- Kapitel 18 -
Muggelkunde
Tarsuinn war nervös. Dem war zu Beginn nicht so gewesen. Weder als er im Eiltempo von der Winkelgasse, durch London, in eine Telefonzelle, zu einem Waschraum und durch unzählige Gänge gehetzt wurde, noch als er dann plötzlich lange und still auf einem Stuhl warten musste. Genauso störte es ihn seine Schuluniform tragen zu müssen, weil er ansonsten nichts Annehmbares an Kleidung besaß.
Nein, nervös machte ihn sein Begleiter Daniel Hioble, der unablässig redete und keine Sekunde still halten konnte. Wie Tarsuinn unfreiwillig mit anhören musste, hatte Daniel gerade erst im Sommer seinen Hogwartsabschluss gemacht und war seitdem Assistent eines bekannten Strafverteidigers. Doch statt seinem Boss zu vertrauen, erzählte er ständig aufgeregt, was doch alles schief gehen konnte für Tarsuinn. Missachtung des Gerichts, Verrisse im Tagesproheten und dann auch noch die schärfste Anklägerin des Zaubereiministeriums. Dazu auch noch sein unklarer Status, die Unmündigkeit, die allgemeine Ablehnung Muggeln gegenüber und die als äußerst ungnädig bekannte Anklägerin. Und das alles bei einem solch hoffnungslosen Fall!
Tarsuinn war kurz davor ihm das Reden zu verbieten, doch Daniel – Tarsuinn durfte ihn Daniel nennen, wenn er denn mal zum Reden gekommen wäre – machte nur selten Pausen und schien Luftholen nicht nötig zu haben. Selbst Tikki, die normalerweise Menschen hervorragend ignorieren konnte, wirkte recht ungnädig dem jungen Mann gegenüber und schnappte nach ihm, als er versuchte sie ungefragt zu streicheln.
Nach etwa zwei Stunden war es dann endlich soweit.
„Mr Tarsuinn McNamara?!", rief jemand laut und sehr formell über den Flur.
„Hier, Sir", sprang sofort Daniel Hioble auf, obwohl er sich gerade erst gesetzt hatte. „Ich meine, er ist hier. Ich meine, das hier ist er."
Tarsuinn stand langsam auf und ging zu der Stimme hin, die ihn aufgerufen hatte.
„Ich bin Tarsuinn McNamara", stellte er sich betont ruhig und ähnlich formell vor.
„Würden Sie dann bitte eintreten, Mr McNamara. Man erwartet Sie."
Von Tikki geleitet durchquerte Tarsuinn eine Tür und betrat einen großen Raum. Mit einer recht guten Akustik, wie er feststellte.
„Dein Tier muss draußen bleiben", rief Daniel ihm halb erstickt hinterher, doch Tarsuinn ignorierte ihn. Er hatte keine Lust in einer so kritischen Lage auf Tikkis Rückhalt zu verzichten.
Vor allem, als sich seine Ohren auf den Saal einstellten, den er eben betreten hatte. Er hörte viele Personen Geräusche machen, die anscheinend wie in einem Kino in aufsteigenden Rängen vor ihm saßen.
Und er stand mitten auf der Bühne. Niemand sagte etwas. Auch Tarsuinn schloss sich dem an und drehte sich seinem Publikum zu. Um sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. Tikki saß steif und aufrecht auf Tarsuinns Schulter, den Schwanz um seinen Hals gewunden.
„Setz dich endlich!", fuhr ihn plötzlich eine weibliche Stimme an und fast wäre er weggelaufen. Er hatte die befehlsgewohnte Stimme sofort wieder erkannt. Keine zehn Schritte von ihm entfernt, befand sich Lady Kondagion. Alarmglocken schrillten in seinem Hinterkopf laut auf.
„Tikki, Stuhl", flüsterte er leise und ließ sich von seiner kleinen Freundin führen.
Tief durchatmend nahm er Platz.
„Wie lautet dein vollständiger Name?", fragte die Lady unfreundlich, sobald er saß.
„Tarsuinn McNamara", antwortete er und versuchte seine Stimme selbstbewusst zu halten. Vergeblich.
„Stimmt es, dass du ein Muggel bist?"
Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal.
„Es kann sein, dass ich einer bin", formulierte er seine eigene Überzeugung einmal anders herum.
