- Kapitel 19 -

Eröffnungszüge

Weihnachtsabend. Gab es eine schönere Zeit? Die Geschenke waren ausgepackt, der Festbraten verspeist und ein Feuer knisterte beruhigend im Kamin. Ein wenig zur Entspannung beigetragen hatte sicher auch das kleine Glas Wein, das Luna und er hatten trinken dürfen. Tarsuinn lehnte mit leicht schwummrigem Gefühl im Kopf an Rica und wenn er das richtig vermutete, dann tat Luna das Gleiche bei ihrem Vater. Einzig Tikki sprühte vor Energie und gab sich äußerste Mühe ihr neues Spielzeug zu zerfetzen – eine nicht zerstörbare, künstliche, magische Ratte, die nach Zucker schmeckte und ständig leise quiekend versuchte Tikki zu entwischen. Man konnte sagen, ein wirklich gelungenes Geschenk von Luna. Er selbst hatte von ihr und Mr Lovegood einen Teddy geschenkt bekommen. Ein kleiner Bär, kuschelig weich, angenehm riechend und – laut Rica – ultrasüß aussehend. Irgendwas Besonderes war noch mit dem Bären, aber die beiden Lovegoods weigerten sich, es ihm zu verraten.

„Damit du einen Freund im Traum hast", hatte Luna erklärt und obwohl er sich eigentlich schon zu alt für einen Schlafkameraden hielt, war ihm klar, was Luna ihm wirklich damit sagen wollte. Er war ihr sehr dankbar dafür.

Rica und er hatten sich mit einem Pützels-Basteleien-für-alle-Gelegenheiten-Kasten revanchiert, mit dem man kleine magische Dinge, Zeichnungen und Gegenstände zaubern konnte. So eine Art Chemiebaukasten für Magie. Er hoffte, Luna konnte damit etwas anfangen, da er, um ehrlich zu sein, kaum eine Ahnung hatte, was das Mädchen neben dem Quibbler und seltsamen Dingen, noch so interessierte. Zumindest hatte sie sich, laut geflüsterter Aussage ihres Vaters, sehr gefreut.

Doch es war Ricas Geschenk, das er seit dem Auspacken nicht mehr aus der Hand gelegt hatte. Es war eine schwere Kupferplatte auf der – mit unglaublicher Liebe zum Detail – die Abbilder von vier Menschen eingeritzt waren. Rica, er selbst und noch zwei andere Personen. Anami Ryu und Anami Mishari, der japanischstämmige Koch aus Hongkong und seine Enkelin, bei denen Rica und er einige Jahre lang Unterschlupf gefunden hatten.

Ständig fuhr er mit seinen Fingern über die Kerben des Bildes. Tarsuinn war nur ungern aus Hongkong weggegangen, aber die Hoffnung auf eine bessere Behandlung Ricas hatte den Ausschlag für England gegeben. Was hatten sie alles dafür lügen, betrügen und bestechen müssen, um die nötigen Papiere zu bekommen! Ihm wurde noch immer übel, wenn er daran dachte, wie extrem sie die Mitleidwelle geritten hatten.

„Oh je", brummte Mr Lovegood eben theatralisch. „Wenn das Essen morgen ähnlich gut ist wie heute, dann werde ich platzen! Das war das beste Weihnachtsessen seit Jahren für uns. Ihr beide könntet Madame Tasteley mehr als Konkurrenz machen."

„Das Lob gebührt ihm", lächelte Rica und fuhr über Tarsuinns Haare. „Ich reiche nur zu und serviere."

„Ein gutes Essen muss auch entsprechend dargereicht werden", entgegnete Mr Lovegood. „Und das wurde von den beiden anwesenden, liebreizenden Damen hervorragend gemacht."

„Morgen wird Tarsuinn sich übertreffen, das kann ich schon verraten", sagte Rica verschwörerisch.

„Na so gut…", brummte Tarsuinn leise.

„Es wird eine tolle Show", unterbrach ihn Rica. „Mit verbunden Augen sozusagen."

„Ähem…was? Die volle Show?", erschrak sich Tarsuinn etwas. „Ach bitte! Du weißt, ich mach das nicht gerne."

„Komm schon, mir zuliebe", drängte sie. „Als zusätzliches Weihnachtsgeschenk."

„Ich dachte, mit dem Kimono für sämtliche Anlässe und Jahreszeiten hätte ich mich davon freigekauft", jammerte er ein wenig.

„Sieh es als verfrühtes Geburtstagsgeschenk", köderte Rica ihn, obwohl sie wusste, dass Tarsuinn ihr eh keine Bitte abschlagen konnte.

„Na, okay", gab er nach. „Aber ich hab das schon ein Jahr lang nicht mehr gemacht. Wenn was schief geht, bist du schuld."

„Einverstanden", lachte sie. „Du machst eh nie einen Fehler."

„Darf ich fragen worüber ihr redet?", fragte Mr Lovegood neugierig.

„Eine scharfe Überraschung", kicherte Rica. „Und etwas Besonderes."

„Du solltest die Erwartungshaltung nicht auch noch schüren", meckerte Tarsuinn ein wenig.

„Ach, komm schon. Lass mir den Spaß. Sei doch nicht so…"

Es klopfte drei Mal an der Tür.

„Wer mag das so spät am Abend noch sein?", fragte Mr Lovegood und stand auf. „Bleibt sitzen. Ich gehe."

Mr Lovegood ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

„Wer da?", fragte er dabei.

„Mr Lovegood?", erkundigte sich eine weibliche Stimme.

„Der bin ich."

„Mr Lovegood, ich weiß, Sie kennen uns nicht. Wir sind die Darkclouds und unsere Tochter hier sagte uns, wir könnten Tarsuinn McNamara bei Ihnen finden."

„Winona!", riefen Tarsuinn und Luna gleichzeitig und sprangen auf.

„Na, wenn Sie die Darkclouds sind, dann kommen Sie herein", lud Lunas Vater die draußen Stehenden ein. „Anscheinend sind Sie hier sehr willkommen. Die Besen können sie dort abstellen."

„Hallo, Winona", begrüßten Tarsuinn und Luna ihre Freundin wie aus einem Munde.

„Hallo, ihr beiden", antwortete Winona und seit Monaten klang sie wieder so selbstbewusst, wie in den ersten Schultagen. „Ma, Dad. Das ist Luna. Tarsuinn kennt ihr ja schon und dort drüben ist Tarsuinns Schwester Rica."

„Erfreut euch kennen zu lernen", sagte Mr Darkcloud freundlich. „Und Sie natürlich auch, Mr Lovegood. Es ist oft ein Vergnügen den Quibbler zu lesen."

„Nur oft?", erkundigte sich Mr Lovegood und schien ehrlich erstaunt. Glücklicherweise übergingen das alle oder bekamen es nicht mit.

Man bat die Darkclouds sich mit an den Kamin zu setzen. Die Kinder lümmelten sich auf dem Fußboden, da nicht genug Platz zum Sitzen war. Das störte jedoch niemanden, denn vor dem Kamin lag ein riesiges, flauschiges Fell.

„Sie ahnen sicher, warum wir hier sind?", fragte Mrs Darkcloud, kurz nachdem sich alle gesetzt hatten.

„Nicht wirklich", entgegnete Mr Lovegood interessiert.

„Hat Tarsuinn denn nichts erzählt?", erkundigte sich Winonas Mutter erstaunt.

„Ich glaube, er zählt zu den eher schweigsamen Typen", erwiderte Mr Lovegood. „Aber da Sie hier sind, kann Ihre Verhandlung nur gut verlaufen sein."

„Zumindest besser als erwartet", kam die Erwiderung. „Und das haben wir Tarsuinn zu verdanken."

„Es war Zufall", warf Tarsuinn ein. „Ich konnte nichts dafür."

„Trotzdem. Hättest du Lady Kondagion nicht die Stirn geboten, dann säßen wir heut in Askaban und nicht hier."

„Ihr Verteidiger hat das möglich gemacht", entgegnete Tarsuinn, dem das Ganze furchtbar peinlich war. „Ich hab durch Zufall nur den richtigen Ansatz geliefert und das nicht mal gemerkt!"

„Winona hat uns vor dir gewarnt", sagte Mrs Darkcloud ironisch. „Aber wir sind Schwierigkeiten gewöhnt."

„Können Sie das nicht einfach vergessen?", bat Tarsuinn.

„Nein!"

