- Kapitel 17 -
Die Verschwörung
Früher war der Morgen am Tag vor Weihnachten für Toireasa immer der Tag der absoluten Vorfreude und des Zappelns gewesen. Heute schlurfte sie nur mit hängenden Schultern durch die grabesstille Schule.
Seit gestern alle in die Weihnachtsferien gefahren waren, fühlte sie sich zwar deutlich freier als zuvor, schließlich musste sie nur noch Malfoy, Crabbe und Goyle ausweichen, aber Weihnachtsstimmung kam bei ihr nicht auf. Woher auch?
Sie schlurfte gerade einen Flur entlang und schwankte zwischen dem Besuch der Eulerei oder Hagrids Hütte, um das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, als jemand sie anrief.
„Keary!", peitschte Snapes Stimme durch den Flur.
Toireasa zuckte zusammen, als hätte sie etwas angestellt. Nur konnte sie sich nicht erinnern was genau.
„Ja, Professor?", fragte sie.
„Was schleichen Sie hier herum?", wollte er wissen.
Sie war versucht schnippisch zu sein, schließlich ging den Professor das nichts an. Auf der anderen Seite jedoch, war sie sich nur zu gut bewusst, wer ihr ein wenig Schutz gewährt hatte.
„Ich wollte zur Eulerei hinauf", erklärte sie, weil sie es für unklug hielt, Hagrid zu erwähnen. Snape mochte den Wildhüter nicht.
„Das muss warten", sagte der Professor. „Der Direktor hat etwas für Sie zu tun. Kommen Sie mit."
Was? Es waren doch Ferien! Das bedeutete Faulenzen und nur tun, was man wollte! Na ja – auf der anderen Seite war ihr eh langweilig und so konnte sie wieder ein paar persönliche Punkte auf ihrer Good-Will-Tour machen.
„Natürlich, Professor", stimmte sie zu und folgte.
Unerwarteterweise brachte Snape sie weder in sein Büro, noch in das Büro des Direktors. Stattdessen ließ er sie aus dem Slytherin-Kerker ihren Mantel holen und führte sie raus vor das Schloss.
„Der Direktor braucht für das Festessen morgen Abend noch ein dutzend Flaschen Butterbier. Er möchte, dass Sie diese aus Hogsmeade holen. Madame Rosmerta in den Drei Besen weiß Bescheid. Einfach der Straße folgen."
„Natürlich, Professor", sagte Toireasa, ging los und schluckte ihren Ärger herunter. Hogsmeade sollte sehr interessant sein und Snape hatte ihr kein Zeitlimit gesetzt, da konnte man schon mal Hauselfenarbeit für tun. Außerdem würde sie so das Dorf schon im ersten Jahr besuchen können und nicht erst im dritten. Im Endeffekt sollte sie Professor Dumbledore sogar dankbar für diese Gelegenheit sein.
Also stapfte sie eine Stunde durch Schnee und Kälte, bis sie endlich die ersten Hütten des Dorfes erreichte. Hogsmeade sah im Schnee malerisch aus und alle Häuser waren prachtvoll und vor allem magisch geschmückt. Hier gab es keinen Muggelschutz, keine Zurückhaltung – man stellte alles geradezu aufreizend offen zur Schau. Toireasa beschloss, so lange hier zu bleiben, bis sie das alles auch im Dunkeln gesehen hatte.