„Weißt du, wo du dich hier befindest?"
„Nein, Ma'am"
„Weißt du, warum man dich herbestellt hat?"
„Nein, Ma'am"
„Möchtest du hier wieder weg?"
„So schnell als möglich, Ma'am!"
Das brachte einige Zuschauer zum Lachen. Hörte er da Professor Flitwicks helles Kichern? Er sollte ja hier irgendwo sein.
„Nun, dann ist es an der Zeit dich einzuweihen", fuhr Lady Kondagion fort. Ihre Stimme hatte nun einen recht bedrohlichen Klang. „Du stehst hier vor dem Zauberergericht!"
Tarsuinn sagte nichts. Irgendwas stimmte an dieser Aussage nicht.
„Was meine Kollegin damit sagen will…", mischte sich eine sanfte, männliche, aber kräftige Stimme ein, „…ist, dass du als sachverständiger Zeuge hier vorgeladen bist."
„Danke, Herr Kollege", sagte Kondagion ätzend. „Aber soweit ich mich erinnere, haben Sie zugestimmt, dass ich die Befragung führe."
„Das ist korrekt, Mrs Kondagion", gab der Mann zu. „Ich hätte natürlich Einspruch gegen ihre Zeugeneinschüchterung erheben sollen. Verzeiht, dass ich nicht den korrekten Weg gegangen bin. Ich bitte meinen Einwurf nicht zu beachten und erhebe…"
„Ich glaube, in diesem speziellen Fall können wir das Protokoll ignorieren", gab Kondagion süß-säuerlich nach. Sie wandte sich wieder an Tarsuinn. „Entschuldige, sollte ich dir Angst gemacht haben!"
Er antwortete lieber nicht darauf. Es war sicher nicht klug darauf hinzuweisen, dass sie allein mit ihrer Stimme Vulkane zufrieren lassen konnte.
„Nun – dann werde ich fortfahren mit dem was ich sagen wollte, bevor mich der Verteidiger unterbrach…du bist hier als Zeuge – oder besser gesagt, als Sachverständiger – geladen."
Für was das denn? Die Magier hatten doch nicht alle Tassen im Schrank! Sachverständiger für was? Alpträume?
Wieder hielt er vorsichtshalber die Klappe.
„Laut Aussage deiner Lehrer in Hogwarts, bist du mit dem Wesen der Muggel sehr gut vertraut. Denkst du das auch?"
Irgendwie klang Kondagions Stimme plötzlich nicht mehr kalt, sondern eher erwartungsvoll und mit falschem Mitgefühl durchdrängt. Das passte doch gar nicht. Erst ihm Angst machen, dann plötzlich freundlich sein? Es stellte sich ihm plötzlich die Frage, wie raffiniert diese Frau war – und wie gut konnte sie ihre Stimme kontrollieren.
„Wenn meine Lehrer es sagen, wird es wohl stimmen", sagte er vorsichtig. Er hatte das Gefühl, es würde sie freuen, wenn er ihre Frage verneinte.
„Möchtest du das Leben eines anderen darauf verwetten?", hakte sie nach und jetzt war er sich sicher, dass sie seine Antwort nicht gemocht hatte.
„Man hätte mich sicher nicht hergeholt, wenn es jemand Besseren geben würde", antwortete er möglichst überzeugt.
„Große Verantwortung für einen kleinen Muggel", sagte sie kühl.
„Wenn Sie es sagen, Ma'am. Ich weiß nicht, worum es hier geht!", sagte er und zum ersten Mal drang ein wenig seiner Ungeduld mit durch.
„Ich bin mir nicht sicher, ob wir in einer so wichtigen Sache dem Urteil eines kleinen Jungen vertrauen sollten", sagte Kondagion zweifelnd. Nicht zu Tarsuinn gewandt, sondern in Richtung der Zuschauer.
Es gab beifälliges Gemurmel von einigen auf den vorderen Sitzen bis irgendwo ganz hinten jemand aufstand. Sofort wurde es still.
„Mrs Kondagion", sagte die nachsichtige Stimme von Professor Dumbledore. „Wir können nicht mehr vertagen. Es war Ihre Idee und wir haben in der Kürze der Zeit jemanden gefunden, der den von ihnen vorgegebenen Bedingungen entspricht. Mr McNamara mag sehr jung erscheinen, aber ich habe volles Vertrauen in seine Urteilskraft. Hören wir uns doch an, was er uns sagen kann und entscheiden uns dann."
