem Alptraum erwacht und hätte sich deshalb wieder wehgetan. Er ließ sie in dem Glauben. Krampfhaft versuchte er den Gedanken an die Geister festzuhalten.
Also, wie waren die Todesarten gleich gewesen? Gevierteilt, vor Kanonen gespannt, verbrannt – wie konnte man Zauberer so töten? Immer und immer wieder ließ er die Erinnerungen vorbei ziehen. Einzelne Bilder, Gefühle, Hass. Besonders dieser Hass war seltsam. Immer bezog er sich auf eine, manchmal zwei Personen. Nicht die Leute mit den Fackeln oder an den Peitschen für die Pferde, hassten die zum Tode verurteilten Zauberer, sondern andere. Personen im Hintergrund, in den Erinnerungen unverhältnismäßig scharf zu der verschwommenen Masse der johlenden Zuschauer. Unscheinbare Gestalten, meist völlig ruhig, ohne jede Freude oder Genugtuung und in ihrer Hand…in ihrer Hand ein kleiner Zweig. Nein! So musste ein Zauberstab aussehen. Meist war er weiß und immer unauffällig unter Umhängen auf den Verurteilten gerichtet.
Und er begriff – das waren die Männer und Frauen, welche die Geister in Wirklichkeit umgebracht hatten. Sie unterdrückten die Zauberkräfte der Verurteilten und gaben so dem Volk – den Muggeln – die Möglichkeit zu töten. Tarsuinn ertappte sich bei der Frage, ob wirklich eine solch bestialische Art der Hinrichtung nötig gewesen war.
Abkömmling, hatten die Geister geschrien und vielleicht hatte das nicht nur für ihn gegolten?
Darüber musste er unbedingt nachdenken. Und vor allem, was bedeutete dies für ihn?
So grübelte er den gesamten Rest des Nachmittages, bis ihn Ninja-chan aus deinen Gedanken riss. Die Posteule hackte ihn in den Finger, damit er sie bemerkte und ihr den Brief abnahm. Was er auch sofort tat, denn dieser kleine Miesepeter war nicht sonderlich zimperlich und griff auch gerne zu noch brutaleren Methoden. Eigentlich hätte man ihn an diese Vivian geben müssen.
Lobend streichelte er Ninja-chan, was dieser auch gerne über sich ergehen ließ. Dann öffnete er den Brief. Der unverkennbare Duft nach Desinfektionsmitteln, Salben und ein wenig Lotusblüte sagte ihm, dass das Papier von seiner Schwester kam.
Hallo Kurzer,
Professor Dumbledore hat mir geschrieben, dass Du Dich wieder mal selbst in Gefahr gebracht hast und ich muss sagen, es freut mich nicht, dass Du anscheinend alles unternimmst, um vor mir den Löffel abzugeben. Das finde ich unakzeptabel!
Natürlich hoffe ich, Dir geht es inzwischen besser und der Professor hat mir auch berichtet, dass Du einem Mädchen das Leben gerettet hast, was mich wiederum etwas milder stimmt und mich stolz macht.
Ich hoffe, Du und das Mädchen habt gelernt, nicht in diesen Wald zu gehen. Ich hab heut sicher einige Tage meines Lebens verloren. Die Krankenschwester hatte den Defibrillator schon in der Hand, weil mein Herz für ein paar Sekunden aussetzte.
Also – schreib mir so schnell wie möglich, dass es dir und Tikki gut geht und versprich mir nie wieder in den Verbotenen Wald zu gehen.
Außerdem wäre es nett, wenn Du mich nicht dumm sterben lässt und mir ein wenig mitteilst, was Du in der Schule anstellst und warum. Dieser kleine Professor Flitwick hat mich neulich mal besucht und einen Haufen seltsame Fragen über Dich gestellt.
Ich würde sehr gern die ungeschminkte Wahrheit von Dir lesen. Ich weiß, dass wir uns gegenseitig nur die Sonnenseiten des Lebens in unseren Briefen mitgeteilt haben. Wird Zeit dass dies aufhört! Ich bin vielleicht nicht mehr lange da – ja ich geb zu, ich hab kaum noch Hoffnung – und da wäre es doch nur sinnvoll, wenn wir uns wie früher völlig vertrauen.
Deshalb hier die bittere Wahrheit über mich:
Es hat sich nach der letzten Operation wieder ein Tumor gebildet. Diesmal an einer Stelle, die nicht operativ erreichbar ist. Na ja – erreichbar wäre die schon, aber ob da noch was von mir übrig bliebe, ist mehr als fraglich. Er wächst schnell und wird über kurz oder lang Schaden an meinem Gehirn verursachen und Metastasen bilden. Laut dem Arzt werde ich wahrscheinlich das Frühjahr erleben, aber alles darüber hinaus wäre ein Wunder. So hart es klingen mag, ich hab inzwischen alles geregelt. Ein Testament ist geschrieben, ein Vormund für Dich bestimmt (Professor Flitwick kennt da eine nette Muggelfamilie) und die Zinsen unseres Vermögens sollten Dir ein gutes Leben ermöglichen, egal in welcher Welt.
So – und jetzt erwarte ich Deine ehrliche Antwort und wenn Du Fragen hast, stell sie mir jetzt. Selbst solche Themen wie – wo kommen die Babys her – kein Problem, ich werd sie Dir beantworten.
Deine Dich liebende Schwester
Rica
Es war, als hätte ihm ein kleines Männchen einen Hammer über den Kopf gezogen. Zwar wusste er seit er sechs Jahre alt war, dass seine Schwester nur eine begrenzte Lebenszeit hatte, doch in stillem Einverständnis hatten sie nie darüber geredet.
Sie hatten aber auch nie sonderlich weit in die Zukunft geplant.
Doch diese harte Offenheit Ricas machte ihm sehr deutlich klar, wie begrenzt die Zeit noch war und wie klein seine Hoffnung ein Zauberer zu sein. Seine Augen brannten – das war eh das Einzige, wozu die nutze waren – und seine Nase kribbelte furchtbar.