Trotzdem ging sie in die Drei Besen – natürlich erst, nachdem sie einmal die Dorfstrasse rauf und runter marschiert war. Sie begegnete dabei vielen Zauberern und Hexen, die ihr alle fröhlich zulächelten. Eine kleine, uralte Hexe, die sich mit einem knorrigen Stock mühsam einen Weg bahnte, drückte Toireasa sogar einen riesigen Lutscher in die Hand. Gemeinerweise klebte man an diesem immer mit der Zunge fest, sofern man mehr als drei Sekunden ohne Unterbrechung daran lutschte. Um sich lösen zu können, musste man die Zunge für einige Sekunden in der Winterkälte kühlen. Was sicherlich ziemlich bescheuert aussah. Trotzdem hörte sie nicht auf, die köstlich schmeckende Süßigkeit zu reduzieren. Fasziniert schaute sie sich alle Schaufenster an und bedauerte sehr, dass Professor Snape ihr keinen Tipp gegeben hatte, wohin es gehen würde. Sie hätte dann Geld mitgenommen und es sicher auch ausgegeben. Sie hatte zwar nicht mehr viel, aber ein klein wenig hätte sie sich selbst schon beschenken können.
Nach einer Stunde des Herumstromerns, ging sie dann endlich in die Drei Besen. Schließlich war ihr auch ein wenig kalt geworden.
Also betrat sie die Kneipe und wurde sofort von einer angenehmen Wärme empfangen. Da bald Mittagszeit war, waren auch einige Gäste anwesend und ein verführerischer Duft nach Wildbraten lag in der Luft. Seifenblasen in den unterschiedlichsten Farben schwebten unter der Decke und verbreiteten ein buntes, schummriges Licht. Toireasa kümmerte sich nicht viel um die Leute, sondern ging gleich zu der Frau hinter der Theke.
„Entschuldigung, Madame", sprach sie die Bedienung an. „Professor Dumbledore schickt mich. Ich soll zwölf Flaschen Butterbier abholen."
Die Frau schaute ungnädig zu ihr herunter.
„Du bist spät!", sagte sie vorwurfsvoll.
Toireasa zuckte mit den Schultern.
„Mir wurde gesagt, ich soll heute die Flaschen abholen – nicht so schnell wie möglich", erklärte Toireasa schnippisch.
„Na, dann wird es dich nicht stören noch etwas zu warten!", erwiderte die Frau in ähnlichem Ton. „Setz dich am besten da hin."
Sie deutete auf einen Tisch, der halb von einem Tannenbaum verdeckt wurde.
„Wunderbar", kommentierte Toireasa und ließ absichtlich offen, was sie meinte.
Sie schlenderte zu dem Baum, um ihn herum und…
„Überraschung!", schallte es ihr entgegen, eine der blauen Seifenblasen über ihr platzte und von einem Moment zum anderen war ihr Kopf klatschnass von lauwarmem Wasser.
„Samuel!", schimpfte eine ihr bekannte weibliche Stimme. Eine männliche Stimme lachte herzhaft.
Toireasa hatte vor Schreck die Augen geschlossen und stand wie vom Donner gerührt mitten im Raum, die Schultern nach oben gezogen. Das Wasser kühlte schnell ab und lief kalt ihren Rücken hinunter.
„Siccare!", sagte die weibliche Stimme und Toireasa fühlte, wie Haar und Kleidung wieder trockneten. Sie öffnete die Augen und erblickte das, was sie nicht für möglich gehalten hatte.
„Großmutter! Großvater!", schrie Toireasa fast vor Freude und rannte auf ihre Großeltern zu. Ihre Großmutter hatte einige Probleme nicht umzufallen, so heftig umarmte Toireasa die kleine Frau.
„Aber ihr habt doch gesagt, ihr hättet keine Zeit", stammelte sie.
„Hatten wir auch nicht. Aber durch Zufall haben wir jetzt zwei Tage und die sind nur für dich!"
„Zwei Tage?!", fragte Toireasa und wusste nicht, ob sie sich freuen oder enttäuscht sein sollte.
„Besser als gar nichts", polterte Großvater Samuel Keary.
Er war das genaue Gegenteil von Großmutter Caitlin Keary. Groß, von kräftiger Statur und einem bartlosen Gesicht, aus dem schalkhaft zwei schwarze Augen blitzten. Er stiftete Toireasa immer zu Unmengen Unsinn an und stand dann immer ganz betreten, aber heimlich grinsend, neben ihr und ließ Großmutters Standpauke wie ein Schuljunge über sich ergehen.