Diesmal kam die Zustimmung aus einer anderen Ecke. Widerspruch war jedoch nicht zu hören.
„Gut. Wenn der Rat es so wünscht", ergab sich Kondagion der Situation. „Hier!"
Tarsuinn bekam Papier in die Hand gedrückt. Zeitungspapier aus der normalen Welt, um genau zu sein. Er wandte den Kopf fragend in die Richtung der Frau.
„Lies den angestrichenen Artikel", fuhr sie ihn ungeduldig an. „Laut bitte!"
„Das kann ich nicht!", entgegnete er und hielt ihr das Papier hin. „Das ist eine Muggelzeitung!"
„Und?", fragte sie verwirrt, als hielte sie ihn für dämlich.
„Muggelzeitungen werden anders gedruckt. Es gibt keine Kerben, die ich erfühlen könnte und die Tinte ist auch viel zu dünn. Sie müssen es mir schon vorlesen."
Das brachte sie offensichtlich aus dem Konzept. Andere schienen schneller zu begreifen. Überall auf den Rängen hörte er die geflüsterten Worte: „Er ist ja blind!"
Tarsuinn fand es erstaunlich, dass Professor Dumbledore dies niemandem im Vorfeld erzählt hatte. Das war nicht so witzig. Versuchte Dumbledore Mitleid für ihn zu erzeugen und für seine Zwecke auszunutzen? Oder ging es nur darum, Kondagion dumm dastehen zu lassen? Beide Erklärungen gefielen ihm nicht besonders. Beide liefen darauf hinaus benutzt zu werden.
„Dann werde ich wohl vorlesen", fing sich Kondagion wieder und nahm ihm die Zeitung aus der Hand.
02.10.1992
Möglicher Manchester-Kindes-Entführer festgenommen
Im Fall der entführten Kinder von Manchester hat die örtliche Polizei letzte Nacht einen Verdächtigen festgenommen, der inoffiziellen Verlautbarungen zufolge schon ein Geständnis abgelegt hat. Der Verteidiger des Mannes beteuerte jedoch in einer ersten Pressekonferenz die Unschuld seines Mandanten und wies darauf hin, dass die Polizei keinerlei Beweise hätte und das Geständnis seines Mandanten mit Gewalt erzwungen wurde. Ein Indiz dafür sieht der Anwalt in der Verwirrung seines Mandanten, der von Gedankenkontrolle und magischen Ritualen faselt.
Kondagion machte eine erwartungsvolle Pause. Tarsuinn wusste jedoch noch immer nicht, was er hier sollte.
„Und?", fragte sie ihn endlich. „Was sagt dir das?"
„Was soll mir was sagen, Ma'am?", fragte er höflich.
„Ist das nicht offensichtlich?", fragte sie. „Was würde ein Muggel über diesen Artikel denken?"
Darauf konnte er nur die Stirn runzeln.
„Was soll man schon groß denken. Die Polizei hat einen Verdächtigen festgenommen. Keiner weiß wirklich, ob er schuldig ist oder nicht. Vielleicht wurde er misshandelt, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er verrückt, vielleicht tut er auch nur so."
„Was ist mit dem Hinweis auf Magie?"
„Das hatte ich unter verrückt abgehakt."
„Werden Muggel da nicht misstrauisch?", fragte Kondagion fordernd.
„Warum sollten sie?", hielt er gegen. „Magie ist für normale Menschen eher eine Glaubensfrage, an die selbst diejenigen kaum glauben, die behaupten, sie würden dran glauben."
Tarsuinn konnte das allgemein gedachte – Ähh? – fast hören.
„Ähem ja – dann also am besten weiter."
12.10.1992
Polizei gibt keine Erklärung
Seit einigen Tagen berichten wir von dem Fall des Manchester-Kindes-Entführers. Nachdem der Haftrichter die Untersuchungshaft aufgrund des – inzwischen widerrufenen –Geständnisses anordnete, ist es zu keiner weiteren Entführung mehr gekommen. Trotzdem scheint es einige Unklarheiten in diesem Fall zu geben. Die Polizei hat immer noch keine Erklärung abgegeben und begründet dies mit einer kritischen Phase in den laufenden Ermittlungen.