„Hätten Sie vielleicht die Güte uns zu erzählen, was denn passiert ist?", mischte sich Rica ein. „Von meinem kleinen Bruder erfährt man solche Dinge selten in Neugierde befriedigender Ausführlichkeit."

„Aber gern", stimmte Mrs Darkcloud sofort zu. „Die Vorgeschichte müsste ja Ihnen Mr Lovegood schon erzählt haben und…"

Tarsuinn stand auf.

„Ich bin in einer Stunde wieder da", sagte er und ging zur Tür.

„Tarsuinn McNamara", peitschte die raue Stimme seiner Schwester durch den Raum. „Du setzt dich wieder hin!"

Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Selten hatte ihn Rica so angefahren.

„Ich wollte…", stammelte er.

„Du beleidigst deine Gäste und deinen Gastgeber", fuhr sie ihn böse an.

„Wir wollten nicht…", versuchte Mrs Darkcloud zu vermitteln.

„Nein! Das hat nichts mit Ihnen zu tun", wehrte Rica ab. „Tarsuinn, weder bei mir, noch bei Ryu-san, hättest du dir das erlaubt. Dies hier sind Leute, die sicher sind dir etwas zu schulden. Wenn du ihnen jetzt die Möglichkeit nimmst sich zu bedanken und so ein Teil der Schuld abzutragen, dann verdienst du den Dank wirklich nicht! Du wirst dich also jetzt wieder hinsetzen, ausnahmsweise mal ein mögliches Lob ertragen und sie und mich mit deinem Verhalten ehren. Haben wir uns da verstanden?"

„Ja", murmelte Tarsuinn beschämt.

„Verstehst du es auch?"

„Ja", bestätigte er erneut und schluckte schwer.

„Gut!", sagte Rica und ihre raue Stimme wurde wieder etwas sanfter. „Bitte entschuldigen Sie und fahren Sie fort, Mrs Darkcloud."

„Ähem, ja…wie ich schon sagte…", begann Mrs Darkcloud etwas betreten und schilderte dann recht genau, was bei der Gerichtsverhandlung geschehen war. Tarsuinn saß die ganze Zeit mit gesenktem Kopf auf dem Fell und achtete nicht auf die Geschichte. Ricas Ton hatte ihm sehr wehgetan. Nicht, dass sie ihn zum ersten Mal gescholten hatte, aber so ernst gemeint hatte sie es noch nie. Seine Ohren glühten immer noch durch die Enttäuschung, die er herausgehört hatte. Und das Schlimmste war, sie hatte absolut Recht. Sein Verhalten war beleidigend gewesen und Ryu-san hätte ihn für solch eine Unverschämtheit wochenlang knüppelhart arbeiten und trainieren lassen. Obwohl – das wäre ihm lieber gewesen, als diese Standpauke vor seinen Freunden.

„Tarsuinn!", riss ihn irgendwann Rica aus seinen Gedanken. Ihre Stimme klang so liebevoll wie eh und je. „Die Darkclouds haben dir ein Geschenk mitgebracht!"

Über das Fell hinweg wurde Tarsuinn ein großes Papierpaket zugeschoben. Nur zögerlich tastete er danach. Es war weich und wahrscheinlich enthielt es Kleidung. Es roch zumindest nach Textilfarbe.

„Du musst es schon öffnen, Kleiner", drängte Rica ihn ein wenig. „Mach es nicht immer so spannend!"

Vorsichtig tastete er nach dem Knoten des Geschenkbandes und versuchte ihn zu öffnen.

„Möchte jemand Tee?", lästerte Rica. „Eh Tarsuinn soweit ist, kann ich noch eine Kanne aufbrühen."

„Eine gute Idee, Rica", entgegnete Tarsuinn ernst. „Ein sehr komplizierter Knoten."

„Warum reißt du denn nicht einfach das Papier ab?", fragte sie.

„Ach – ich weiß nicht. Ist Geduld nicht eine Tugend?", ärgerte er sie.

Doch seine Schwester lachte einfach.

„Tikki, könntest du bitte?", sagte sie nur und Sekunden später fielen links und rechts von Tarsuinn Papierfetzen zu Boden.

„Kleine Verräterin", brummte er und versuchte Tikki spielerisch zu knuffen, was natürlich nicht klappte.

Mehrere Dinge lagen nun vor ihm und niemand gab sich die Mühe ihm zu sagen was es war. Vorsichtig fühlte er sich durch das Paket.

„Das ist zuviel!", murmelte er verlegen. „Stiefel…Hose…Hemd…Umhang…Zaubererhut? Das ist ein ganzer Kleiderschrank!", stellte er fest. „Da sind überall Einhörner eingestickt."

„Winona hat das für dich ausgesucht", erklärte Mrs Darkcloud. „Sie meinte, es hätte eine Bedeutung für dich."

Wobei die Bedeutung eigentlich keine angenehme war.

Eingewickelt in den Umhang fand er dann noch ein nur heftgroßes, dickes und absolut stilles Buch.

„Wir haben in der Winkelgasse nach etwas gefragt, was einem blinden Jungen gefallen könnte", erklärte Mrs Darkcloud, als er das Buch zur Hand nahm. „Das hat ein Hauself gehört und uns dann dieses Buch aufgeschwatzt. Es steht nichts drin, aber es war billig und hat einen schönen Einband. Als Tagebuch wäre es bestimmt ganz schön."

„Es ist fast perfekt für mich", sagte Tarsuinn und fuhr über den Einband. „Für das Auge, das nicht sieht – steht hier."

Kaum hatte er das gesagt, begann das Buch zu flüstern:

Für das Auge, das nicht sieht.

Für die Hand, vom Ohr geführt.

Für den Geist, der fühlt.

Für das Herz.

Neugierig schlug er das Buch auf und las mit den Fingern die erste Seite.

Hallo Tarsuinn,

auf meinen stillen Streifzügen durch die Bibliotheken dieser Welt, habe ich dieses Buch hier gefunden und hoffe, es ist Dir nützlich. Dein Weihnachtsgeschenk von mir hast du ja schon, weshalb es die Darkclouds für Dich kaufen werden.

Grund für diese Nachricht ist jedoch, dass wir miteinander sprechen müssen. Ich hab gesehen, dass Du unten allein schläfst. Komm heut Nacht, sobald alle schlafen, nach draußen.

Tante Glenn

Er spürte, dass das Buch äußerst ungehalten darüber war, als geheimer Brief benutzt worden zu sein, weshalb er schnell noch umblätterte und das Inhaltsverzeichnis las. Die meisten Bücher liebten es gelesen zu werden und dieses hier war schon lange nicht mehr von jemandem berührt worden, der etwas mit der Kerbschrift anfangen konnte.

„Steht da was drin?", fragte Luna neugierig über die gespannte Stille hinweg.

„Ja!", antwortete Tarsuinn. „Dieses Buch ist…Mrs Darkcloud, Mr Darkcloud, Winona. Das ist…ich muss mich entschuldigen. Dieses Buch ist perfekt! Ich muss jetzt nur noch zaubern lernen."

„Das freut uns", erklärte Mrs Darkcloud. „Aber wie Luna schon fragte, was haben wir dir denn geschenkt?"

„Es ist ein Zauberbuch", erklärte Tarsuinn. „Wenn das Inhaltsverzeichnis stimmt, dann stehen hier sehr spezielle Zauber und Übungen für Leute wie mich drin."

Tarsuinn schlug eine Seite weiter hinten auf.

„Zum Beispiel hier. Ein Zauber, den man auf seine Hände spricht und der dafür sorgt, dass man mit den Fingern Farbe fühlen – erfahren – kann. Sie ahnen gar nicht, was dieses Buch für einen blinden Zauberer bedeuten kann!"

„Und du ahnst nicht, was es für uns bedeutet bei unserer Tochter sein zu können, statt in Askaban!", sagte Mr Darkcloud eindringlich. „Das gleicht sich doch irgendwie aus, oder?"

„Sieht so aus, Sir", gestand Tarsuinn halb abwesend ein. Seine Finger glitten unablässig durch die Seiten.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte Tarsuinn den Abend damit verbracht das Buch zu lesen. Leider zwang man ihn zuerst, die geschenkte Kleidung anzuziehen und vorzuführen. Das war auch gar nicht so schlimm, denn die Kleidung war wirklich angenehm zu tragen und fühlte sich ganz glatt und angenehm kühl an.