Energisch drängte er die aufsteigenden Tränen zurück. Weinen war Kontrollverlust und wenn er wirklich kurz vor einer Vollklatsche stand, dann war es besser, sich auf den Verstand zu konzentrieren.
Vorsichtig tastete er nach einer leeren Pergamentrolle und seiner Feder. Auf der Suche danach, kam seine Hand an Unmengen Süßigkeiten vorbei und konnte einem Schokofrosch nicht widerstehen. Eigentlich hatte Madame Pomfrey das Naschen nicht vor morgen erlaubt – aber vielleicht sah sie gerade nicht herüber.
Beim seinem nächsten Besuch im Krankenflügel würde ein Tisch vielleicht nicht mehr ausreichen, dachte er ironisch. So viel konnte er doch gar nicht essen.
Nachdem er den Schokofrosch verputzt hatte, nahm er ein Pergament zur Hand, seine Feder und schrieb:
Liebe Rica,
ja, mir und Tikki geht es wieder gut. Ich kann sogar schon aufstehen! Aber nur heimlich, wenn Madame Pomfrey nicht aufpasst.
Es tut mir Leid, dass Du Angst um mich hattest und es tut mir auch Leid, dass ich Dir nicht versprechen kann, den Verbotenen Wald zu meiden. Ich habe da etwas Gefährliches gefunden und wenn ich weiß wie, werde ich versuchen es zu vernichten. Das darfst Du niemandem sagen – bitte. Ich werde mich vorsehen. Ich weiß jetzt, was mich erwartet.
So – und jetzt zu der Wahrheit, die Du möchtest:
Als Zauberer bin ich leider völlig mies. Einzig im Brauen von Zaubertränken habe ich etwas Talent und das sollte Dir ein wenig Hoffnung geben. Professor Dumbledore hat mir auch ein paar Bücher zugespielt, die Tränke enthalten, die Dir eventuell helfen könnten. Leider aber verspricht keiner von ihnen Heilung – nur Linderung und Zeit. Ich werde versuchen ein paar von denen zu brauen. Das ist zwar außerhalb des Unterrichts und des Hobbykurses absolut verboten, aber ich habe einen guten Ort gefunden, um ungestört zu sein. Du brauchst nicht versuchen mich davon abzubringen oder es zu verbieten. Ich habe hier Möglichkeiten und Wege, welche ich nutzen werde. Du hast keine Zeit mehr und Du musst zulassen, dass diesmal Du die Hilfe brauchst.
Ansonsten möchte ich mich gegen die Unterstellung wehren, ich würde hier in Hogwarts etwas anstellen. Ich benehme mich so, wie die meisten Schüler auch, nur das ich wie ein Papagei Bewegungen und Worte übe, die nie etwas bewirken.
Trotzdem könnte ich glücklich hier sein, wenn ich Dich gesund wüsste und nicht einige Feinde hier hätte.
Deswegen darfst Du Dich nicht selbst aufgeben. Tikki ist der Ansicht, ich könnte es hier schaffen und Du solltest mir da auch vertrauen. Ich wäre sonst schwer enttäuscht von Dir! Die Rica die ich kenne, hat uns beide durch den Dschungel Indiens gebracht, hat uns in den Straßen Hongkongs versteckt und versorgt und uns auch die Heimreise nach Schottland ermöglicht. Ich kann mir ein glückliches Leben ohne meine Rica nicht vorstellen! Also reiß Dich zusammen und bekämpfe das Ding in Deinem Kopf. Ich werde hier alles Mögliche tun um Dir zu helfen.
Da muss ich jedoch…
Er setzte die Feder ab, sollte er das wirklich schreiben? Doch sie wollte die Wahrheit.
…gestehen, dass ich Deine Rettung vielleicht schon in der Hand hielt, aber sie abgelehnt habe. Bitte versteh mich nicht falsch, es war ein Angebot des Teufels. Deine Gesundheit wäre mit dem Blut anderer erkauft, das weiß ich. Und ich weiß auch, dass Du das nicht gewollt hättest. Du hast mir beigebracht, mich nicht auf Kosten anderer zu bereichern oder Macht über sie anzustreben, doch genau darauf wäre alles hinausgelaufen. Ich hätte zwar meine Schwester gerettet, aber sicher Dich und mich selbst verloren. Das konnte ich einfach nicht. Bitte verzeih mir meinen Egoismus. Ich konnte einfach nicht annehmen. Leider kann ich in einem Brief nicht alles schreiben, aber wenn wir uns im Sommer treffen, wirst Du jede Einzelheit erfahren.
Wieder stand die Feder still. Konnte Rica das überhaupt verstehen? Ach, wie wünschte er sich ihre Stimme zu hören. Aber er durfte ja Hogwarts nicht verlassen und er wusste eh nicht, wo Hogwarts überhaupt lag. Außerdem hatte er inzwischen eine Vorstellung, wie einfach es sein würde, ihn mit Hilfe der Magie einzufangen, sollte er es wagen wegzulaufen.
Also – gib die Hoffnung nicht auf und schreib mir so oft Du kannst. Ich werde dasselbe machen.
Dein Tarsuinn
Etwas war da noch.
P.S.: Was ich vergaß – ich weiß, woher die Babys kommen, ich weiß nur nicht wie sie hinein kommen! Bücher zu diesem Thema scheinen in der Verbotenen Abteilung der Bibliothek zu stehen und Madame Pince weigert sich beharrlich, auch nur eines davon an einen Erstklässler freizugeben.
Sorgfältig faltete er den Brief zusammen. Leider hatte Winona kein Siegelwachs mitgebracht, weshalb er den Brief einfach in das Kuvert von Ricas Brief tat.
„Ninja-chan?", fragte er und hörte die kleine Eule hinter seinen Süßigkeiten hervortrippeln und hektisch die Flügel ausbreiten. Seine Hand schnellte der kleinen Eule entgegen und fing sie, bevor sie abhauen konnte. Ninja-chan rächte sich dafür, indem er in die empfindliche Haut zwischen Zeigefinger und Daumenansatz hackte.