Internen Quellen zufolge ist dies jedoch weniger der Grund. Wie wir erfahren haben, ist man sich selbst in der Polizeibehörde nicht sicher, wie es zu der Festnahme und dem Geständnis kam. Laut dem Arzt des Untersuchungsgefängnisses wurden keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gefunden und auch die Aufzeichnungen aus dem Verhörzimmer haben keinerlei Übergriffe gezeigt.
Was jedoch unter den Ermittlungsbeamten Fragen aufwirft, ist die Festnahme des Verdächtigen, denn es gab keine ermittlungstechnischen Hinweise auf ihn. Innerhalb der Behörde kursieren wilde Gerüchte über Hinweise von einer Zigeunerin, plötzliche Eingebung, anonyme Hinweise oder einfach pures Glück.
Egal wie, tragisch ist nur, dass dies bisher nicht geholfen hat, alle entführten Kinder wieder zu finden und man muss für die letzten fünf Vermissten das Schlimmste befürchten.
Alle bisher wieder gefunden Kinder stehen unter Schock und können sich nicht klar erinnern, was mit ihnen geschehen ist. Hoffen wir, dass sie die Fürsorge erhalten, die sie brauchen, um diese traumatischen Ereignisse zu verarbeiten.
„Und was denken Muggel jetzt?", erkundigte sich Kondagion. „Oder willst du mir erzählen, dass sie dies nicht ungewöhnlich finden."
„Doch, das weckt ganz sicher das Interesse von vielen", gab Tarsuinn zu. Es verwunderte ihn, dass sie so vehement darauf bestand, etwas Offensichtliches zu bestätigen.
„Was glaubst du, wie viele Zeitungen ähnlich darüber berichtet haben?"
„Alle in Manchester und sicher auch ein paar landesweite, würde ich sagen", schätzte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Und so etwas bringt unsere Welt in Gefahr!", sagte Kondagion sehr laut und wieder mehr Richtung der anderen Anwesenden. „Solche Berichterstattung in der Muggelpresse…"
„Nein!", unterbrach Tarsuinn ebenso laut. Eigentlich konnte es Tarsuinn egal sein, welche Schlüsse Kondagion zog, aber irgendwie war es wichtig, dass klar wurde, dass er anderer Meinung war.
„Das interessiert nicht! Wichtig ist nur…", tat Kondagion seinen Einwurf ab.
„Es ist wichtig, Ma'am!", beharrte Tarsuinn und wusste, es war dumm. „Ich bin hier um Schlussfolgerungen über die nichtmagische Welt zu treffen. Nicht Sie!"
„Schweig, du vorlauter…"
„Darf ich den Verteidiger um einen Einspruch bitten? Ich werde eingeschüchtert", bat Tarsuinn ironisch und wieder gab es einiges Gemurmel und unterdrücktes Gelächter.
„Ich denke Sie haben das gut im Griff, Mr McNamara", kam die Antwort des Verteidigers und Tarsuinn glaubte auch bei ihm ein Schmunzeln zu hören. „Fahren Sie einfach fort."
„Wenn Sie meinen", sagte Tarsuinn, ihm war nicht nach Schmunzeln zumute. Vor allem störte ihn, dass man ihm nicht sagte, worum es eigentlich ging.
„Ich wollte eigentlich nur sagen, Ma'am,…", begann er in etwas versöhnlicherem Ton, „…dass ich mit Ihrer Einschätzung nicht übereinstimme. Ja, es mag interessant sein und neugierig machen, aber solange nichts weiter passiert, wird diese Sache recht bald von neuen Nachrichten verdrängt. Das ist doch mit dem Tagesproheten das Gleiche. Eine Sensation ist nur solange interessant, bis es eine neue gibt. Da sind alle Menschen gleich."
Dies brachte Lady Kondagion wieder ins Gespräch.
„Was wäre, wenn sich aber etwas Unerklärliches ergeben würde?", fragte sie.
„Dann besteht die Gefahr, dass es zu einem Mysterium wird", musste er eingestehen. „So ähnlich wie Area 51. Die Geschichte lebt dann ewig und treibt seltsamste Blüten."