„Und die Großeltern Holt kommen abends auch vorbei", versüßte Großmutter ihr noch die zwei Tage.
„Aber ich weiß gar nicht, ob ich morgen auch hier her darf", wandte Toireasa ein.
„Natürlich wirst du morgen nicht vom Schloss herkommen müssen", wehrte Großmutter ab. „Du bleibst die Nacht über hier! Diese blöde Butterbieridee war nur eine Spielerei deines alten Großvaters."
„Wer ist hier alt?", grinste ihr Großvater schelmisch und hob Toireasa energisch auf einen der hohen Stühle. „Mache ich einen schwachen Eindruck auf dich, Toireasa?"
„Natürlich nicht, Opa!", grinste nun auch Toireasa.
„Opa! Wenn ich dieses Wort schon höre!", beschwerte ihr Großvater sich. „Da ist man noch nicht einmal fünfzig und schon muss man sich so beschimpfen lassen."
„Was kann ich dafür, wenn meine Eltern und ihr euch so beeilt habt", lachte Toireasa.
Und so fröhlich ging es den ganzen restlichen Tag weiter. Zunächst gab es ein Essen, das selbst die Speisen in Hogwarts zu Halloween in den Schatten stellte. Die Bedienung, eine Frau namens Madame Rosmerta, war jetzt deutlich freundlicher und beteuerte, sie wäre gezwungen gewesen, sich abweisend zu geben.
Nach dem reichhaltigen Mahl gingen sie spazieren. Hand in Hand mit ihren Großeltern schlenderte sie noch einmal durch Hogsmeade, nur dass sie diesmal auch in die Läden konnte und ein paar Kleinigkeiten kaufen durfte. Heimlich steckte ihr dabei ihr Großvater einige Stinkbomben und Feuerwerkskörper zu.
An der Heulenden Hütte verbrachten sie die meiste Zeit. Erst erzählten ihr ihre Großeltern die schlimmsten Horrorgeschichten, dann hieß es die Frauen gegen die Kinder (dies bedeutete Großmutter gegen Großvater und Toireasa) in einer heißen Schneeballschlacht. Zunächst schienen dabei die Kinder die Oberhand zu behalten, doch in die Defensive gedrängt, zog ihre Großmutter den Zauberstab und hüllte ihre beiden Angreifer in einen Wirbelsturm aus Schnee. Als sie dann am Abend wieder in die Drei Besen gingen, wurden sie von zwei weiteren Personen erwartet.
„Da seid ihr ja endlich", begrüßte sie Toireasas Großvater Eran Holt. Er war lang, hager, zwanzig Jahre älter als die Großeltern Keary und immer etwas steif in seiner Art. Dementsprechend unangenehm war es ihm auch umarmt zu werden, was Toireasa natürlich wusste, weshalb sie ihm feierlich nur die Hand schüttelte. Bei Großmutter Katrin Holt musste sie sich nicht so zurückhalten. Die – wie Großvater Eran – sehr große und hagere Frau liebte herzliche Umarmungen, was ihrem Mann ständig ein süß-säuerliches Lächeln entlockte. Relativ zur Herzlichkeit der Keary-Familie musste Toireasa aber zugeben, dass ihr die reservierte Ernsthaftigkeit ihrer Holt-Abstammung weniger zusagte. Nichtsdestotrotz liebte sie diese Seite der Familie genauso. Sie waren nur anders und man hatte weniger zu lachen, dafür wurde man aber etwas mehr wie ein Erwachsener behandelt. Was manchmal gut und manchmal schlecht war.