Wenig später kramte dann Mr Lovegood eine Art Trivial Pursuit hervor, das mit Begeisterung gespielt wurde. Natürlich drehten sich fast alle Fragen um die Magische Welt, obwohl es auch eine Kategorie Muggel gab. Rica bekam seltsamerweise recht häufig Fragen aus der Muggelwelt gestellt. Aber natürlich konnten Magier nicht normal spielen. Für jede falsche Antwort veränderte sich die Form von Nase und Ohren. Am Ende kamen alle kaum aus dem Lachen heraus. Selbst Tarsuinn konnte sich amüsieren, da er an ein paar Nasen ziehen durfte. Trotz der allgemeinen Fröhlichkeit ertappte er sich, wie er heimlich nach seiner Uhr tastete. Er hoffte, Mrs Glenndary würde erst recht spät aufbrechen. Es gab sicherlich Schöneres, als am Weihnachtsabend allein in der Kälte herumzustehen.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Luna beinahe vor Müdigkeit umfiel. Die Darkclouds meinten daraufhin, dass es wohl an der Zeit wäre nach Hause zu fliegen. Ein Anliegen, das sofort auf Ablehnung bei Mr Lovegood stieß. Zu kalt, zu weit und für die übermüdete Winona viel zu gefährlich. Eine Argumentation, welche die Darkclouds nach einiger Zeit gelten ließen. So kam es, dass die Mädchen alle bei Luna im Zimmer schliefen und Winonas Eltern in Mr Lovegoods Schlafgemach. Dieser zog hinunter zu seiner Druckmaschine und den Kopierfedern, während Tarsuinn immer noch das Wohnzimmer für sich hatte.

Nachdem alle endlich im Bett waren, wartete er noch eine Weile, stand dann wieder vom Sofa auf und zog sich möglichst leise seine warmen Sachen an. Verwundert kam Tikki zu ihm und gab einen fragenden Laut von sich.

„Ich geh noch mal raus", flüsterte Tarsuinn ihr zu. „Mrs Glenndary wartet draußen."

Tikki war nicht sonderlich begeistert von der Idee.

„Du sollst ja auch hier bleiben", beruhigte er sie und streichelte ihr Fell. „Ich bin mir sicher, sie findet mich."

Doch Tikki ließ das nicht gelten. Erst schimpfte sie mit ihm, dann lief sie kurz zu seinen Sachen und kam mit einem Schal wieder.

„Wehe du meckerst nachher immer noch", sagte er ergeben und wickelte Tikki in den Schal. Danach setzte er sie in seine Kapuze und zog vorn die Bänder etwas fester, damit nur noch Tikkis Kopf der Kälte ausgesetzt war.

„Alles klar?", fragte er noch, dann stibitzte er sich den Schlüssel vom Brett, öffnete leise die Tür, trat nach draußen und schloss hinter sich wieder zu.

Es hatte angefangen zu schneien, eine dünne Schneedecke knirschte unter seinen Füßen und Flocken schmolzen auf seinem Gesicht. Genauso musste Weihnachten sich anfühlen, nur mit noch mehr von dem weißen Katastrophenpulver. Soweit er das beurteilen konnte, lag das Haus der Lovegoods mitten in einem Waldstück in völliger Einsamkeit.

Langsam spazierte er den Weg entlang, den Tikki ihm wies, und schon nach kurzer Zeit fühlte er sich beobachtet. Tarsuinn blieb stehen, lauschte und schnupperte. Irgendwer atmete in sehr hoher Frequenz und roch zwar nach Mrs Glenndary, aber irgendwie auch anders.

„Zic? Zac?", fragte er in die Nacht hinein.

„Kleiner Zauberer wartet bitte hier", antwortete eine sehr dünne Stimme. „Meisterin gleich da."

Ein kurzes Schnippen, ein Geräusch als fiele Sand auf eine Marmorplatte und Tarsuinn war wieder allein, nur um Sekunden später durch einen relativ lauten Knall zusammenzuschrecken.

„Da bist du ja endlich", sagte Mrs Glenndary, bevor er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Zum Glück hat Zic ja einen dicken Mantel und außerdem sind Hauselfen nicht so empfindlich wie wir Menschen."

„Fröhliche Weihnachten, Mrs Glenndary", grüßte Tarsuinn, nachdem er sich wieder sicher war, dass sein Herz normal schlug.

„Nenn mich Tante Glenn, wie in den Briefen, Tarsuinn. Ich glaube, über die Mrs sind wir schon längst hinaus."

„Wie du meinst, Tante Glenn", stimmte er ernst zu.

„Fein. Gehen wir ein Stück. Bei dieser Kälte sollte man nicht herumstehen."

Langsam ging er neben ihr her.

„Du wolltest mich sprechen?", fragte er nach einigen Schritten.

„Ja", antwortete sie ernst. „Du kannst dir denken warum?"

„Nicht wirklich."

„Du hast dich mit Lady Kondagion angelegt!", erklärte sie vorwurfsvoll. „Das war dumm! Ich hab dir doch gesagt, fall nicht auf."

„Ich hatte wohl keine Möglichkeit ihr aus dem Weg zu gehen", verteidigte er sich.

„Aber sie auf ihrem ureigensten Kampfplatz vorzuführen war vermeidbar. Nichts dagegen, dass sie verloren hat – geschieht ihr ganz recht! Aber sie zu beleidigen war selten dämlich! Falls es dir noch niemand erklärt hat, sie ist Assistentin in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Das bedeutet, je nach Lage ist sie Anklägerin, Verteidigerin oder gar Richterin!"

Tarsuinn zuckte mit den Schultern.

„Nicht mehr zu ändern."

„Du solltest dich vor ihr in Acht nehmen! Irgendetwas geschieht mit ihr. Seit kurzem ist sie der aufgehende Stern am Ministeriumshimmel und sie lernt mit Menschen umzugehen. Wenn ich sie nicht besser kennen würde, könnte ich sie inzwischen fast mögen."

„Was betrifft mich das?"

„Ach, stell dich doch nicht dumm. Wer glaubst du beurteilt im Zweifelsfall deine Zauberkraft, wenn der Fall nicht eindeutig ist? Die Regelfuchser des Ministeriums! Wenn sie so weiter macht, ist sie Senior-Assistentin bevor das Schuljahr rum ist."

„Ich kann es trotzdem nicht ändern. Aber ich kann mich für das Buch bedanken."

„Ich werd es Zac sagen. Er hat es für dich in der Bibliothek von Salem mitgehen lassen. Bezweifle, dass dies jemals auffällt. Hat seit Jahrhunderten niemand angeschaut und ich vermute mal, kaum jemand weiß was drin steht. Wie schaut's im Übrigen mit deiner Zauberkraft aus?"

„Nada, Nichts, Zero."

„Davon kann keine Rede sein", korrigierte sie ihn. „Kein Muggel könnte Zaubertränke brauen, dazu bedarf es schon einer gewissen magischen Kraft. Und wie ich hörte, bist du richtig gut darin."

„Ich scheine ein wenig Talent zu haben", gab er zu.

„Gut", freute sie sich und sagte plötzlich unvermittelt: „Mach einen Kitzel-Fluch!"

„Kann ich doch nicht", erklärte er ihr ungehalten.

„Mach die Bewegungen und sag den Fluch!", forderte sie ihn noch mal auf.

Ungern zog er seinen richtigen Zauberstab.

„Wenn es sein muss? Okay! Rictusempra!"

Natürlich passierte nichts, außer…

„Furchtbar", urteilte Tante Glenn. „Abgrundtief schlecht."

„Was kann ich dafür", verteidigte sich Tarsuinn. „Lockhart ist als Lehrer ne Null. Bei ihm haben wir noch keinen einzigen Zauber oder Fluch gelernt. Das Einzige was er uns beibringt ist, was für einen tollen Kerl er darstellt. Ich hab fast den Eindruck, er will sein Wissen nicht mit anderen teilen."

„Na, wenigstens habt ihr einen wirklich gut aussehenden Lehrer", kicherte sie und klang dabei ein wenig wie die Mädchen aus Lockharts Fanclub. Doch dann wurde sie wieder ernst.

„Wenn dir dein Lehrer nichts beibringt, wie oft habt ihr allein geübt?", erkundigte sie sich hart.

„Fast überhaupt nicht", gestand er ein. „Mir war anderes wichtiger."

„Die Tränke für deine Schwester, ich weiß. Zac hat dich auf dem Turm gesehen. Er meinte, du solltest jetzt genug auf Vorrat haben?!"

„Bis Sommer reicht es sicher. Zumindest von dem schwierigen Zeug hab ich genug."