„Würdest du mir zustimmen, dass es Muggel geben könnte, die daraufhin intensiv nachforschen?"
„Ja", musste Tarsuinn zugeben. „Einige sicher."
„Wie?"
„Fragen, Suche nach anderen ähnlichen Vorfällen, Videoüberwachung verdächtiger Personen."
„Was ist Videoüberwachung?", erkundigte sich ein Mann aus dem Publikum.
„Ähem…", stotterte Tarsuinn überrascht und ein wenig amüsiert, „…mit einer Kamera zeichnet man Geschehnisse visuell auf."
„Ach, Fotografie. Diese Muggel", lachte der Mann auf der Tribüne. „Nur ein anderer Name dafür."
„Nicht ganz", korrigierte Tarsuinn. „Man kann nicht nur ein paar Sekunden, sondern mehrere Stunden bis unbegrenzt aufzeichnen. Üblicherweise versteckt man die Kameras irgendwo, koppelt sie mit einem Bewegungsmelder und kann dann alles unbemerkt aufnehmen."
Ein beunruhigtes Raunen ging durch die Ränge. Tarsuinn war sich nicht sicher, ob das jetzt in die richtige Richtung ging.
„Ich wage kaum zu fragen…", sagte eine sehr alte, weibliche Stimme, „…aber was ist ein Bewegungsmelder?"
Tarsuinn unterdrückte ein Seufzen und versuchte seine Antwort so einfach wie möglich zu formulieren. Das war gar nicht so leicht.
„Ich versuch es zu vereinfachen", sagte er. „Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Fotoapparat und ein zweites Gerät – nennen wir es Bewegungsmelder – das erkennt, wenn sich jemand in seiner Nähe bewegt. Und dieser Bewegungsmelder sagt dem Fotoapparat immer, wann er fotografieren muss, weil sich jemand vor seiner Linse befindet. So werden nur Bilder gemacht, wenn auch etwas zu sehen ist und das Band – ähem der Fotofilm – hält so recht lange."
„Und so etwas gibt es?", forschte eine Stimme aus dem hinteren Bereich entsetzt.
„Na ja – solche Überwachungskameras sind eher bei der Polizei, in Banken und Kaufhäusern üblich. Aber kaufen kann das eigentlich jeder."
„Das klingt ja gefährlich! Wenn sich das verbreitet", rief eine ängstliche junge Frau, was Tarsuinn ein wenig verwirrte.
„Das gibt es doch schon seit Jahren", sagte er verblüfft. „Und bisher scheint keine Gefahr zu…"
„Danke!", unterbrach Kondagion energisch. „Diese Diskussion können Sie in der Abteilung für Muggelangelegenheiten erörtern. Wir hier haben über etwas anderes zu urteilen und zwar, ob die Angeklagten – Patrick und Fenella Darkcloud – mit ihren gesetzeswidrigen Handlungen die Zaubererwelt in Gefahr gebracht haben."
Ein Zwerg kam lautlos durch die Tür, ging zu Tarsuinn, hämmerte ihm einen Zaunpfahl gegen die Stirn und verließ den Saal wieder. Dies innerhalb eines einzigen Augenblickes. Zumindest fühlte sich Tarsuinn, als wäre der Zwerg wirklich da gewesen.
Ging es hier etwa um Winonas Eltern? Zumindest erklärte dies das Verhalten des Mädchens und auch warum niemand sie am Bahnhof abgeholt hatte. War sie denn hier? Verflucht, hatte er eben ihre Eltern ans Messer geliefert? Aber warum hatten sie denn die Kinder entführt?
„Machen wir also weiter", fuhr Kondagion fort und er hörte Freude in ihrer Stimme. Sie musste sein Erschrecken gesehen haben. Er war zu überrascht gewesen, um seine Gefühle vom Gesicht fern zu halten. Die Anklägerin musste wissen, dass ihm der Name Darkcloud etwas sagte und sie schien seinen Schock ausnutzen zu wollen, indem sie einen weiteren Artikel vorlas.
Kontrollier dich, Tarsuinn!, dachte er sich und konzentrierte seine Gedanken nur auf Kondagions Stimme.
18.10.1992
Ausbruch!