Das Abendessen erwies sich dann als noch vergnüglicher als das Mittagessen. Dankbarerweise wurde Toireasa aus dem Gespräch herausgehalten, sie hatte eh nichts zu der lustigen Stimmung beizutragen. Dafür durfte sie genießen, wie sich ihre Großeltern ironisch fetzten. Um ehrlich zu sein, verwirrte sie das etwas. Ihre beiden Großelternpaare waren sonst immer sehr distanziert auf Familienfeiern, vor allem zueinander. Seltsamerweise hatte Toireasa jedoch den Eindruck, dass dies hier nur die Fortsetzung eines schon ewig währenden Kampfes war. Je länger es dauerte, desto misstrauischer wurde sie. Irgendwann, es war schon recht spät, die meisten Gäste waren gegangen und der Redestrom ihrer Großeltern war noch immer nicht am versiegen, hielt sie es nicht mehr aus.
„Darf ich eine ernste Frage stellen?", fragte sie stirnrunzelnd dazwischen.
Ihr Ton ließ alle vier Erwachsenen sofort verstummen. Neugierig schauten sie Toireasa an.
„Nur zu", ermunterte Großmutter Caitlin sie.
Toireasa schluckte schwer.
„Warum seid ihr heut so anders?", fragte sie leise und sah sich dann gezwungen, schnell etwas hinzuzufügen. „Bitte nicht falsch verstehen. Ich mag euch so sehr, aber lügt ihr heute für mich oder habt ihr mich früher belogen?"
So – jetzt war es raus, was sie den Abend beschäftigte, aber auch noch nicht ganz.
„Und dann der Brief…", fügte sie hinzu und ihre Stimme versagte.
Ihre Großeltern schauten zuerst sie nachdenklich an, dann sich gegenseitig und schließlich ergriff Großmutter Caitlin den Zauberstab, machte eine höchst komplizierte Bewegung und murmelte einen langen Spruch. Erst dann ergriff sie das Wort.
„Ist dir früher schon aufgefallen, dass wir dich anders behandeln, wenn wir mit dir allein sind?", fragte die Frau.
Toireasa nickte.
„Hast du dir bis heute je darüber Gedanken gemacht?", wurde sie weiter gefragt.
Diesmal schüttelte sie nach kurzem Nachdenken den Kopf.
„Und was ist jetzt deine Vermutung?"
„Meine gesamte Familie hat mich bisher angelogen", formulierte sie leise.
„Das stimmt", stimmte Großmutter Caitlin nüchtern zu. „Doch nicht ohne Grund."
„Und der wäre?", fragte Toireasa.
„Hast du mit Professor Flitwick über deine Eltern gesprochen?"
Toireasa fand es nicht sonderlich nett, dass ihre Frage ignoriert wurde, aber sie kannte ihre Großmutter gut genug um zu wissen, dieser Punkt würde noch zur Sprache kommen.
„Ja!", antwortete sie. „Er hat mir viel erzählt."
„Du kannst alles davon glauben. Er würde dich nicht anlügen."
„Warum sagt er mir aber die Wahrheit und nicht meine Familie?"
„Nun – wärst du gern ohne deine Großeltern aufgewachsen?"
„Um nichts in der Welt!", sagte sie sofort und voller Überzeugung. Die Zeit bei ihren Großeltern hatte immer zu ihren schönsten Erlebnissen gezählt.
„Kannst du uns dann nicht einfach vertrauen?", bat die Großmutter.
„Nein!", entgegnete sie. „Ich will die nächste Überraschung von euch hören. Nicht von jemand Fremdem!"
Wieder schauten sich ihre Großeltern an. Außer Großvater Eran nickten alle.
„Nun – Professor Flitwick ist nicht unbedingt ein Fremder", sagte Großmutter Caitlin mit traurigem Lächeln. „Er ist dein Pate!"
„Er ist mein was?", stieß sie laut hervor.
„Dein Pate und mein Cousin", erklärte die Frau leise und legte den Zeigefinger über den Mund.
„Deine Eltern waren der Ansicht, dass der Mann, der eine Teilschuld an deinem frühen Erscheinen trug, auch dein Pate sein sollte. Er nahm die Verantwortung auf sich, durfte sie aber nur kurze Zeit tragen."