„Beruhige dich", fauchte Tarsuinn. „Ich will dich doch nur rauf zur Eulerei schicken."
Das ließ Ninja-chans Widerstand ein wenig erlahmen. Er hasste es, bei dem Wetter zweimal hintereinander raus zu müssen. Dafür war er zu faul und wahrscheinlich auch etwas zu schwach.
„Ich möchte dich nur bitten, den Brief einer anderen Eule zu geben und sie zu Rica zu schicken. Das ist alles!", erklärte Tarsuinn. „Ist das okay für dich?"
Der Versuch, Tarsuinn durch intensiven Blutverlust umzubringen, endete.
„Gut. Das haben schon größere Wesen versucht und sind gescheitert", kommentierte Tarsuinn. „Lass uns doch einfach miteinander auskommen."
Vorsichtig stellte er die kleine Eule auf den Tisch zurück und hielt ihr den Brief hin. Nach einigen Augenblicken wurde dieser ihm aus der Hand gezogen und die kleine Schuleule flog davon. Für einen Moment fragte er sich, wie Ninja-chan hier wieder herauskommen wollte, schließlich schienen alle Fenster geschlossen zu sein, aber irgendwie musste er ja auch hineingekommen sein.
Später – nach dem Abendbrot, für ihn gab es nur eine lauwarme, ungewürzte Suppe und gezuckerten und ebenso lauwarmen Tee – bekam er Besuch von Winona, Luna und anderen Ravenclaws. Es waren sogar einige ältere Schüler mit dabei und Madame Pomfrey war äußerst unerfreut über die Anzahl der Besucher.
Auch Tikki hatte man ihm mitgebracht, die inzwischen schon recht erholt wirkte. Vorsichtig streichelte er ihr Fell, während er ein Durcheinander an Gute-Besserungs-Wünschen und Fragen beantwortete. Er war selbst erstaunt, wie viele gekommen waren und wie erfreut sie waren, dass es ihm gut ging. Von manchen von ihnen kannte er gerade mal den Namen und die Stimme. Er bot allen an, seine Süßigkeiten zu vertilgen, da er sie selbst nicht essen durfte. Ein Angebot, das mit Begeisterung angenommen wurde, was ihn selbst sehr freute.
„…das Haus ist gleichsam Ihre Familie hier in Hogwarts", hatte Professor McGonagall am Tag seiner Ankunft verkündet und zum ersten Mal begriff er, wie Recht sie damit hatte. Im Moment fühlte er sich mit allen Ravenclaws sehr verbunden.
Viele fragten ihn was geschehen war, doch immer, bevor er etwas sagen konnte, wies Winona den Fragesteller darauf hin, dass Tarsuinn Erholung und keine schlechten Erinnerungen brauchte. Das war zwar überbesorgt, hatte aber den netten Nebeneffekt, dass er sich keine Erklärung für seinen eigenen nächtlichen Ausflug ausdenken musste.
Trotzdem gab es viel zu erzählen. In einem Durcheinander an Erzählungen und Mutmaßungen erfuhr er von der Anwesenheit des Erben von Slytherin, von der Kammer des Schreckens und der Schrift an der Wand. Tarsuinn musste mehr als einmal versichern, dass seine Verletzung von etwas anderem herrührte. Das überzeugte zwar nicht alle – ihm wurde sogar ein Amulett umgehängt, welches ihm Schutz geben sollte, da er als Muggel besonders gefährdet war – doch die meisten akzeptierten seine Erklärung, wobei Winona wieder blockte, als er von dem Einhorn erzählen wollte. Er wusste zwar nicht wieso, aber er folgte endlich diesem Wink und vermied von nun an selbst das Thema.
Wenig später warf Madame Pomfrey aufgrund der Lautstärke die meisten Ravenclaws hinaus (unter dem Hinweis, dass haltlose Spekulationen über die Kammer des Schreckens sicher nicht in den Krankenflügel gehörten) und nur Winona, Cassandra, Luna, Merton, Alec und Ian durften bleiben, nachdem sie sich verpflichtet hatten, etwas mehr Rücksicht zu nehmen.
So verbrachten sie dann auch den Großteil des Abends mit fröhlichen Gesprächen und Witzen, die beim Lachen jedes Mal Schmerzen in seinem Bauch erzeugten. Besonders Merton tat sich dabei hervor, wenn auch die meisten seiner Pointen aus der Muggelwelt stammten und nur von ihm selbst, Tarsuinn und – seltsamerweise – Winona verstanden wurden.
„Ich hätte nie gedacht, dass ihr solche Sadisten seid", erklärte Tarsuinn nach einer besonders schmerzhaften Lachattacke. Seine verletzten Bauchmuskeln protestierten aufs heftigste. Erstaunlicherweise schien Madame Pomfrey dagegen jedoch nichts unternehmen zu wollen.
„Wir haben gelernt", erklärte Ian lachend.
Das erinnerte Tarsuinn an etwas, was ihm Winona gestern erzählt hatte und was seine Fröhlichkeit verfliegen ließ.
„Ja, ich hab gehört, dass ihr euch als Slytherins versucht habt", sagte er leise und ernst.
Auch das Lachen der anderen verstummte nun.
„Schaut ihr betreten zu Boden?", fragte er nach einer Weile des Schweigens.
„Luna hatte nichts damit zu tun", erklärte Ian mit belegter Stimme statt einer Antwort. „Sie wollte da nicht mitmachen. Wir anderen waren aber zu…"
„…rachsüchtig", vervollständigte Winona den Satz. „Ich hab sie angestiftet."
„Aber wir waren alle, bis auf Luna, sofort einverstanden!", nahm Cassandra Winona in Schutz.
„Wir bereuen das ja auch…", erklärte Merton ehrlich.
„…auch wenn wir jetzt wissen, dass sie indirekt Schuld hatte", meinte Alec ein wenig uneinsichtig. „Sie hat dich im Regen stehen lassen, statt zu helfen!"