Wie die Polizei heute Morgen mitteilte, ist der Mann, der verdächtigt wird der Manchester-Kindes-Entführer zu sein (wir berichteten), aus der Untersuchungshaft spurlos entflohen. Wie er dies geschafft hat, ist zur Zeit noch völlig unklar. Die Polizei ist darüber offensichtlich besorgt, vor allem da man anscheinend befürchtet, dass die – nun seit zwei Wochen ausbleibenden – Entführungsfälle wieder beginnen. Es gibt viele, welche die Flucht als Schuldeingeständnis verstehen.
Was außerdem beunruhigt, ist das zeitgleiche Verschwinden der ermittelnden Beamtin Fenella D. und ihrer Familie. Niemand scheint zu wissen, wohin sie sind und soweit wir in Erfahrung bringen konnten, ist man sehr besorgt. Schließlich war es allein besagte Frau, die den Mann hinter Gitter brachte. Ein Racheakt kann nicht ausgeschlossen werden.
„Nun – ich glaube, dank der Aussage dieser Artikel und unseres Sachverständigen hier…", sicherlich deutete Kondagion eben auf Tarsuinn, „…können wir davon ausgehen, dass nicht nur unerlaubt und unkontrolliert Zauber auf unverantwortliche Weise in der Muggelwelt eingesetzt wurden, sondern dass dadurch auch ein Schaden entstanden ist, der höchstwahrscheinlich nicht, oder nur mit großem Aufwand, beseitigt werden kann. Nicht auszudenken was passiert wäre, wenn wir die Angeklagten hätten weiter agieren lassen."
Tarsuinn konnte nur mit dem Kopf schütteln.
„Das Schlimmste was passiert ist, war das plötzliche und spurlose Verschwinden", sagte er laut.
„Hättest du das auch gesagt, wenn es nicht um die Eltern deiner Freundin und um Muggel gegangen wäre?", fragte Kondagion überlegen.
„Ja, das hätte ich, Ma'am", antworte er und wusste, dass sie seine Anmerkung schon vor dem Lesen des dritten Artikels eingeplant hatte. Aus diesem Grund hatte sie den Namen der Darkclouds genannt – es nahm seiner Aussage die Objektivität. Zumindest in den Augen der meisten anderen Anwesenden.
„Ich kann verstehen, dass du sie gern schützen willst", tat die Anklägerin verständnisvoll. „Aber sie haben gegen wichtige magische Gesetze verstoßen und davon verstehst du nichts!"
Doch Tarsuinn verstand. Seine Gedanken rasten und er konnte sich endlich die Geschichte zusammenreimen. Mrs Darkcloud war bei der Polizei von Manchester angestellt. Anscheinend hatten sie und ihr Mann in einem Entführungsfall Magie angewandt, um den Täter zu finden, was anscheinend genauso illegal war, wie das magische Heilen seiner Schwester.
Aber im Gegensatz zu den vielen der hier Anwesenden, begrüßte er das Vorgehen der Darkclouds und fand, dass sie gar nicht unverantwortlich gehandelt hatten. Nur leider hatte er mit seinen Ausführungen wahrscheinlich dazu beigetragen, dass viele jetzt die Situation schlimmer einschätzten, als sie wirklich war, und ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wie er helfen konnte.
„Wie Sie sehen, verehrte Ratsmitglieder…", verkündete Kondagion laut, „…hat das letzte Manöver der Verteidigung nur das bestätigt, was die Anklage schon vorher hat verdeutlichen wollen. Ich bitte deshalb um die Entlassung des Zeugen."
„Du kannst jetzt gehen, Junge", sagte sie nach einer kurzen Pause und der Triumph war ihr deutlich anzuhören.
Tarsuinn stand gequält auf. Ganz vorne links hörte er ein leises Weinen, das sehr stark nach Winona klang. Das tat ihm furchtbar weh.
„Aufgrund der vorliegenden Beweislage, dem Geständnis des illegalen Einsatzes von Magie und der Zeugenaussagen, beantrage ich die Inhaftierung von Fenella und Patrick Darkcloud für mindestens drei Jahre in Askaban, Entzug der Arbeitslizenz für Muggelberufe und Entziehung des Sorgerechtes für das gemeinsame Kind Winona Darkcloud. Außerdem…"
„Ich hoffe, diese eiskalte, seelenlose Schnepfe…", murmelte Tarsuinn zu Tikki gewandt.