Toireasa erholte sich gerade von einem Schock und konnte keine weitere Frage stellen, deshalb fuhr ihre Großmutter nach einem Moment fort.
„Filius – dein Professor Flitwick – sah deutlich früher als wir, wie dein Vater sich nach dem Tod deiner Mutter in sich zurückzog und versuchte ihm zu helfen. Doch leider wies Robert das Angebot zurück und wir, als seine Eltern beziehungsweise Schwiegereltern sahen nicht so klar. Als er später mit seiner neuen Frau zurückkehrte hatten wir Hoffnung, alles würde sich zum Guten wenden, doch weit gefehlt. Filius drängte ihn, dich mit der Wahrheit aufwachsen zu lassen, aber er weigerte sich. Sagte, du würdest es von ihm erfahren, wenn du alt genug wärst. Leider wurde er nicht alt genug dafür. Noch während der Beerdigung, als du schon im Bett warst, verbot deine Stiefmutter uns allen, jemals das Schicksal deiner Eltern zu erwähnen und niemals gegen ihre Erziehung deiner zu arbeiten. Wir waren damit nicht einverstanden, doch sie drohte uns, jeden Kontakt mit dir zu verbieten. Wir, als deine Großeltern, knickten daraufhin ein. Du bist der einzige lebende Nachkomme der Familien Holt und Keary, den wir noch haben. Wir wollten dich nicht verlieren. Filius jedoch blieb bei seiner Meinung und so kam es zu einem heftigen Streit, in dem deine Stiefmutter drohte, dich niemals nach Hogwarts zu schicken. Die Drohung war unerhört und Filius lenkte ein wenig ein, indem er sagte, solltest du mit Fragen zu ihm kommen, dann würde er sie dir beantworten. Dann ging er und wurde nie wieder eingeladen. Ich weiß jedoch, dass er dir immer zum Geburtstag und zu Weihnachten Karten und Geschenke schickte, nur dass die dich niemals erreichten."
Unangenehme Erinnerungen kamen in Toireasa hoch. Verhöre ihrer Stiefmutter über das, was ihre Großeltern ihr alles während der Ferien erzählt hatten.
„Sie hat mit Gedächtniszaubern nach Beweisen für einen Wortbruch gesucht", flüsterte sie leise.
„Das ahnten wir. Aber ich schätze, das hat sie in den letzten Jahren nicht mehr gemacht, oder?"
„Das stimmt auch."
„Das liegt einfach daran, dass wir in den Augen deiner Stiefmutter ihr immer ähnlicher geworden sind und selbst untereinander uneins. Wir haben eine Rolle gespielt, solange sie anwesend war, nur um dich um uns haben zu können. Wenn deine Stiefmutter dachte, es würde uns gegeneinander aufbringen, wenn sie dich zu den jeweils anderen schickte, dann ließ sie dich auch häufiger bei einem von uns. So spielte mal die eine Seite von uns die bösen Großeltern und mal die andere. Auf diese Weise hatten wir dich öfter bei uns, als wenn wir uns offensichtlich grün gewesen wären. Intern haben wir uns bestens verstanden und Briefe und Photos von dir ausgetauscht."
„Was wird aber jetzt?", fragte Toireasa. „Ihr brecht doch euer Wort, oder?"
„Nicht ganz. Flitwick hat dir alles erzählt, was uns verboten war zu erzählen. Außerdem haben sich deine Stiefeltern von dir losgesagt. Auch wenn es nur ein Brief war, um dich zu demütigen und zu disziplinieren. Sie hat es offiziell gemacht, also ist es eine Tatsache. Und deshalb wollen wir vier versuchen dich zu uns zu holen."
„Ihr wollt was?", fuhr sie zusammen und wusste nicht, ob sie Angst haben oder sich freuen sollte.
„Wir wollen dich zu uns holen, was aber nicht einfach sein wird. Denn noch ist sie offiziell deine Mutter."