„Aber im Endeffekt habt ihr sie dazu getrieben, etwas sehr Dummes zu machen", sagte Luna mit ihrer leisen Stimme, in der überhaupt kein Vorwurf mitschwang, sondern eher, als würde das Mädchen etwas erklären, was man schon vorher hätte absehen müssen. Jeder wusste, dass sie Recht hatte und so wagte niemand gegen die offensichtliche Richtigkeit der Aussage zu argumentieren. Trotzdem hätte sich Tarsuinn gewünscht, dass Luna das nicht gesagt hätte. Oder zumindest nicht in diesem Ton.
Luna war eine Außenseiterin. Ihre seltsame Art, ihre Zurückhaltung und ihr undiplomatischer Umgang mit dem, was sie manchmal sagte, wenn sie etwas sagte, sorgten nicht gerade für ungeteilte Beliebtheit. Sie war nicht verhasst oder wurde gehänselt, aber man begegnete ihr mit einer gewissen Distanz. Sie war einfach zu seltsam für das sonst eher etwas logisch-nüchterne Ravenclaw.
„Sei es wie es sei", sagte Tarsuinn nach einer Weile. „Ihr seid quitt mit ihr. Die Sache ist von ihrer Seite her erledigt und ich habe ihr versprochen, dass sie von euch in Ruhe gelassen wird. Tut ihr mir diesen Gefallen? Bitte!"
Tarsuinn konnte fühlen, wie sich seine Freunde gegenseitig ansahen, um die Meinung der anderen zu erfahren, ohne dass er selbst etwas davon mitbekam.
„Wir versprechen es", sagte dann Winona.
„Dann ist das auch von meiner Seite aus erledigt", erklärte er und versuchte dann doch noch etwas zu erklären. „Wisst ihr, ihr seid etwas Besseres als die Slytherins. Auch wenn ich vielleicht an eurer Stelle genau dasselbe gemacht hätte. Aber ich möchte nicht, dass ihr so etwas tut. Nicht wegen mir. Ihr seid meine Freunde, die besten die ich je hatte. Und das seid ihr, weil ihr halt nicht wie die meisten Slytherins seid."
Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte er Tränen aufsteigen und wieder drängte er sie zurück. Was er nicht sagte war, dass es ihm jetzt schon fast undenkbar war, sich ein Leben ohne Ravenclaw vorzustellen. Ohne Hogwarts, ohne Flitwick und all die tollen und faszinierenden Sachen hier. Tarsuinn fühlte sich hier wohler, als selbst in Hongkong, wo er über fünf gute, wenn auch anstrengende, Jahre lang gelebt hatte. Er fühlte sich auf eine ganz besondere Art reich und fürchtete, das alles in einigen Monaten wieder zu verlieren. Genau wie seine Schwester. Was würde ihm dann noch bleiben, was ihm wichtig war?
Nur Tikki und das war sein einziger Trost. Sanft streichelte er durch das weiche Fell seiner kleinen Beschützerin, die zusammengerollt auf seinem Schoß lag. Mungos schliefen viel, wenn sie sich von einer Verletzung erholten.
Als Tarsuinn seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, war er mit Winona allein. Er hatte gar nicht bemerkt, wie alle anderen gegangen waren. Ein Zeichen dafür, dass es im Moment vielleicht doch nicht so gut um seine Selbstbeherrschung bestellt war.
„Sorry", murmelte er verlegen. „War leicht abwesend."
„Kein Problem", wehrte Winona leichthin ab. „Passiert jedem außer dir recht häufig. Nennt man: unkonzentriert sein."
„Furchtbares Gefühl", sagte er leise.
„Quatsch, du bist nur etwas fertig. Aber ich hab etwas für dich, was dich vielleicht aufmuntert. Du hast ein Paket bekommen."
Ein recht schweres, quadratisches Paket wurde auf seine Beine gelegt.
„Ist kein Absender drauf, weshalb es Snape beinahe konfisziert hätte, aber Professor Flitwick war glücklicherweise in der Nähe und meinte, das gehe schon in Ordnung", erklärte Winona. „Weißt du was drin ist?"
„Ich denke schon", antwortete er und musste lächeln. Er konnte sehr deutlich riechen, was in dem Paket war. „Das ist von Tante Glenn."
„Ich dachte, du hast nur Rica?", fragte sie verwundert.
„Sie ist nicht wirklich meine Tante, ich darf sie nur so nennen", erklärte er, während er die Verpackung sorgfältig entfernte. Vorsichtig tastete er über eine Art Kofferkiste, die er freigelegt hatte. Interessante Reliefs überzogen die Wände und an einer Ecke konnte er ein – Made by Zic and Zac – lesen.
„Das Schloss ist auf der rechten Seite", half Winona aus.
Er drehte die Kiste und befühlte den Öffnungsmechanismus. Ein einfaches kleines Schloss, neben dem mit Klebeband zwei Schlüssel befestigt waren.
„Schließ auf", drängte Winona.
Er tat es und beinahe wäre ihm die Kiste herunter gefallen, denn zuerst verlagerte diese ihr Gewicht nach rechts und dann nach links. Glücklicherweise hatte Winona Augen und hatte schneller reagieren können, als er.
„Wow!", brachte sie hervor und hielt die Kiste fest
„Was?", forschte er und wollte mit den Finger hineintasten, doch seine Freundin fing seine Hand ab.
„Vorsicht! Nicht, dass du ins Feuer fasst."
„Welches Feuer?"
„Das unter dem Kessel natürlich. Ist mit einem Feuerschutzzauber umgeben. Ich dachte, du weißt, was du bekommst?"
„Bestellt hatte ich nur einige Zaubertrankzutaten", gestand er.
„Nun – bekommen hast du zumindest ein voll ausgestattetes Reiselabor. Mit allem Drum und Dran, wie ich sehe. Elementares Feuer, Brandschutzzauber, Rauchvernichter fürs Feuer, Zutaten um welche dich wahrscheinlich selbst Snape beneiden würde und auch ein wenig mehr Raum, als die Muggelphysik zulassen würde. Das ist ziemlich teuer. Oh – da ist ja auch ein Brief."