„Was!", fuhr die Anklägerin zu ihm herum. „Ich muss mich hier nicht beleidigen lassen. Vor allem nicht von einem dummen, kleinen Muggel."
„Das sollte ein Kompliment werden", zischte Tarsuinn sie an und seine Beherrschung war kurz davor Winke-Winke zu machen. Am liebsten hätte er einige kleine Worte über den illegalen Erwerb von verbotenen Artefakten verloren.
„Dann kannst du es ja mal laut für alle wiederholen!", forderte sie wutentbrannt.
„Gern!", schoss er zurück. „Ich wollte sagen: Ich hoffe, diese eiskalte, seelenlose Schnepfe verfährt mit dem Entführer genauso erbarmungslos! Und wenn das für Sie kein Kompliment ist, dann weiß ich auch nicht!"
Dann stapfte er zornig aus dem Saal, halb damit rechnend, man würde ihn zurückrufen und bestrafen. Doch nichts geschah? Seltsamer noch, kein Raunen, kein Lachen – nichts als Reaktion auf seine offensichtliche Unverschämtheit. Er öffnete die Tür, ging hinaus und wollte sie theatralisch zuknallen, was leider nicht funktionierte, da die Tür trotz allen Schwungs geräuschlos ins Schloss fiel.
„Daniel?", fragte er, weil er eigentlich nur noch hier weg wollte. Doch er war allein. Da er nicht wusste, wie er wieder zurück in die Telefonzelle kam, musste er sich gezwungenermaßen wieder ruhig auf die Bank setzen und warten, dass sich wer seiner erbarmte.
Doch niemand kam zu ihm. Tikki ging recht bald auf Erkundungstour, wie es halt bei Mungos üblich war, wobei sie sich trotzdem in seiner Nähe aufhielt. Wenigstens konnte er sie auf den Gängen trippeln und schnüffeln hören.
Mittag und Nachmittag waren lange vorbei und ihm knurrte schon vernehmlich der Magen, als die Tür in seiner Nähe sich öffnete. Sofort hörte er unzählige Gespräche, knarrende Stühle und raschelnde Kleidung.
„Tarsuinn!", hallte ihm Winonas Stimme entgegen.
Er stand auf.
„Ich… es tut mir Lei…", stammelte er, doch da wurde er schon umgerissen und schlug hart auf dem Boden auf.
„Du hast es geschafft!", jubilierte Winona und schlang ihre Arme um seinen Hals.
Wenn man behauptete Tarsuinn wäre darüber sehr verwirrt, dann war dies die Untertreibung des Jahrhunderts.
„Bist du denn froh, dass deine Eltern ins Gefängnis müssen?", fragte er und schaffte es sich aufzurappeln, obwohl Winona ihm die Luft beinahe abdrückte.
„Wer sagt denn das!?", lachte sie glücklich. „Du hast sie doch gerettet."
„Ich hab was?", stammelte er verblüfft und sein Mund blieb offen stehen.
„Du hast sie gerettet", wiederholte sie. „Mit deinem letzten Kommentar!"
„Indem ich Kondagion beleidigt habe, hab ich deine Eltern gerettet?", fragte er ungläubig.
„Quatsch!", sagte sie und löste sich von ihm. „Aber ich muss los. Meine Eltern müssen nur noch einiges Zeug unterschreiben. Dank dir und wir sehen uns."
Dann rannte sie wieder weg und ließ einen Held des Tages zurück, der sich keiner Schuld bewusst war. Tikki machte ein Geräusch, das sie für verrückte Personen reserviert hatte. Glücklicherweise war da noch jemand anderes.
„Schön Sie auch mal verwirrt zu sehen, Mr McNamara", sagte die Stimme Professor Flitwicks von unten. „Vor allem bei einem so freudigen Anlass."
„Können Sie mir erklären…, Professor?", fragte er und deutete hilflos in die Richtung in die Winona verschwunden war.
„Natürlich", kicherte der Professor. „Ihre letzte – und wie ich anmerken will, recht ungezogene – Äußerung gegenüber Lady Kondagion hat dem Verteidiger der Darkclouds geholfen, das Verfahren zwar nicht zu beenden, aber wenigstens auf unbestimmte Zeit auszusetzen."
„Und warum?"