„Diese Erbschleicherin wird das jedoch niemals freiwillig zulassen", mischte sich Großvater Eran ein. „Nur wenn wir sie in Sicherheit wiegen und sie keine Ahnung hat, wird es klappen."
Großmutter Caitlin schaute leicht pikiert.
„Was Eran in seiner unnachahmlich kühlen Art dir eben mitteilen wollte,…", sagte sie, „…ist, dass deine Stiefmutter dich niemals aufgeben wird, es sei denn, sie stellt sich selbst ein Bein. Sie hat den ersten Schritt schon getan, doch um sie zum zweiten zu bewegen, musst du leiden. Und das wirft die Frage auf: Möchtest du überhaupt, dass wir – deine Großeltern – dich zu uns nehmen?"
Jetzt war Toireasa nicht nur geschockt, sondern überwältigt.
„Vielleicht sollte sie eine Nacht darüber schlafen", warf Großvater Samuel voll Mitgefühl ein.
„Nein", brach es aus Toireasa heraus. „Morgen ist Weihnachten. Wenn, dann heute!"
„Dann musst du dich heute entscheiden", sagte Großvater Eran ernst. „Und dir muss klar werden, dass es nicht einfach wird, da wir dich nicht offen unterstützen können."
Toireasa dachte eine Weile nach. Bis zu ihrer Zeit in Hogwarts hatte sie eigentlich kaum Grund gehabt, sich über ihre Stiefmutter zu beschweren. Okay, Aidan bekam immer die größeren Geschenke und Toireasa bekam auch nie einen Brief von ihr, doch die Strafen waren für sie beide immer gleich gewesen und Toireasa hatte schon früh begriffen, dass Blut dicker als Wasser war. Aber sie hatte sich auch nie geliebt gefühlt, hatte nie eine richtige Umarmung erfahren. Und Spaß war eh im Haus Davian-Keary ein Art Schimpfwort, wenn es nach ihrer Stiefmutter ging. Aber das traf eigentlich auch alle anderen Familienmitglieder. Richtig wohl gefühlt hatte sich Toireasa eigentlich immer nur bei ihren Großeltern und wenn man es zusammenrechnete, dann hatte Toireasa fast die Hälfte des Jahres mal bei den einen, mal bei den anderen verbracht. Aber sie dachte auch an Aidan, den sie noch immer sehr mochte.
„Ich möchte zu euch", sagte sie, nachdem sie sicher zehn Minuten lang gegrübelt hatte.
„Gut!", freute sich Großvater Eran und die anderen strahlten plötzlich.
„Aber wie soll das gehen?", fragte Toireasa.
Das ließ das vierfache Lächeln etwas einfrieren.
„Das klingt jetzt sicher hart, aber du musst deine Stiefmutter so sehr gegen dich aufbringen, dass sie keinerlei Unterstützung für dich leistet", ergriff Großmutter Caitlin wieder das Wort. „Sie darf dir nicht helfen, nicht schreiben, kein Zugticket bezahlen und vor allem nicht die Schulgebühren. Ins Juristische übersetzt, sie muss dich und deine Erziehung vernachlässigen. Wenn wir dann diese Pflichten aus Sorge um dich übernehmen, dann haben wir so gut wie gewonnen. Das wird jedoch nur funktionieren, solange deine Mutter glaubt, du hättest keinerlei Unterstützung in der Familie und wir würden dich genauso verurteilen wie sie. Das bedeutet, du müsstest auch von uns einiges ertragen."
„Das wäre?", fragte Toireasa besorgt.
„Im schlimmsten Fall Heuler, mindestens aber Briefe in denen wir dich auffordern, dich mit deinen Stiefeltern zu versöhnen. Leider müssen alle Versuche recht öffentlich ablaufen, damit niemand uns vorwerfen kann, wir hätten dich gegen deine Stiefeltern beeinflusst. Du verstehst?"
„Durchaus", bestätigte Toireasa ernst.