Sie reichte ihm einen Umschlag.
„Soll ich gehen?", fragte sie.
„Bitte nicht", antwortete er. „Sonst kommt Madame Pomfrey wieder auf den Gedanken mich schlafen zu lassen."
Tarsuinn öffnete den Brief und las.
Hallo Tarsuinn,
danke für Deinen Brief, ich habe mich sehr gefreut, auch wenn ich einige Zeit gebraucht habe, um zu verstehen was Du mir sagen wolltest. Ich bin Dir sehr dankbar. Deshalb habe ich Deine Bestellung etwas aufgewertet. Sieh es als verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Die Zutaten muss ich Dir aber in Rechnung stellen, schließlich muss ich mich ja irgendwie ernähren. Schick einfach eine Postanweisung an Gringotts mit der Bitte, dass Geld in Verlies 696 zu deponieren. So erreicht es mich am besten. Ansonsten hoffe ich, es geht Dir gut, Du lernst fleißig und Zic und Zac lassen Dich grüßen.
Deine
Tante Glenn
„Tante Glenn ist eine Hexe?", erfragte Winona das Offensichtliche.
„Yep."
„Wann hast du sie denn kennen gelernt?"
„Am ersten Schultag, als ich einkaufen war."
„Aber es gibt keine Tante Glenn in der Winkelgasse! Ich kenne mich da aus."
„Na ja – ich hab sie woanders getroffen", gestand Tarsuinn, nicht wissend, ob er verlegen sein oder verschwörerisch Grinsen sollte.
„Und wo da?", erkundigte sie sich misstrauisch.
Der Schalk gewann.
„Da, wo du schon immer mal hin wolltest, aber nie durftest", freute er sich diebisch.
„Du warst in der Nokturnegasse!", schlussfolgerte Winona richtig und das in empörtem Ton. „Bist du verrückt? Dir hätte sonst was passieren können! Und du kannst dieser Frau ganz sicher nicht vertrauen."
„Ach, du bist ja nur neidisch", stachelte er sie lachend auf. „Tu nicht so."
„Bei mir wäre das was ganz anderes. Ich bin eine Hexe, aber Muggel verspeisen die da zum Abendbrot. Da gehen Vampire, Werwesen und Schlimmeres um!"
„Furchtbar interessant, Du hast Recht", provozierte er sie weiter. „Schade, dass ich nichts sehen konnte."
„Du bist unmöglich!", fauchte sie aufgebracht. „Zweimal bist du innerhalb kürzester Zeit im Krankenflügel gelandet, durchstreifst die Nokturnegasse, vertraust wildfremden Leuten und gehst allein in den Verbotenen Wald. Wenn du so weiter machst, dann bist du tot, bevor das neue Jahr beginnt. Und dann diese mysteriöse Sache mit den Zauber…!"
Er legte schnell die Hand auf ihren Mund.
„Nicht! Madame Pomfrey könnte dich hören", bat er.
„Vielleicht wäre das besser so. Du darfst nie wieder in den Wald gehen", erklärte Winona, deutlich gedämpfter im Ton.
Er schüttelte langsam, aber entschieden den Kopf.
„Ich werde wieder in den Wald gehen", sagte er fest. „Ich habe da was Wichtiges zu erledigen!"
„Nach allem, was dir passiert ist?", fragte sie vorwurfsvoll.
„Mir bleibt kaum eine Wahl."
„Ich könnte dafür sorgen, dass es dir unmöglich wird", drohte Winona.
„Dann würde ich dir nie wieder etwas erzählen", sagte er traurig. „Vertrauen hat etwas Gegenseitiges!"
Er hörte Winona schwer schlucken.
„Ich hab das nicht ernst gemeint", flüsterte sie. „Ich versteh nur nicht, warum du dich unbedingt umbringen willst. Ich mach mir einfach nur Sorgen um dich."
„Ich habe nicht vor zu sterben, aber ich weiß einfach, dass ich zurück muss."
„Erklär mir warum!", forderte sie. „Ich erzähle nichts weiter, das weißt du!"
Ja, das wusste er. Aber sollte er sie da mit hineinziehen? Noch als er darüber nachdachte, ertappte er sich dabei, wie er von der Geisterhütte erzählte und spürte, wie es ihn befreite, seine Erinnerungen mit jemandem teilen zu können. Nebenbei klappte Winona sein neues Reiselabor zusammen und stellte es auf den Boden.
Zu seiner Verwunderung ließ er nichts an der Geschichte aus, nicht einmal den Moment, in dem er seinen richtigen Zauberstab zog. Sie sagte nichts dazu, aber er hörte sie scharf einatmen, als er es erwähnte.
„Und wie bist du aus der Hütte entkommen", fragte sie, als er geendet hatte.
„Da bin ich mir selbst nicht so sicher", gestand er. „Ich war so groggy, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mir das alles nur eingebildet habe oder ob es real war."
„Erzähl schon!", forderte sie. „Man kann doch an der spannendsten Stelle nicht einfach aufhören!"
„Na ja – ich glaube – ich bin mir fast sicher – Tikki ist dazu gekommen. Doch dann…irgendwie wurden die Gespenster, immer da wo sie war, zurückgeschleudert. Außerdem glaube ich, dass selbst die Geister ein wenig uneins waren und am Ende…"
Er dachte angestrengt nach.
„Tikki hat statt ihrem üblichen Kampfruf, immer nach ihrem Spielzeug gebettelt und ich glaube, ich hab deshalb den Feuerrubin herausgeholt und dann…"
Wieder versuchte er sich zu erinnern. Irgendetwas Erschreckendes war passiert. Er tastete nach seinen Sachen und kramte den kleinen Stein hervor. Neugierig hielt er ihn sich ans Ohr. Doch nichts.
„An was glaubst du dich denn zu erinnern?", drängte Winona. Irgendwann musste er ihr mal sagen, dass sie eines der ungeduldigsten Wesen der Welt war.