„Gut, dann wirst du ab jetzt konsequent Verteidigung pauken. Jeden Abend und glaub mir, ich erfahre es, wenn du es nicht tust!"

„Du bist nur meine Tante", lächelte er.

„Und du scheinst immer noch nicht zu begreifen – für diesen Zauberstab töten Menschen. Aus Angst oder aus Gier. Aus diesem Grund wirst du auch von mir in der nächsten Zeit Farbe geschickt bekommen und du wirst versuchen ihn zu übermalen. Silberne Zauberstäbe sind zwar nicht unbekannt, aber doch recht selten."

„Wie kommt es, dass du dich so für mich interessierst? Ich meine – warum hilfst du mir so?", das war etwas, was Tarsuinn schon seit langem fragen wollte. „Du hast mich noch nie nach Geld gefragt, obwohl ich schon so viele Dinge bei dir bestellt habe. Du sagst zwar immer, dass du Geld dafür willst, aber du fragst nie danach. Und warum hast du Probleme mit dem Ministerium?"

„Sehr schwierige Fragen", antwortete die Hexe und klang unangenehm berührt. „Auch wenn du sicher ein Recht darauf hast."

„Ein Recht sicher nicht…"

„Doch, irgendwie schon. Also, früher war ich…was zur Hölle…?!"

„Was?", entfuhr es ihm. Sie klang recht alarmiert, aber warum musste das gerade jetzt sein?

„Hörst du nicht?", fragte die Hexe, blieb stehen und drehte sich langsam im Kreis.

Er lauschte, doch da war nichts. Der Wind hatte vielleicht etwas zugenommen.

„Nichts", sagte er verwundert. War das ein Trick, um sich vor der Antwort zu drücken?

„Das Horn musst du aber gehört haben!", sagte sie besorgt.

„Nein", schüttelte Tarsuinn den Kopf. „Du musst dich irren. Es gibt nur wenig, was ich nicht höre."

„Was zum Beispiel?"

„Geister."

„Geister?"

„Ja!", bestätigte er.

„Oh verflucht!", kommentierte sie. „Hock dich hin und mach was ich dir sage. Sofort!"

Tarsuinn ging in die Hocke und hörte, wie sie ganz dicht zu ihm trat.

„Hoffen wir, dass sie vorbeifliegen", flüsterte Tante Glenn, mehr zu sich selbst. „Larva scutum!"

Ein tiefes Brummen erfüllte jetzt die Luft.

„Was ist los?", fragte Tarsuinn und spürte Angst in sich aufsteigen.

„Ah ja. Da sind sie auch schon. Verflucht, sie kommen her", ignorierte sie ihn.

„Wer?", er war kurz davor auch zu fluchen.

Wuotanes her – Die wilde Jagd! Üble Geister", erwiderte sie durch die Zähne. „Still jetzt!"

„Lang nicht mehr gesehen, Holda. Schon wieder Weihnachten?", sagte die Hexe mit leicht zittriger Stimme.

„Wenn ihr ihn wollt, dann haben wir ein Problem!"

„Wir konnten uns letztes Mal auch einigen!"

Tarsuinn hasste es, nur die Hälfte des Gespräches zu hören. Vor allem, wenn es um ihn ging.

„Er ist ein Muggel. Was habt ihr mit ihm zu schaffen?"

„Erzähl mir nichts von Solidarität unter Geistern. Ohne Bezahlung jagt ihr schon lang nicht mehr."

„So sei es denn."

Und damit brach die Hölle los. Das Brummen wurde an mehreren Stellen zum Kreischen. Tante Glenn warf mit Zaubern um sich, wie er es noch nie gehört hatte. Es schien fast so, als würde sie nur einen langen, einzelnen, aber furchtbar komplizierten Zauberspruch wirken. Doch die einzelnen Entladungen ihres Zauberstabes zeugten von etwas anderem.

Tarsuinn versuchte verzweifelt mit seinen behandschuhten und kalten Fingern seinen Feuerrubin aus der Tasche zu ziehen. Er schaffte es nicht. Todeskälte durchfuhr ihn mehrmals und er schrie vor Schmerz auf. Auch Tante Glenn schien einiges abzubekommen. Warum haute sie denn nicht ab? Ein Mal mit dem Zauberstab wedeln und weg wäre sie gewesen.

„Zic, Zac! Hilfe", rief Tante Glenn und wenige Sekunden später ließen die Attacken etwas nach. Doch nur für kurze Zeit.

„Lauf zum Haus!", befahl die Hexe.

Tarsuinn versuchte dem nachzukommen, doch nach nur wenigen Schritten brach er vor Kälte zusammen. Seine Glieder waren steif und das Einzige was er noch schaffte, war Tikki aus seiner Kapuze zu befreien.

„Warum wiederholen sich immer die schlechten Dinge?", knirschte er mit den Zähnen und war einer Ohnmacht nahe. Er hörte noch Tikkis Kampfrufe, doch diesmal schien selbst sie überfordert, die Schmerzen hörten nicht auf. Seine überspannten Sinne ließen ihn die traurige Musik aus dem Verbotenen Wald hören. Eine passende Begleitung für seinen Abgang, wie er leicht distanziert fand. Hatte etwas Stimmungsvolles und Leichtes. Gerade als er es gar nicht mehr bedauerte, dass es zu Ende ging, hörte es auf. Er hörte ein lautes tiefes Schnaufen über sich. Mühsam wuchtete er sich auf seine Knie und streckte die Hand nach oben aus. Er fand etwas Großes, Felliges und Warmes über sich stehen.

„Beweg dich nicht", stöhnte einige Meter entfernt Tante Glenn. „Sonst spießt es dich auf!"

Aber Tarsuinn hatte überhaupt keine Angst vor dem, was über ihm stand.

„Das haben wir schon hinter uns", sagte er zynisch und streichelte das Fell.

„Tikki – komm wieder in die Kapuze", rief er seiner kleinen Freundin zu.

„Geht es dir gut?", fragte er sie, als sie ihn erreichte. Die Antwort war recht positiv und er verpackte sie wieder in Schal und Kapuze.

„Tante Glenn? Zic, Zac? Geht es euch auch gut?"

„Denke schon!", kam die krächzende Antwort. „Aber was meinst du mit – das hättet ihr schon hinter euch?"

Er rang sich ein Lachen ab und stand auf. Dabei hielt er mit einer Hand immer Kontakt. Es war, als wäre das Fell magnetisch.

„Dieses Einhorn hat mich vor einer Weile mal aus Versehen mit gesenktem Kopf über den Haufen gerannt", erklärte er lächelnd.

„Dieses Einhorn?", fragte sie erstaunt. „Wie kannst du dir da sicher sein?"

„Ich bin mir sicher. Aber ich weiß nicht warum. Ich fühle es", antwortete er und fuhr sanft über das Fell, bis er den Kopf berührte. „Ich glaube...Tante Glenn? Haben Einhörner Gefühle?"

„Das ist unmöglich!", stammelte Tante Glenn.

„Aber ich könnte schwören, dass es Schuldgefühle hat", sagte er und klopfte sanft den Hals des Tieres.

„Ich trag es dir nicht nach", flüsterte Tarsuinn dem Einhorn ins Ohr. „Wir sind quitt."

„Unmöglich", wiederholte Tante Glenn voll Staunen.

„Du hättest uns mal reiten sehen sollen. Es ist ein wirklich erhebendes Gefühl", genoss er ihr Erstaunen und drückte seine Wange gegen den Kopf des Einhorns. „Er hat uns gerettet, nicht war?"

„Ja", war die kurze Antwort.

„Du bist ein Held", sagte er dem Einhorn. „Und du solltest jetzt wieder zu deiner Herde gehen…Wo es warm ist und alle auf dich warten…Wenn du mich bis zum Haus begleiten willst, wäre ich dir sehr dankbar…Ja, die Frau hat mir geholfen. Keine Angst…Nein, du hast nichts falsch gemacht...Auch damals nicht."

Aus irgendeinem Grund umarmte er das Einhorn fest. Er wusste jetzt woher die düstere Musik kam, die er hörte. In ihr schwang das gesamte Wesen des Einhornes mit, seine Reinheit, seine Gefühle, seine, für ein Tier, erstaunlich komplexen Gedanken.

„Du kannst…du kannst es verstehen?", fragte Glenn immer noch seltsam klingend.

„Zumindest bilde ich mir das ein", lächelte er versonnen. „Hat schon mal funktioniert. Auch wenn ich mich kaum erinnere."

Tante Glenn ging nicht darauf ein.