„Möchtest du es trotzdem versuchen?"
„Ja!"
„Du bist sehr mutig. Aber du musst auch sehr verschwiegen und verschlagen sein."
„Verschlagenheit hat mir bisher nur Ärger gemacht", gab sie zu bedenken.
„Es kommt nur darauf an, für was man sie einsetzt", erklärte Großmutter Katrin lächelnd. „Aber ich denke, Toireasa gehört jetzt ins Bett! Wenn ihr erlaubt, bringe ich sie in ihr Zimmer. Ihr könnt ja noch hier Pläne schmieden."
„Unsere stille Katrin hat wie immer Recht", stimmte Großvater Samuel mit einem Blick auf die Taschenuhr zu. „Gute Nacht, junge Dame. Morgen gibt es Geschenke."
Toireasa merkte erst jetzt, wie müde sie inzwischen war. Reihum wünschte sie allen mit einer Umarmung eine Gute Nacht – auch Großvater Eran bekam eine und ertrug es diesmal ziemlich gut – dann ließ sie sich von Großmutter Katrin nach oben bringen. Ihr Zimmer war recht klein, aber mit einem bequemen Bett versehen. Nach dem Waschen überreichte Großmutter Katrin ihr einen bequemen schwarzen Schlafanzug.
„Ein vorgezogenes Weihnachten", erklärte sie. „In der Unterwäsche schlafen ist nicht hygienisch!"
„Oh je, wenn das Mutter sehen könnte", grinste Toireasa. „Mädchen tragen so etwas nicht!"
„Alles, um sie auf die Palme zu bringen. Grad solche Kleinigkeiten können wehtun", sagte ihre Großmutter und passte die Größe mit einem kurzen Wink ihres Zauberstabes an. Das war für sie keine Kunst, schließlich war sie Schneiderin.
Sie hob die dicke Federdecke, unter der schon eine Wärmflasche ihren Dienst verrichtete und Toireasa schlüpfte schnell darunter.
„So – und jetzt schlaf schnell und lass die dunklen Gedanken woanders. Morgen ist Weihnachten und wunderbare Geschenke erwarten dich."
Großmutter Katrin wollte aufstehen, doch Toireasa hielt sie an der Hand fest.
„Warum nannte Großvater meine Stiefmutter eine Erbschleicherin?", fragte sie.
„Ach – das hat nichts zu bedeuten. Bei deiner richtigen Mutter sagte er das auch. Nur da hat sich das sofort nach der Hochzeit gelegt und sie war sein Liebling hoch zehn."
„Und bei meiner Stiefmutter nicht?"
„Nein. Sie hatten einen schlechten Start und danach wurde es noch schlimmer. Nett zu ihr zu sein, hat ihn mehr als einmal seine gesamte Beherrschung gekostet. Er ist recht aufbrausend manchmal."
„Ich hab das Gefühl in einen Krieg geraten zu sein", gestand Toireasa leise. „Eigentlich will ich, dass sich alle vertragen und ich mich nicht entscheiden muss."
„Das Leben ist nicht einfach und wenn du Angst hast, dann brauchst du dich nicht schämen."
„Ich mag Aidan, als wäre er mein richtiger Bruder", gestand sie.
„Aber er steht nicht zu dir wie ein richtiger Bruder", sagte Großmutter Katrin traurig. „Und nur darauf kann es für dich jetzt ankommen."
Eine Weile herrschte Schweigen und Großmutter Katrins Hände streichelten ihre Wangen.
„Darf ich dich etwas Schweres fragen?", fragte die alte Frau dann.
„Natürlich."
„Was empfindest du für Riesen, jetzt wo du weißt was passiert ist? Faszinieren sie dich immer noch?"
„Ich hasse sie!", sagte Toireasa, kalt überrascht von der Frage.
Großmutter Katrin schaute sie traurig an.
„Wir sollten alle töten, weil sie dem Dunklen Lord geholfen haben?"