„Einer der Geister wurde in den Stein gezogen, als er mich angriff und er hat dabei ausgesehen und geschrien, als würde er nichts mehr auf der Welt fürchten, als das. Alle anderen sind dann plötzlich davor geflohen und so konnte ich mich aus der Hütte schleppen."
„Und dahin willst du zurück?", fragte Winona entsetzt.
„Ja", bestätigte er halbherzig und war selbst nicht mehr sonderlich von der Idee überzeugt. „Sobald ich weiß, wie ich diese verdammte Hütte zerstören kann."
„Okay – ich mach mit!", verkündete Winona.
„Was?", fragte er perplex.
„Ich helfe dir dabei", erklärte sie entschieden. „Allein gehst du zumindest nicht mehr dahin!"
„Das geht nicht. Ich…"
„Klappe! Du kannst mir nicht verbieten etwas Gefährliches zu tun, wenn du es selbst machst."
„Aber es betrifft nur mich."
„Ach ja? Das ist völlig egal. Ich hab gesehen, wie du beinahe an die Decke gegangen bist, als ich dir von Kearys Plan erzählt habe, uns deine Alpträume aufzuzwingen. Außerdem hast du unseren Mist ausgebadet, obwohl dich das auch nichts angegangen wäre. Du hast also kein Recht zu verlangen, ich solle mich da raushalten. Das beinhaltet, dass man solche Sachen gemeinsam durchsteht!"
„Ach?", fragte er verwundert und drehte ihr die Worte im Munde um. „Und was ist mit dem, was dich bedrückt. Fällt das dann nicht auch darunter?"
Das traf. Das spürte er und wieder einmal wünschte er sich, er hätte die Klappe gehalten. Doch diesmal rannte Winona nicht weg.
„Ich hätte es dir schon lange erzählt", gestand sie leise. „Aber ich habe geschworen, niemandem davon zu erzählen, ansonsten hat das ernste Konsequenzen für jemanden, den ich sehr liebe."
Und dann umarmte sie ihn plötzlich und drückte ihren Kopf gegen seine Schulter und bevor er es sich versah, weinte sie herzzerreißend. Er war völlig überrumpelt davon und wusste nicht, was er machen sollte. In dem verzweifelten Versuch sie zu beruhigen, klopfte er ihr zaghaft auf den Rücken.
„Nun nimm sie endlich in den Arm", hörte er Madame Pomfrey am anderen Ende des Raumes zu sich selbst murmeln. „Mein Gott ist er ungeschickt."
Zögerlich legte er daraufhin seine Arme um Winona. Sollte er noch etwas sagen oder reichte das schon? Zum ersten Mal bemerkte er, wie lang ihre Haare waren und wie kunstvoll der Zopf geflochten. Welche Farbe sie wohl hatten? Und eine angenehme Wärme ging von ihr aus. Tränen nässten seinen Schlafanzug. Er hatte nicht geahnt, wie sehr sie ihr Geheimnis mitnahm. Wenn er das nur vorher geahnt hätte…!
Einige Minuten später verklangen dann Winonas Schluchzer und sie schniefte nur noch. Vorsichtig wartete er, bis er spürte, dass sie sich von ihm lösen wollte, dann nahm er seine Arme zur Seite.
„Danke", schniefte sie schüchtern.
„Ähem…na ja…immer wieder gerne", stammelte er betreten, da ihm nichts Besseres zu sagen einfiel.
„Ich geh dann lieber", sagte sie, nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten.
„Es ist schon spät", bestätigte er, obwohl es nicht stimmte.
„Ich besuch dich morgen wieder."
„Ich würde mich freuen."
„Bitte erzähl nicht…", bat sie.
„Das würde ich niemals zugeben", versicherte er. Wenn man erfahren würde, dass er Winona mehrere Minuten lang umarmt hatte, dann würden sie sich beide vor gut- und bösartigen Neckereien nicht mehr retten können.
Dann ging Winona. Sie nahm sein Labor und Tikki wieder mit, die diesmal nicht bleiben durfte. Anscheinend jedoch nicht, weil Madame Pomfrey sich um Tarsuinn sorgte, sondern weil Tikki selbst Ruhe brauchte, die sie in seiner Anwesenheit nicht bekommen würde.
Kurz darauf erschien Madame Pomfrey wieder an seinem Bett und zwang ihn den Einschlaftrank zu schlucken.
Toireasa hatte erneut furchtbar geschlafen. Weniger wegen Alpträumen, sondern weil ihre Arme so juckten. Während der Arbeit gestern, war ihr Schneckenschleim auf den Umhang gelaufen und dann durchgeweicht. Folgerichtig hatte sie einen unangenehmen Hautausschlag bekommen. Hagrid hatte ihr zwar eine Salbe gegeben, welche die Haut sich schnell erholen ließ, doch die Nacht über war es noch ziemlich schlimm gewesen. Dafür war es Toireasa gestern Abend gelungen, sich in ihren Raum zu schleichen, ohne bemerkt zu werden. So hatte sie die Auseinandersetzung verschieben können, ohne groß nach Ausreden suchen zu müssen.
Doch das würde sie heute nachholen müssen. Schließlich hatte Hagrid darauf bestanden, dass sie diesmal zum Frühstück ging, da sie etwas abgehärmt aussah. Sie hatte dagegen nicht argumentieren können, denn sie hatte die letzten zwei Tage wirklich kaum etwas zu sich genommen.
Sie hatte einfach keinen Appetit gehabt. Doch inzwischen verlangte ihr Bauch mit einem vehementen Knurren sein Recht auf Nahrung. Also zog sie sich ihre Arbeitsklamotten an und marschierte zur normalen Frühstückszeit durch den Gemeinschaftsraum. Mit dem erwarteten Ergebnis.
„Davian!", wurde sie von Regina Kosloff entdeckt. Sofort versperrten ihr die Fabelhaften Fünf den Weg nach draußen."
„Warst du gestern bei Dumbledore?", wollte Regina wissen.