„Wir sollten dich ins Haus zurückbringen", sagte sie. „In ein Heim kann die Wilde Jagd nicht eindringen."

Tarsuinn hatte damit kein Problem. Ohne dass er etwas sagen musste, schritt das Einhorn neben ihm her und er fühlte sich dabei unglaublich sicher. Tikki, das Einhorn, Tante Glenn, Zic und Zac – das war wie eine kleine Armee.

Kurz bevor sie das Haus erreichten, blieb Tante Glenn stehen.

„Es ist besser, wenn man uns nicht zusammen sieht", sagte sie.

„Ich glaube, die anderen würden dich mögen, Tante Glenn!", bat er sie indirekt mitzukommen.

„Sie würden nur Schwierigkeiten wegen mir bekommen, glaub mir", sagte sie traurig. „Aber bevor ich gehe, solltest du mir zuhören."

„Ich bin ganz Ohr."

„Aber hör diesmal auf mich! Schließlich habe ich dir gesagt, du solltest dich vom Verbotenen Wald fernhalten, was du offensichtlich ignoriert hast. Also – noch mal, falls du es nicht begriffen hast – das eben war die Wilde Jagd. Die trauen sich eigentlich nur noch selten aus ihren Löchern und man muss ihnen einiges geboten haben, damit sie dich jagen. Kaum jemand wagt sie auch mehr anzuwerben, weil sie völlig aus der Mode sind. Aber sie sind gefährlich und wer sie anwirbt hat noch ganz andere Sachen in Reserve. Deshalb – verlasse nicht das Haus, solange du hier bist, außer es geht in die Winkelgasse. Sei niemals allein unterwegs und bleib in der Schule, sobald du wieder dort bist. Ob du willst oder nicht, ich werde Dumbledore einen Brief über das heute schreiben. Desweiteren wirst du deine Freunde nach dem Märchen vom verliebten Einhorn fragen. Hör genau zu. Ich selbst werde mich für dich umhören. Und du wirst schön unauffällig in Hogwarts leben. Sind wir uns da einig?"

„Ich werd Ärger so gut es geht vermeiden", versprach Tarsuinn.

„Das bedeutet bei dir nicht viel!", meinte sie recht abfällig, aber mit einem gewissen Zwinkern in der Stimme. „Ich geh dann mal."

„Warte", sagte er schnell, dann umarmte er sie.

„Danke, dass du mich nicht allein gelassen hast!", flüsterte er ihr ins Ohr und küsste verschämt ihre Wange.

Sie sagte dazu nichts, aber für einen Augenblick strich sie über seine Haare. Dann verschwand sie mit einem leisen Knall aus seinen Armen.

Es war spät am Weihnachtsabend, als Toireasa mit zwölf Flaschen Butterbier wieder die Schule betrat. Ihre Großeltern hatten wieder weg gemusst, da sie irgendetwas Wichtiges zu erledigen hatten. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie durch die Gänge der Schule und zur Großen Halle, in der nur noch wenige Schüler mit den Lehrern feierten. Man hatte gerade ein fröhliches Weihnachtslied angestimmt, doch Toireasa schlurfte regungslos zu Professor Snape am Lehrertisch, stellte das Butterbier vor ihm ab und ging dann ohne ein weiteres Wort davon. Mit Befriedigung hörte sie, wie einige Stimmen aus dem Takt gerieten. Gut so. Noch bevor das Lied endete, war Toireasa schon wieder draußen. Weit kam sie nicht.

„Miss Keary-Davian!", rief Professor Snape ihr nach, nachdem er sie eingeholt hatte.

Langsam drehte sie sich um und konzentrierte sich darauf halb abwesend zu wirken.

„Keary allein trifft es genauer", sagte sie mit einer Stimme bar jeder Emotion und starrte auf ihre Füße.

„Dürfte ich erfahren, was mit Ihnen los ist?", erkundigte er sich scharf.

„Nichts!", log sie zur Antwort.

„Sie haben doch Ihre Großeltern getroffen?", fragte er weiter.

„Ja."

„Und Sie haben sich ausgesprochen?"

„Wenn Sie Forderungen und ein Ultimatum als Aussprache ansehen – dann ja", zischte sie und versuchte hasserfüllt zu klingen.

„Sie sind aber darauf eingegangen?", vergewisserte sich der Professor und klang, als würde eine negative Antwort unmöglich sein. Na, da konnte sie ihn mal verblüffen.

„Ich habe ihnen nahe gelegt, sich eine neue Enkelin zu suchen. Am besten eine Marionette", sagte sie. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Professor?"

Sie versuchte sich umzudrehen und wollte weggehen, aber der Professor hielt sie mit einem festen Griff an der Schulter zurück.

„Miss Keary-Davian!", sagte er und zwang sie ihn anzusehen. Sein Blick war furchtbar intensiv und von einer dunklen Tiefe, die sie frösteln ließ. „Sie sind gerade dabei, Ihre Zukunft wegen etwas völlig Unwichtigem wegzuwerfen – Edelmut und falschem Stolz! Es gibt die selbstlose Tat einfach nicht. Darum hören Sie endlich auf, die aufrechte und leidende Heldin zu spielen. Entschuldigen Sie sich bei Ihrer Familie und bei Ihren Mitschülern, schlucken Sie den Stolz herunter und leben Sie normal weiter. Ihrem Muggel können Sie ja weiter verpflichtet bleiben, doch müssen Sie diesen traurigen Fakt nicht wie eine obszöne Fahne vor sich hertragen!"

„Trauriger Fakt, obszöne Fahne?", staunte Toireasa. „Ich dachte, Sie würden mich verstehen?"

„Ja, es ist traurig, dass Sie eine Dummheit gemacht haben, die zu dieser Verpflichtung führte. Und es ist obszön, wie Sie ihre Dummheit allen zur Schau stellen und alle Slytherins mit Ihrem Verhalten beschämen! Benehmen Sie sich einfach etwas weniger auffällig", fuhr er sie an.

Leider kam der Luxus der Unauffälligkeit für sie nicht mehr in Frage. Der Plan ihrer Großeltern war klar definiert und verlangte von ihr eine spezielle Rolle.

„Nun, dann bedaure ich nur, dass ich nicht auf den Sprechenden Hut gehört habe und keine Ravenclaw geworden bin", schrie sie ihn vor Enttäuschung fast an. „Oder besser noch – gleich zu Gryffindor, da würden man mich vielleicht sogar dafür unterstützen. Lassen Sie mich einfach in Ruhe!"

Sie riss sich von seiner Hand los und rannte weg. Professor Snape versuchte diesmal nicht sie aufzuhalten.

Nach einigen Gängen verschnaufte sie und gönnte sich ein dünnes Lächeln. Das Gespräch mit dem Professor war fast genauso verlaufen, wie von ihren Großeltern vorausgesagt. Natürlich war es nicht besonders intelligent, einen der wenigen Leute, dir ihr helfen wollten, so vor den Kopf zu stoßen, aber Toireasa hatte sich auf ihr Ziel festgelegt. Dazu zählte auch, dass gerade ihr Hauslehrer eine bestimmte Meinung haben musste. Ihre Großeltern hatten ihr dazu einige recht interessante Geschichten erzählt, die sie jedoch nur im Zweifelsfall zu benutzen gedachte. Trotzdem würde sie ihren Hauslehrer am besten ab jetzt etwas intensiver beobachten, damit sie mitbekam, ob er ihr alles abnahm, was sie ihm vorspielte.

Sie bog gerade um eine Ecke, als sie dumpfe Hilfeschreie und verzweifeltes Klopfen hörte. Neugierig ging sie in einen Flur abseits ihres Weges und fand dort einen verriegelten Schrank, vor dem zwei Paar Schuhe standen. Die Rufe kamen da her.

„Crabbe? Goyle?", fragte sie verwundert, klopfte gegen die Tür und konnte kaum ein Lachen unterdrücken. „Seid ihr da drin?"

„Lass uns hier raus", rief Crabbe mit seinem tumben Tonfall. Normalerweise sprach er nicht, sondern reagierte so wie sein Herr und Meister – Draco Malfoy – es von ihm verlangte. Fies lachen oder bedrohlich aussehen.

Toireasa konnte ihr Glück kaum fassen.

„Sieht furchtbar verschlossen aus", log Toireasa und spielte an dem einzigen, sehr leichtgängigen Riegel herum. „Vielleicht muss ich Hilfe holen."

„Dann hol Hilfe, du dumme Kuh."