„Ganz einfach – niemand außer Ihnen war bis zu diesem Zeitpunkt auf die Idee gekommen, dass der Entführer auch ein Zauberer gewesen sein könnte."
„Aber das ist doch recht unwahrscheinlich?"
„Mag sein. Aber der Verteidiger hat aus den Worten – spurlos entflohen – ein Indiz für mögliche magische Beteiligung konstruiert und dass man keinen Beweis für das Gegenteil habe, da die Anklägerin sich nicht um diese Seite des Falles gekümmert hat."
„Und das hat sie freibekommen?", fragte er erstaunt.
„Nicht ganz, leider", antwortete Flitwick. „Aber bis nicht das Gegenteil erwiesen ist, kann es auch sein, dass Mrs und Mr Darkcloud einen Zauberer gejagt haben und in diesem Fall ist Magieanwendung nicht strafbar, sondern sogar erwünscht."
„Aber, wenn ich das richtig verstanden habe, dann glaubten die Darkclouds doch auch einen normalen Menschen zu verfolgen, oder?"
„Das ist irrelevant. Entscheidend ist, ob der Entführer Zauberer war oder nicht. Und um das festzustellen, muss man ihn erst mal finden. Bis dahin ist das Urteil ausgesetzt und die Darkclouds können nach Hause und sind vom Dienst für das Ministerium suspendiert."
„Dienst für das Ministerium? Ich dachte, sie wären bei der Polizei angestellt?"
„Sie sind beides. Das Ministerium sucht immer Personen, die man in kritische Muggelberufe einschleusen kann. Seit man Muggelgeld bei Gringotts tauschen kann, gibt es Zauberer und Hexen, die versuchen ohne Arbeit an dieses Geld zu kommen. Zauberer wie die Darkclouds sind nun dafür da, solche Verbrecher zu fangen und die Hinweise auf Magie zu verbergen. Nebenbei müssen sie zur Tarnung natürlich auch ganz normale Muggelarbeit leisten, nur ist da die Anwendung von Magie strengstens untersagt."
„Und das haben sie wegen dem Entführer ignoriert, nicht wahr?"
„Ja, ich schätze, wenn man eigene Kinder hat, dann ist es unerträglich einfach daneben zu stehen, obwohl man weiß, dass man helfen könnte. Sie sind auch bei weitem nicht die Ersten, die gegen die Regeln verstoßen haben. Nur leider fiel es diesmal auf und Frau Anklägerin und das Ministerium wollten unbedingt ein Exempel statuieren."
„Sie werden das noch machen", vermutete Tarsuinn. „Sie brauchen den Entführer bloß finden."
„Dann wollen wir hoffen, dass es ein Zauberer ist. Leider hat das Ministerium dafür kaum Zeit und Personal, aber es ist schon mal bezeichnend, dass der Entführer bei einem schnellen ersten Check, nicht ausgependelt werden konnte."
„Trotzdem ist es nur aufgeschoben. Ich bezweifle, dass dies Winona klar ist."
„Sie wird es schon bald begreifen. Die Frage ist nur, wie wird sie mit der Unsicherheit umgehen und wer wird ihr dabei helfen?"
Tarsuinn wusste, was der Professor von ihm wollte und natürlich wollte Tarsuinn helfen, aber er ahnte auch, dass Flitwick ihn irgendwie festlegen wollte. Doch das konnte er nicht zulassen. Auch wenn er Winona sehr mochte, im Zweifelsfall hatte Rica immer den Vorrang. Er konnte einfach keine Versprechungen geben, die dies außer Acht ließen.
„Könnten Sie mich in die Winkelgasse bringen", bat er, statt eine Antwort zu geben. „Ich schätze, man macht sich da sicher schon Sorgen und Geschenke habe ich auch noch nicht alle."
Einen Moment entgegnete Flitwick nichts. War er enttäuscht? Wahrscheinlich! Es war irgendwie so, als würde Flitwick immer versuchen in ihm Gefühle zu wecken – ein Luxus, den er sich nur selten leisten konnte.
„Dann werde ich Sie wohl jetzt besser zu Ihrer Schwester bringen", sagte Flitwick mit ruhiger Stimme und wandte sich um.
Tarsuinn trottete dem kleinen Mann hinterher und fühlte sich wie ein Verräter.
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