„Hatte keinen Anlass dazu", erklärte Toireasa tonlos und schaute dem Mädchen fest in die Augen.
„Ich glaub, du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt", zischte Riolet von der Seite. „Wir in Slytherin wissen, wie man mit Verrätern umgeht."
Toireasa verachtete Regina und Vivian dafür, dass sie sie verraten und im Stich gelassen hatten, aber Riolet verabscheute sie inzwischen von Herzen.
„Pfeif deinen Terrier zurück, Regina", sagte Toireasa betont ruhig. „Es sei denn, du hast ihre Einmischung nötig."
„Ich kann durchaus für mich selbst sprechen, aber Riolet sagt nur das, was wir anderen auch denken", fauchte Regina bösartig. „Du hast uns bei Dumbledore angeschwärzt!"
„Warum sollte ich für euch lügen?", fragte sie gespielt erstaunt. „Schon vergessen, wer hier wen zuerst verraten und im Stich gelassen hat? Ich schulde euch keine Unterstützung gegenüber Professor Dumbledore!"
„Wir haben dich nicht verraten", verteidigte sich Regina vehement, da viele andere Slytherins dem Streit zuhörten. „Es war ein Unfall und es war dein Plan, der schief gelaufen ist und nur deine schlechte Herangehensweise war schuld. Außerdem hast du unsere Leben riskiert, nur um den Muggel zu retten. Wir sind nämlich auf halbem Weg zurück beinahe von dem Einhorn niedergetrampelt worden. Du hast uns in die Lage gebracht und deshalb war es deine Pflicht, uns da wieder raus zu bringen, statt dem wertlosen Muggel zu helfen!"
„Wie gesagt, ich sehe keinen Grund euch einen Gefallen zu tun. Ihr seid doch heil aus dem Wald gekommen. Wo liegt also das Problem?"
„Das Problem ist, dass wir Dumbledore unterschiedliche Geschichten erzählt haben und du dich nicht wie eine richtige Slytherin verhältst", erklärte Vivian, die bisher geschwiegen hatte.
„Ich bezweifle, dass dies das Ignorieren einer Lebensschuld verlangt", konterte Toireasa, obwohl sie wusste, wie dieses Argument hier aufgenommen wurde.
„Er ist nur ein wertloser und dreckiger Muggel. Das Leben meiner Katze ist tausendmal mehr wert!", keifte auch Riolet erwartungsgemäß.
„Ansichtssache", bemerkte Toireasa kalt und schaute dabei Riolet zum ersten Mal direkt an. „Ich würde das Leben deiner Katze auch tausendmal höher ansetzen, als das deine!"
Ein unartikulierter Schrei war der Beweis, dass ihre Beleidigung voll getroffen hatte. Riolet wich zurück und zog ihren Zauberstab. Toireasa rührte sich nicht vom Fleck. Innerlich fürchtete sie den Fluch, der jetzt kommen musste, aber…
„Expelliarmus!", donnerte plötzlich eine Stimme. Riolet stürzte und verlor ihren Zauberstab.
„Ich sag es ungern ein zweites Mal!", bellte Samuel kalt und steckte seinen eigenen Zauberstab weg. „Sollte noch einmal in meiner Anwesenheit ein Slytherin gegen einen anderen Slytherin seinen Zauberstab erheben, dann dreh ich ihn durch die Mangel und liefere was übrig ist bei Professor Snape ab. War das klar und verständlich?"
Ein murrendes Nicken war die allgemeine Antwort.
„Aber sie weigert sich, ihre Wettschulden zu zahlen", beschwerte sich Vivian, worauf Samuel sich Toireasa zuwandte.
„Stimmt das?", fragte er, immer noch kalt blickend.
„Ich weigere mich überhaupt nicht! Nur ist meine Eule – der Wetteinsatz – gerade unterwegs, so dass ich sie nicht übergeben kann. Heute beim Frühstück müsste sie da sein und dann kann Vivian sie meinetwegen haben!"
„Dann ist das geklärt", schloss Samuel ab und schaute wieder allgemein in den Kreis. „Ihr geht jetzt alle getrennt zum Frühstück und werdet euch benehmen, wie es sich für das beste Haus gehört! Ich will keine Klagen hören und jetzt marsch!"
Er schubste Toireasa nach draußen und begleitete sie wortlos zum Großen Saal. Dort angekommen, setzte Toireasa sich ans Ende der Tafel, weit weg vom Lehrertisch. Sie hatte Professor McGonagalls Worte von vorgestern noch nicht vergessen und hielt sich lieber außer Sichtweite. Leider traf das jedoch nicht auf die Sichtlinie der Schüler aus den anderen Häusern zu, da Toireasa trotz Anwesenheit aller Slytherinschüler mehrere Meter Platz zu ihrem nächsten Sitznachbarn hatte. Jeder in Hogwarts konnte sehen, was man in ihrem Haus von ihr hielt und wahrscheinlich stellte jeder seine eigene Vermutung an, was passiert war. Es war ein Glück für Toireasa, dass der Erbe mit seiner Mitteilung an der Wand extrem von ihrem Fehltritt abgelenkt hatte.
Sie verspeiste gerade mit Heißhunger ihr Rührei mit Schinken und Toast, als die Post kam. Besorgt flog ihr Blick über all die Eulen und sie freute sich, als sie nirgends Keyx entdeckte. Stattdessen landete eine große Eule vor ihr und fegte ihr Essen mit einem Flügelschlag vom Tisch, teilweise auf Toireasas Sachen. Das brachte ihr schadenfrohes Gelächter einiger Slytherins ein. Etwas, was ihr nur ein mitleidiges Lächeln entringen konnte. Sie klaubte die heruntergefallenen Sachen auf, legte sie auf die Bank neben sich und versuchte dann der Eule den Brief von ihrem Bein abzunehmen. Eine extrem schmerzhafte Angelegenheit, wie sie leider feststellen musste, denn die Eule verteidigte den Brief mit Schnabel und Krallen. Am Ende hatte sie einen leicht lädierten Brief und sehr zerkratzte Hände.