„Määp – falsche Antwort, Goyle", genoss Toireasa die Situation. „Muss kalt an den Füßen sein, so ganz ohne Schuhe."

„Hol endlich Hilfe!"

„Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Weg zurück finde", tat sie jetzt unsicher. „Warte mal. Ich glaub, ich hab vorhin nen Gryffindor-Mädchen gesehen. Klein und rothaarig. Ist glaub ich eine Weasley. Die hilft bestimmt gern und kennt sich hier besser aus als ich."

„Untersteh dich!", rief Goyle voll Wut.

„Ihr solltet eigentlich begriffen haben, dass ich auf Befehle nicht wirklich reagiere", sagte sie ernst. „Und damit ihr es auch kapiert – ihr werdet noch eine Weile hier drin bleiben, wenn ihr nicht höflich seid und mir nicht eine gewisse Gegenleistung bietet."

„Wir werden dir keine runterhauen, wenn du uns sofort hier raus lässt!", schrie Crabbe. Konnte es sein, dass er ein wenig klaustrophobisch veranlagt war? Immerhin hatte sie ihn noch nie so lange Sätze sprechen hören.

„Määp – zweites Mal falsch!"

Langsam genoss Toireasa die Macht, die sie so unvermittelt bekommen hatte. Und auch eine gewisse Rachsucht spielte eine Rolle.

„Ihr seid echt mies, wenn es um Verhandlungen geht, wisst ihr das?", bemerkte sie. „Ich für meinen Teil bin am Überlegen, ob ich zu Filch gehe und ihm erzähle, dass ich zwei Schüler eingeschlossen habe, die versucht haben sein Zeug zu klauen. Er hätte sicher Verständnis für euch. Gaaanz sicher. Er liebt Schüler unbändig. Vor allem seit Mrs Norris lebensechter als ausgestopft in der Krankenstation liegt. Dazu kommen sicher auch noch die wirklich peinlichen Fragen, was ihr denn zu zweit in einem Schrank gesucht habt. Mann – das würde Gerüchte und Spekulationen geben. Und ich könnte sooo viel dazu beitragen. Allein…"

„Okay, was willst du?", unterbrach Goyle die Aufzählung ihrer Möglichkeiten.

„Lasst mich für den Rest des Schuljahres in Ruhe und helft niemand bei irgendwelchen Intrigen gegen mich. Verstehen wir uns? Ich existiere nicht für euch. Alles, was mit mir zu tun hat, geht euch nichts an. Im Gegenzug erzähle ich niemandem, wie ich euch gefunden habe. Einverstanden?"

„Ja", kam dumpf Goyles Stimme durch die Tür.

„Du auch, Crabbe?", fragte Toireasa um sicher zu gehen.

„Ja", kam nun auch die Zustimmung des anderen Jungen.

„Dann haben wir eine Abmachung!"

Sie schob den Riegel zurück und ließ die beiden dicken Jungen heraus. Flüchtig fragte sie sich, wie die beiden da hineingeraten waren und vor allem – wie sie da überhaupt reingepasst hatten.

Ein wenig Mitleid empfand sie trotzdem für die beiden Jungen. Ihre Füße waren durch die Kälte so angeschwollen, dass sie nicht mehr richtig laufen konnten und auch nicht in die Schuhe passen wollten.

„Ihr solltet erst mal ein wenig die Füße massieren oder aber das kurze Stück bis zum Kerker in Socken gehen und euch am Feuer wärmen", sagte sie und ging selbst, ohne auf die beiden zu warten, voraus.

Das Passwort ging ihr recht schwer über die Lippen, aber als sie dann Draco Malfoy im Gemeinschaftsraum entdeckte, konnte sie ihre Freude kaum verbergen. Statt wie üblich in ihr Einzelzimmer zu gehen, setzte sie sich in einen Sessel nahe ihrer Tür, so dass sie Malfoy ansehen konnte und wartete auf Crabbe und Goyle. Draco sah sie stirnrunzelnd an. Wahrscheinlich irritierte ihn Toireasas wissendes Lächeln.

„Was gibt es zu grinsen", fragte er feindselig.

Zur Antwort deutete Toireasa nur überlegen zum Eingang, durch den eben Malfoys Kumpane eintraten. Die Schuhe in der Hand und mit verlegenem Blick.

„Das mit deiner Medizin hat ja ewig gedauert, Crabbe", begrüßte Malfoy seine Freunde ungnädig. „Und warum habt ihr eure Schuhe in der Hand?"

Goyle schaute sofort halb wütend, halb fragend zu Toireasa, die nur lächelnd den Kopf schüttelte. Nein, sie hatte Malfoy nichts gesagt. Sie war gespannt darauf, was die beiden erzählen würden.

„Ähem…na ja…weil…", stammelte dümmlich Crabbe. „Welche Medizin?"

„Die, welche du wegen deiner Bauchschmerzen holen wolltest! Schon vergessen? Also wirklich, manchmal frag ich mich, wie ihr die Abschlussprüfungen schaffen wollt!"

Toireasa kam immer mehr der Gedanke, dass es recht unerfreulich war, ein Freund von Draco Malfoy zu sein. Leibsklaven schien es schon eher zu treffen.

„Ich habe keine Bauchschmerzen", Crabbe wirkte noch dämlicher als zuvor, während er sich zu erinnern versuchte.

„Und warum bist du dann vor einer Stunde hier raus gerannt?", fuhr Malfoy ihn an. „War ich zu langweilig für deinen gehobenen Geist?"

„Nein, natürlich…es war…wir waren doch gar nicht hier!", stammelte Crabbe und wirkte recht eingeschüchtert.

„Ach – und wo wollt ihr dann gewesen sein? Ich hab doch mit euch gesprochen!", verkündete Malfoy überzeugt.

Interessiert beugte Toireasa sich etwas vor. In seiner Rage schien Malfoy völlig vergessen zu haben, dass sie anwesend war.

„Das geht gar nicht", verteidigte Crabbe sich kleinlaut. „Wir waren doch im…"

Crabbe bekam einen saftigen Rippenstoß von Goyle verpasst und zuckte zusammen. Wie ein verletztes Reh im Körper eines Schweins, sah er seinen Kumpel an. Toireasa musste mit ihrer Hand ein Lachen verbergen. Es war, als würde man zwei Bulldoggen beobachten, die von ihrem Herrchen ausgeschimpft wurden.

„Ihr wart wo?", fragte Malfoy scharf.

Hilfesuchend schaute Goyle zu Crabbe und Crabbe zu Goyle.

Na, wenn das die reinblütige Elite war, dann gute Nacht Slytherin.

„Antwortet!", befahl Draco und obwohl er kleiner war als seine Schoßhündchen, wirkte er selbst für Toireasa in diesem Moment recht bedrohlich. Die Familie Malfoy vereinte Macht, Geld, Talent und Führungsanspruch – all dies schien sich für einen Moment in Draco zu vereinen.

„Wir waren eingeschlossen", gestand Crabbe nun völlig eingeschüchtert.

„Wir sind aus der Großen Halle gegangen und dann wissen wir nur noch, dass wir in einem verschlossenen – ähem – Raum aufwachten", fügte Goyle hinzu. „Konnten nicht raus."

„Ganz sicher. Ihr wart nicht in einem Fetttrance versunken oder so?", fragte Malfoy erneut. Die Aura der Macht war verschwunden und nur seine übliche Arroganz war noch zu sehen.

„Sie kann's bezeugen!", sagte Crabbe und deutete auf Toireasa.

„Ach, kann die das!", fauchte Draco und wandte sich ihr zu.

Toireasa nickte einfach nur. Sie genoss es zu sehen, wie unangenehm es den dreien war.

„Aber wer, wenn nicht ihr, war dann vorhin hier?", fragte Draco und fuhr unvermittelt wieder zu den beiden Sündern herum.

„Keine Ahnung", sagte Goyle erschrocken. „Aber könnten wir zum Kamin. Meine Füße tun weh! Bitte?!"

„Ja, klar", antwortete Draco nachdenklich und wedelte überlegen mit der Hand. „Warum habt ihr eure Schuhe überhaupt ausgezogen?"

„Hatten keine an als wir aufwachten. Standen vor der Tür", erklärte Goyle und setzte sich in einen Sessel nahe dem Kamin. Die Füße dem Feuer entgegen gestreckt. Crabbe tat es ihm nach.

„Warum sollte euch jemand die Schuhe klauen und wegsperren?", war Draco noch immer nachdenklich. „Wer braucht schon Schuhe eurer Größe?"