„Ja!"
„Auch die, welche nicht auf seiner Seite kämpften? Die Frauen, die Kinder?"
Toireasa dachte plötzlich an die Schrift an der Wand. Ihre Großmutter fuhr schon fort, bevor sie etwas sagen konnte.
„Auch die Riesen in Südamerika, in Russland, in den Karpaten, in Nepal?"
Wieder gab es keine Antwort auf diese Frage.
„Und denken wir weiter. Viele Zauberer und Hexen haben dem Dunklen Lord geholfen und vielleicht war es einer von ihnen, der deine Mutter tötete. Sollten wir dann nicht alle Zauberer und Hexen töten, wie wir es mit den Riesen versucht haben?"
Toireasa hatte ihre stille Großmutter Katrin noch nie so eindringlich reden hören. Es schien ihr unheimlich wichtig zu sein und ihre Logik war so brutal klar.
„Toireasa, ich möchte nur, dass du über etwas nachdenkst, was ich und dein Vater erst mühsam erlernen mussten – Verallgemeinerung macht dich blind für die Wahrheit. Doch wer blind ist, trifft selten den Richtigen."
Toireasa sah Tränen in den Augen ihrer Großmutter schimmern, bevor diese sich schnell wegdrehte.
„Versuch jetzt zu schlafen", sagte die ältere Frau mit erstickender Stimme und verließ schnell den Raum. Toireasa glaubte noch ein Schluchzen zu hören, dann schloss sich die Tür.
Betreten starrte sie in das Dunkel ihres Zimmers.
Toireasa hatte wenige klare Erinnerungen an ihren Vater. Doch Großmutter Katrin war seine Mutter gewesen. Wie hart musste es sie getroffen haben ihren Sohn zu überleben und wie schwer musste es für sie gewesen sein, nicht alle Riesen zu hassen. War es möglich, dass für Riesen das Gleiche galt, wie sie es inzwischen für Muggel empfand? Muggel waren Menschen ohne Zauberkraft. Waren Riesen zu groß geratene dumme Menschen mit Zauberkraft? Und konnte man dumme Menschen nicht leichter manipulieren? Sie selbst hatte so oft Aidan zu verrückten Sachen angestiftet, weil er meist nicht gemerkt hatte, wie sie ihn ausnutzte.
So grübelte sie bis die Erschöpfung sie in den Schlaf zog. Doch selbst hier fand sie keine Ruhe. In ihren Träumen jagte sie Riesen und wurde selbst von einem Schatten gejagt, der sie zum Töten zu überreden versuchte. Sie war auf der Suche nach dem Riesen, der ihre Eltern getötet hatte, aber immer wenn sie kurz davor war diesen zu töten, verwandelte er sich in einen ihrer Großeltern, in ein Kind oder in den einzigen Muggel den sie kannte.
Töte ihn, flüsterte der Schatten, als sie wieder einem völlig ruhigen und wehrlosen Tarsuinn gegenüberstand.
„Nein!", sagte sie zum wiederholten Mal.
Du bist eine Slytherin! Er ist eine Gefahr für dich! Er kann dir nehmen, was dir gehört. Eliminiere ihn, bevor er es tut!, befahl der Schatten.
„Nein!", schrie sie den Schatten an und riss ihm die Kapuze vom Kopf herunter. Darunter kam das erhabene Gesicht von dem Slytherin zum Vorschein.
„Dann bist du verdammt!", formulierten jetzt deutlich seine Lippen und er deutete hinter Toireasa.
Sie drehte sich herum und konnte in diesem Augenblick Tarsuinns Finger vorschießen sehen und dann riss er ihr…
Sie erwachte mit einem Schrei und saß aufrecht und verschwitzt in ihrem Bett. Die Hände fest vor ihr Gesicht gepresst.
Willkommen in meiner Welt!, hörte sie die traurige Stimme des Muggeljungen flüstern.
www.storyteller-homepage.de