Der Brief enthielt zwei einzelne Blätter. Das Erste war nur sehr kurz.
Hallo Toireasa,
ich geh auf das Geschäft ein, weil Tarsuinn mich darum bittet.
Tante Glenn
Dies war alles. Anscheinend hatte Tarsuinn Keyx noch einen zweiten Brief mitgegeben, anders konnte sie sich die Antwort nicht erklären. Anscheinend hatte er nicht gewollt, dass sie mitbekam, wie er extra für sie eine Bitte schrieb.
Das zweite Blatt, war die Besitzurkunde für eine Eule namens Loki.
„Du bist Loki?", fragte Toireasa die Eule und betrachtete sie kritisch. „Okay, du gehörst jetzt mir!"
Der Mangel an Begeisterung war der Eule anzusehen.
„Keine Angst! Das ändert sich eh gleich", versprach sie mit einem Seitenblick auf die sich nähernde Vivian.
„Nettes Vögelchen", spottete sie. „Wo ist meine Eule?"
Mit einem – sicherlich überheblichen Lächeln – deutete Toireasa auf die Eule vor ihr.
„Meine Eule", sagte sie zufrieden.
„Das ist nicht deine Eule!", fuhr Vivian sie an.
„Doch ist sie, seit heute."
In Vivians Gesicht arbeitete es. Sie war nicht das Mädchen, welches die Kontrolle leicht verlor, doch diesmal war sie anscheinend nahe dran. Nur der Lehrertisch schien sie von etwas Unbedachtem abzuhalten.
„Nein! Du gibst mir die, um die wir gewettet haben!", verlangte sie.
„Erinnere dich, Vivian", erwiderte Toireasa mit Genugtuung. „Wir haben um meine Eule gewettet. Nicht um Keyx! Und das da ist jetzt meine Eule! Ich habe Keyx verkauft."
„Das verstößt gegen den Sinn der Wette", fauchte Vivian.
„Sieh es mal so…", sagte Toireasa, stand auf und trat nah an Vivian heran. „Du hast mich betrogen und ich dich. Aber ich verliere eine Eule und du gewinnst eine. Sei also still und nimm das als Sieg – oder verzichte!"
„Gib mir Keyx!", forderte sie erneut.
„Keyx gehört mir nicht. Verzichte oder nimm Loki. Mehr bekommst du von mir nicht. Ich erfülle die Wette und wir beide verlieren. Glückwunsch, Vivian!"
Toireasa hielt ihr die Besitzurkunde hin. Hasserfüllt entriss Vivian ihr das Papier.
„Das wirst du bereuen!", drohte das Mädchen.
Toireasa rollte übertrieben mit den Augen.
„Sag mir was Neues", lächelte Toireasa und ging zu ihrer Strafarbeit. Ein wenig tat ihr Loki Leid. Sie hoffte, Vivian würde ihre Wut nicht an der Eule auslassen.
Hagrid erwartete sie schon unten mit einer Sense. Er erklärte, es wäre seit zwei Tagen trocken gewesen und er könne noch ein wenig Heu für den Winter gebrauchen.
Natürlich war das – wie das Umgraben – einfach eine Strafarbeit. Aber wenigstens nicht so anstrengend, wie Matsch umgraben. Hagrid schien auch nicht sonderlich viel von ihr zu erwarten. Immerhin hatte sie wenig Übung im Umgang mit einer Sense, die, zu allem Überfluss, auch noch viel zu groß für sie war. Trotzdem gab sie wie immer ihr Bestes.
Es war schon spät am Nachmittag, als eine Eule überraschend auf ihrer Schulter landete. Es war weder Keyx noch Loki, sondern die Eule ihrer Eltern.
Toireasa runzelte die Stirn. Ihre Eltern hatten noch nie an sie direkt geschrieben! Warum gerade jetzt? Mit einem unguten Gefühl öffnete sie den Brief.
Toireasa!
Wir sind sehr enttäuscht von Dir! Wie kannst Du nur Deine Freunde und das Haus Slytherin verraten und unserer Familie solche Schande bereiten? Zuerst das Leben von zwei Zauberern für einen Muggel riskieren, dann seine Kameraden mit Lügen bei dem Direktor anschwärzen, dies nicht zurücknehmen wollen und zum krönenden Abschluss bei einer Wette betrügen – schämst Du Dich denn überhaupt nicht?
Wir müssen uns ständig für Dich entschuldigen. Aus diesem Grund wirst Du jetzt wieder zur Vernunft kommen. Du wirst Dich entschuldigen, Deine Lügen zugeben und Deine richtige Eule an Miss Hogan übergeben!
Pádraigín Davian
Noch am selben Nachmittag schrieb Toireasa zurück.
Werte Eltern,
Ich frage mich, ob es überhaupt einen Sinn hat, mich Euch zu erklären. Meine Version der Geschichte scheint Euch nicht zu interessieren und anscheinend glaubt Ihr lieber zwei fremden Kindern, als mir.
Trotzdem sage ich Euch hiermit, dass ich Professor Dumbledore über die Geschehnisse an Halloween nicht angelogen habe. Desweiteren habe ich meine Verpflichtung gegenüber meinem Lebensretter erfüllt und bei einer Wette weniger betrogen, als meine Wettpartnerin. Aus diesem Grund kann ich Eure Forderungen nicht erfüllen, da ich erst mit solchen Lügen und Heucheleien der Familie Schande bereiten würde.
Toireasa Keary-Davian
Die Antwort kam eulenwendend am nächsten Tag. Neben den Unterschriften Ihrer Stiefeltern stand nur ein einziger Satz in großen, gemalten Buchstaben.
Toireasa Davian-Keary ist nicht mehr ein Teil der Familie Davian-Keary!
Hagrid fand sie wenig später schluchzend in einer Ecke hockend. Er hob den Zettel auf, der neben ihr lag, las die Worte, faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in eine seiner unergründlichen Taschen. Dann bugsierte er Toireasa in seine Hütte und ließ sie den ganzen Rest des Tages vollkommen in Ruhe.
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