„Der Longbottom vielleicht", vermutete Goyle.

„Quatsch, der ist zu hirnlos und zu Hause. Ihr wart eingesperrt und trotzdem hier. Man hat euch die Schuhe geklaut…mmh. Da hatte doch Professor Snape…"

Malfoy verstummte eine Weile und kaute selbstvergessen auf seinen Fingern.

„Vielsafttrank!", brach es plötzlich aus dem Jungen heraus und dann ein panisches „Potter und das Wiesel! Oder diese Granger!"

Der Junge war aufgesprungen und ballte wütend die Fäuste.

„Dafür werden sie bezahlen. Schon morgen…"

„Ich an deiner Stelle…", mischte Toireasa sich überlegen ein, „…würde mir lieber Gedanken darüber machen, was ich den beiden erzählt habe. Außer dem Passwort zu unseren Gemeinschaftsräumen natürlich."

Es war ein unbezahlbarer Anblick zu sehen, wie Draco noch bleicher wurde und seine Schultern zusammensanken. Seine Hand zitterte sogar etwas. Dann rannte er zu den Jungenschlafsälen und verschwand hinter der Tür. Crabbe und Goyle schauten verdutzt erst Malfoy hinterher, dann sich gegenseitig an und danach zu Toireasa.

Sie lehnte sich lächelnd zurück und genoss, wie Draco Malfoy in Panik wenig später mit einem frisch geschriebenen Brief aus dem Slytherin-Kerker rannte.

War das schön. Das war noch besser, als Crabbe und Goyle im Schrank zu ärgern.

Geruhsam stand sie auf und reckte angeberisch ihre Glieder.

„Fröhliche Weihnachten euch beiden", sagte sie süffisant und schritt dann, den Kopf hoch erhoben, in ihr Zimmer. Ein guter Abschluss des Weihnachtsabends.

Sorgsam stellte sie das kleine Magier-Radio auf ihren Nachttisch. Dies war das einzige Geschenk, das sie hatte mitnehmen können. Alle anderen Sachen waren zu groß und auffällig. Es wäre auch recht schwer erklärbar gewesen, wenn Toireasa nach dem gestellten Streit mit ihren Großeltern in den Drei Besen mit einer Wagenladung Geschenke hier aufgetaucht wäre.

Nach einer Nacht voll angenehmer Träume stand Toireasa am nächsten Morgen frühzeitig auf. Sie hatte viel zu erledigen. Zuerst ging sie hinunter zu Hagrid. Viel zu früh, wie sie dank eines lauten Schnarchens feststellte. Darum schlenderte sie ein wenig durch die Pferche des Wildhüters, in denen er die meisten Tiere hielt, die Professor Kesselbrand für seinen Unterricht brauchte. Einige der Tiere kannten Toireasa schon so gut, dass sie zutraulich ankamen und gestreichelt werden wollten oder um etwas zu essen bettelten. Natürlich durfte man nicht allen dieser Wesen zu nahe kommen. Einige waren recht gefährlich, obwohl sie süß und flauschig aussahen. Einigen hatte Toireasa sogar Namen geben dürfen.

Wenig später sah Toireasa Hagrid aus der Hütte kommen. Er sah noch ein wenig derangiert und nicht sonderlich fit aus, aber er entdeckte Toireasa sofort unter seinen Lieblingen.

„Ach du bist's", sagte er. „Hab mich gewundert, warum sie so nen Krach machen. Hab dich beim Weihnachtsessen vermisst."

„Ich hab meine Großeltern unten in Hogsmeade getroffen."

„Na, dann hattest du ja auch nen schönes Weihnachten", sagte Hagrid.

„Nicht so", log sie traurig und streichelte den einsamen Pegasus. „Wir hatten Streit."

„Das is nich so schön. Wegen der Sache mit Tarsuinn?"

„Nein. Wegen dem gestörten Familienfrieden und so weiter. Sie wollten, dass ich mich entschuldige, auch wenn ich nichts verbrochen hätte. Meine Großeltern waren der Ansicht, meine Eltern würden nie den ersten Schritt tun. Deshalb sollte ich in den sauren Apfel beißen. Ich glaub, meine Großeltern machen sich nur Sorgen um meine Zukunft."

„Vielleicht zu Recht", merkte der große Mann an.

„Mag sein, aber damit will ich dich nicht belasten, Hagrid", sagte sie. „Eigentlich bin ich nur hier, weil ich dir das hier geben will."

Sie hielt ihm einen kleinen, mit einer roten Schleife versehenen Gegenstand hin.

„Ist nur ein kleines Dankeschön", erklärte sie leise. „Weil du so nett zu mir warst."

„Für mich?", fragte er verwundert und nahm es vorsichtig entgegen. „Wow – ne Hippogreif-Lockpfeife. Die sind schwer herzustellen und nich grad billig."

„Ich weiß, aber ich brauch sie nicht mehr", lächelte Toireasa ihn an. „Nimm sie ruhig. Ich würde sie wegwerfen und du kannst damit noch was anfangen."

„Hast du denn Hippogreife damit angelockt?", erkundigte er sich schmunzelnd.

„Nicht doch", lächelte sie steif. „Ich hab Tarsuinn damit gequält."

„Du meinst, er kann das…", er pustete einmal in die Pfeife, doch kein Laut drang heraus, „…hören?"

„Ja. Ist anscheinend recht unangenehm für ihn. Aber Hagrid…?"

„Mmh?"

„Glaubst du es war intelligent die Pfeife hier draußen zu benutzen?"

„Wieso?"

Toireasa deutete nach oben in den Himmel, an dem zwei große Punkte flatterten.

„Funktioniert – würd ich sagen", bemerkte er trocken. „Was denkst du, sollten wir sie herunter locken und einfangen?"

„Nicht im Winter, Hagrid. Zumindest steht das so im Buch. Obwohl ich sie wirklich gern aus der Nähe betrachten würde."

„Wenn du willst, darfst du dabei sein, wenn ich im Frühjahr nen paar fange", bot Hagrid an.

„Ich würde gern dabei helfen", bat sie.

„Das is gefährlich!"

„Ach, komm schon."

„Ich bekomme ne Menge Ärger."

„Ich erzähl es niemandem. Du weißt, ich kann mit Tieren gut umgehen. Nicht so gut wie du, aber besser als die meisten Fünftklässler alle Male."

Sie schaute ihn bittend an. Im Gegensatz zu den meisten Lehrern war Hagrid nicht immun gegen die bittenden Blicke eines kleinen Mädchens und das wusste Toireasa.

Der Wildhüter schaute abwechselnd auf die Pfeife, die Hippogreife am Himmel (die auf einen weiteren Ruf warteten) und Toireasa.

„Du wirst auf das hören, was ich dir sage?", erkundigte er sich und Toireasa wusste, dass sie fast gewonnen hatte.

„Natürlich, Hagrid", versicherte sie. „Wenn ich etwas bei dir gelernt habe, dann gefährlichen Tieren auszuweichen und auf dich zu hören."

„Na gut. Ich werd dir Bescheid geben, wenn's soweit is, okay?", gab Hagrid seinen Widerstand auf. Der Wildhüter konnte eh keine Herausforderung ablehnen, wenn es um magische Wesen ging.

„Abgemacht. Darf ich auch drauf reiten?"

„Übertreib's nich", lachte er. „Einfangen – ja. Reiten wirst du einen erst, wenn in ein paar Jahren, dir das dein Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe erlaubt."

„War nur ein Scherz, Hagrid", versicherte sie und versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Aber wenn einer der Lehrer zustimmt, dann lass ich dich heute auf Federschwinge reiten."

„Wirklich?", fragte sie, überrascht von dem Angebot. Federschwinge war der einsame Pegasus.

„Ja. Wenn nen Lehrer zustimmt."

„Ich würde ihn gern reiten", gab sie zu.

„Dann solltest du aber jetzt gleich fragen gehen. Gegen Mittag lassen wir ihn frei", erklärte Hagrid.

„Schade! Ich mag Federschwinge sehr", sagte Toireasa.

„Wenn du ihn magst, wirst du verstehen, warum wir ihn freilassen."

Bei diesen Worten schaute Hagrid sie prüfend an. Irritiert blickte sie hinüber zu Federschwinge. Lange betrachtete sie das Tier. Ein Pegasus war ein weißes Pferd mit langen Flügeln aus Federn. Ein stolzes, erhabenes Tier. Recht harmlos zwar, aber sehr scheu und schwer zu fangen. Doch irgendwie sah Federschwinge anders aus, als an dem Tag, als Hagrid ihn gefangen hatte. Die Haltung des Kopfes, der Glanz in den Augen.

„Er hat seinen Stolz verloren", erkannte sie. „Und er ist einsam."

„Und am wichtigsten, er vermisst seine Freiheit", ergänzte Hagrid gewichtig nickend. „Ich hatte gehofft eine Gefährtin für ihn zu finden, aber die sind in England recht selten. Professor Kesselbrand und ich sind uns einig, dass er sterben wird, wenn wir ihn nich bald freilassen."

Toireasa schaute immer noch traurig auf Federschwinge.

„Hagrid! Ich will ihn nicht reiten", sagte Toireasa ernst. „Ich würde ihm nur gern seine Freiheit schenken. Warum ihn vorher noch einmal demütigen, indem man ihm einen Reiter aufzwingt."

„Weißt du was?", fragte Hagrid sie und seine Hand drückte sanft ihre Schulter. Erstaunt sah sie zu ihm auf und erkannte einen gewissen Stolz. „Aus dir könnt mal ne gute Wildhüterin werden."

„Meinst du wirklich?", fragte sie geschmeichelt.

„Nun werd nich übermütig", schränkte er verlegen ein. „Du hast gute Instinkte, Ansätze. Aber du musst noch viel lernen und auch kräftiger werden. Und du hast über nen Monat gebraucht, um zu erkennen, dass was mit unserem Großen da nich stimmt."

„Hättest du nichts gesagt, hätte ich das jetzt noch nicht", gestand sie ein. „Aber jetzt…"

Es war doch so offensichtlich. Wie hatte sie das nur übersehen können?

„Vor oder nach dem Mittag?", fragte Toireasa.

„Was meinst…ach…klar…ich denke vor dem Mittagessen. Fällt einem trotzdem immer schwer einen wegzulassen und da ist vor dem Essen immer besser."

„Gut, ich werde da sein", versprach sie. „Ich muss jetzt aber noch woanders hin. Bis nachher Hagrid."

„Ja, bis nachher."

Schnurstracks ging Toireasa zurück ins Schloss und suchte Professor Flitwick. Sie fand ihn allein im Innenhof, wo er einige Meisen fütterte.

„Professor?", fragte sie leise, um die Vögel nicht zu vertreiben.

„Ah, Miss Keary-Davian", begrüßte er sie fröhlich. „Wollen Sie auch die Vögel füttern? Ich geb Ihnen gern etwas ab."

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf eine Bank in seiner Nähe.

„Du solltest Toireasa zu mir sagen, Patenonkel", sagte sie fest. „Natürlich nur im Privaten."

„Dann musst du mich aber Filius nennen", kicherte Flitwick. „Natürlich auch nur im Privaten."

Er warf sein Vogelfutter auf den Boden und kam zu Toireasa hinüber. Mit einem eleganten Sprung, etwas höher als allein durch Körperkraft möglich, stellte er sich auf die Bank neben Toireasa. So war er sogar ein klein wenig größer als sie.

„Sie haben dir also die Wahrheit gesagt?", sagte er und obwohl er es als Frage formulierte, war es eher eine Feststellung.

Toireasa nickte.

„Sie haben auf das Versprechen also gepfiffen?"

„Ja."

„Na endlich. Und du hast die Wahrheit akzeptiert?"

Wieder nickte Toireasa und sah ihm fest in die Augen.

„Und du möchtest mich jetzt um Hilfe bitten, nicht wahr?"

„Ja."

„Na dann los. Hab lange genug darauf gewartet."

Toireasa schluckte schwer. Das was jetzt kam, war ziemlich – unmoralisch.

„Ich möchte nie mehr zu meinen Stiefeltern zurück", erklärte sie. „Meine Großeltern haben eine Möglichkeit gefunden das legal zu machen, aber… wir brauchen eventuell Ihre…ähem…deine Hilfe und das würde bedeuten, dass du etwas Illegales tun müsstest."

„Und was wäre das – Illegales?", fragte er erstaunlich amüsiert.

„Wenn meine Stiefeltern pünktlich das Schulgeld zahlen, dann darf es nicht pünktlich ankommen", erklärte Toireasa.

„Darf ich fragen wieso?", sagte er ein wenig ernster.

„Na ja, meine Großeltern sind der Meinung, die beste Möglichkeit wäre, wenn meine Stiefeltern ihre elterlichen Pflichten über einen längeren Zeitraum vernachlässigen."

„Um sie soweit zu bringen, müssten sie schon sehr wütend sein!", gab ihr Pate Filius zu bedenken. „Wirklich sehr wütend."

„Ja, der Meinung bin ich auch", stimmte Toireasa zu.

„In deinen Augen sehe ich, dass du auch genau weißt, was das für dich bedeutet", sagte er. „Aber bist du dir auch sicher?"

„Ich werde es durchziehen. Solange ich auf Ihre…deine Unterstützung zählen kann."

„Das kannst du, Toireasa", versprach er. „Aber du musst mir auch vertrauen und auf mich hören. Da führt kein Weg dran vorbei."

„Meine Großeltern wussten, du würdest das sagen", lächelte sie.

„Tja – schließlich gehöre ich eigentlich zur Familie", erklärte er und Toireasa fühlte Bedauern darüber in sich selbst und in seiner Stimme.

„Ich denke – du gehörst jetzt wieder dazu, Professor. Falls du das noch willst."

„Natürlich – obwohl ich manchmal etwas an dir gezweifelt habe", sagte er mit tadelndem Blick. „Aber du hast dich noch rechtzeitig geändert."

Dazu konnte sie nichts erwidern. Schweigend sah sie ihren Paten einen langen Augenblick an. Dann wandte sie den Blick ab und starrte auf ihre Hände.

„Ich wünschte, ich wäre nach Ravenclaw gegangen, wie es der Sprechende Hut mir geraten hat", seufzte sie leise. „Dann wäre vieles sicher anders gelaufen. Ich denke, in Slytherin bin ich inzwischen falsch."

„Der Hut hat noch nie falsch gewählt", erwähnte er einen unangenehmen Fakt.

„Das mag ja sein, aber was ist, wenn man sich ändert – grundlegend?", beharrte sie. „Der Hut hat vielleicht richtig gewählt, als ich hier ankam, aber kann es nicht sein, dass er jetzt anders wählen würde?"

„Kaum", schüttelte Flitwick entschieden den Kopf. „Toireasa, ich hab dich und deine Schwierigkeiten in Slytherin beobachtet. Inzwischen denkst du sicher Slytherin gleich Muggelhasser, hemmungsloser Ehrgeiz und falsche Freunde. Doch das stimmt nicht und außerdem wirst du, um deinen Plan durchzusetzen, mehr Slytherin sein müssen, als du jetzt glaubst."

„Ich werde trotzdem versuchen gegen die Wahl des Hutes zu kämpfen", sagte sie stur.

„Verzettle dich nicht, Toireasa", warnte Filius sie. „Konzentrier dich erst mal auf die eine Sache und wenn du das geschafft hast, denk darüber in Ruhe und mit Logik nach. Und vielleicht kommt dir dann der Gedanke, das Haus Slytherin könnte dich und deine Einsichten brauchen. Als Gegengewicht zum allgemeinen Trend."

„Dem allgemeinen Trend?", fragte sie verwundert. „Wie meinst du das?"

„Das wirst du schon allein herausfinden. Da bin ich mir sicher."

„Wenn du es sagst. Ich will…danke Professor, dass Sie versucht haben mir weiter zu helfen."

Toireasa stand auf und tat so, als hätte sie Professor McGonagalls Ankunft nicht bemerkt.

„Ich wünschte wirklich, ich hätte helfen können, Miss Keary", spielte ihr Pate und Cousin ihrer Großmutter sofort mit. „Vielleicht sollten Sie sich doch an Professor Snape wenden. Und Kopf hoch!"

Sie nickte, wie jemand der zu deprimiert war, um der letzten Aufforderung nachzukommen, und schlurfte davon.

Jetzt musste sie sich nur noch bei Snape mit Büßermine für ihr ungebührliches gestriges Verhalten entschuldigen und dann würde sie Federschwinge freilassen. Die richtigen Nadelstiche gegen ihre Eltern würde sie jedoch erst starten können, wenn alle Schüler wieder da waren. Was bedeutete, sie konnte die restlichen Ferientage heimlich genießen und mit Vorbereitungen verbringen.

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